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Digital In Arbeit

Die Begegnung mit Menschen verliert nie ihre Faszination

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Fürsorgerin in der Steiermark -das bedeutet zunächst einmal in einem genau begrenzten Gebiet für die genau in Zahlen angegebenen Einwohner zuständig zu sein. Es ist eine Arbeit an der „Front“, wo man hautnah mit Menschen zusammenkommt und ganz konkret helfen kann. Diese Hilfe besteht vor allem darin, die Menschen zu unterstützen bei ihren Bemühungen ihr Leben selbst zu gestalten - nicht geliebt zu werden. Fürsorgerin ist ein Beruf, in dem es keinen „Verschnitt“ gibt. 061 Schneider muß verschnittenes Material aus der eigenen Tasche bezahlen - bei der Begegnung mit Menschen kann ein falsches Wort, eine unüberlegte Handlung, ein Mangel an Verständnis und Einfühlung nie mehr gut gemacht werden. Den Verschnitt müßten die bezahlen, die ohnedies nichts haben.

Fürsorgerin in der Steiermark zu sein, heißt, für alles zuständig zu sein. Es gibt keine Spezialisierung in der Einheitsfürsorge - aber auch keine Kompetenzprobleme. Ich bin allein verantwortlich und die Konsequenzen meiner Entscheidungen, die Folgen meiner Handlungen wirken sich wieder in meiner Arbeit aus. Aber die Menschen schätzen die Verläßlichkeit, daß nichts abgeschoben wird, daß sie nicht den oft so demütigenden Gang von einem zum anderen antreten müssen, ihm alles noch einmal erzählen, um schließlich Hilfe in vielschichtigen Problemen zu erhalten. Das verlangt aber auch, sich immer wieder auf die verschiedenen Menschen einzustellen.

Aber gerade darum ist es ein Beruf mit ständiger Spannung, gut es doch, die Einmaligkeit eines Menschen zu entdecken, sich mit seiner Individualität auseinanderzusetzen. Dazu gehören neben gewissen Kenntnissen und Informationen, neben finanziellen und rechtlichen Hilfsmöglichkeiten vor allem Phantasie, die immer wieder neue Möglichkeiten findet, Humor, um trotzdem lachen zu können und ein Optimismus, der immer noch glaubt und auf Unwahrscheinlichkeiten setzt. Der um das Gute in jedem Menschen weiß und um dessen ganz persönliche Chance.

Fürsorgerin in der Steiermark zu sein, bedeutet auch, Höhen und Tiefen menschlichen Lebens zu erfahren, mit besonderer Intensität. Man kann Himmel und Hölle gleichzeitig schauen und kennt Heüige genauso, wie das Angesicht des Bösen. Man erlebt die faszinierende Vielfalt menschlicher Verhaltensweisen und lernt zwischen Extremen leben. Man kennt Wunder genauso wie Ergebnisse von Berechnungen und verschwendete Energien. Man entdeckt überrascht, daß physikalische Gesetze im menschlichen Leben wirksam sind: Druck erzeugt Gegendruck, Rückstoßprinzip und Energieerhaltungssatz, der nur die Umwandlung, nie aber den Verlust von Energie kennt. Und in diesem Spektrum bleibt die ganz persönliche Begegnung:

Der 60jährige Mann begrüßt mich scherzend an der Tür. Er ist gerade dabei, Leberknödel zu machen - zum ersten Mal. Seine etwas jüngere Frau liegt in der Küche am Diwan. Ein Gehirntumor hat ihr sicher äußerst liebenswürdiges Wesen verändert. Ganz allmählich, aber unübersehbar ist der Zerfall eingetreten. Am Beginn mühte sie sich noch und versuchte zu schreiben, während der Gatte weg war-jetzt kommen ihr die alltäglichen Gegenstände zwar noch bekannt vor, sie kann sie aber nicht mehr benennen und weiß nicht, wozu sie dienen. Der Gatte versorgt sie heiter, gelöst und liebevoll wie ein kleines Kind, obwohl er unaussprechlich unter der Situation leidet. Während ich die nötigen Anträge und Formblätter ausfülle, damit die Kosten für einen Leibstuhl nach dem Behindertengesetz übernommen werden, weiß ich, daß dieser Mann über sich hinausgewachsen ist.

Die 30jährige Frau ist in einen fatalen Teufelskreis geraten: nie Eltern gehabt, schon als 17jährige Mutter geworden, keinen Beruf, keine Arbeit -dafür Abhängigkeit vom Lebensgefährten. Dieser schlägt sie, wenn er betrunken ist, schimpft und lacht über ihre hilflosen Versuche, sich zu lösen. Wo sollte sie auch hin? Keine Wohnung, keine Versicherung, keine Arbeit ohne ihn - dafür inzwischen vier uneheliche Kinder. Die Frau ist verzweifelt. Sie beginnt immer wieder wegzulaufen, sich zu berauschen, macht wahllos Männerbekanntschaften - und kommt immer wieder zurück. Oft nimmt sie die Kinder mit, oft sind die Vier allein daheim. Den Vorschlag, die Kinder in einer guten Familie unterzubringen, lehnt sie ab. Wie sollte sie auch verstehen, was ihren Kindern fehlt, wenn sie es selbst nicht kennt? Woher soll sie wissen, daß Kinder kein Eigentum sind, sondern sich selbst gehören, daß Pflege und Kleidung zu wenig sind für ein glückliches Leben? In Sorge und Verantwortung für die Kinder muß ich entscheiden -die Kinder kommen in eine Kinderdorffamilie, wo sie in Ruhe und Geborgenheit aufwachsen können. Heute ruft die Frau noch manchmal an, wenn es Probleme oder Schwierigkeiten gibt. Sie ist bis jetzt nicht von diesem Mann losgekommen, aber sie kämpft nicht mehr mit untauglichen Mitteln gegen ihre Abhängigkeit, sondern lernt damit zu leben.

Eine Routineerhebung für das Bezirksgericht: 17jähriger Bursche, eheliches Kind, bisher unbescholten, hat gestohlen. Der langhaarige Halbwüchsige, den ich erwartet habe, entpuppt sich als großes Kind. Er weint, während er von seinem Leben erzählt: die Eltern streiten oft, wenn er dazwischen tritt, wird er ins Bad gesperrt und geschlagen! Er zahlt die Schulden der Eltern von seiner Lehrlingsentschädigung in der vagen Hoffnung, dafür belohnt und geliebt zu werden. Jetzt hat er resigniert, es ist ihm alles egal. Nach vielen Gesprächen sagt er zum ersten Mal wieder: „Ich will...“

Ganz anders der gleichaltrige Max. Er ist eher phlegmatisch - sonst hätte er auch die jahrelangen Heimaufenthalte kaum so gut überstanden. Jetzt hat er auf einem Bauernhof Arbeit und fühlt sich schon richtig daheim. Wenn nach seinem Arbeitgeber gefragt wird und niemand ihn hört, sagt er: „Der Vati kommt gleich!“ Aber ein Problem gibt es: das Rauchen. Er kann es nicht lassen, obwohl er dadurch das Holzhaus, die Scheune, den Stadel gefährdet. Da schließen wir eine Wette ab, ob er es schafft, damit aufzuhören - denn es steht viel auf dem Spiel. Wenn es nicht geht, muß er wieder weg vom Hof. Und er gewinnt die vereinbarte Torte, und während er ißt, merkt man, daß er schon lange nicht mehr so glücklich war. Auch das ist Sozialarbeit!

Am Nachmittag die jungen Frauen in der Mütterberatung. Sie brauchen nicht nur medizinische Ratschläge und pflegerische Tips. Sie wollen die Mitfreude über ihr gesundes und natürlich schönstes aller Kinder, und sie wollen darüber sprechen, wie sehr dieses winzige Bündel Mensch ihr Leben verändert hat. Auch zu den ledigen Müttern besteht ein guter Kontakt. Sie brauchen meistens Hilfe, um pünktlich die Alimente zu bekommen oder die Unterschrift für einen Reisepaßantrag. Für sie ist es gut zu wissen, daß da jemand ist, zu dem man kommen kann, auch wenn man dann nicht kommt.

Das Gefühl, daß ich immer da bin, müssen auch die beiden Jugendlichen gehabt haben, als sie um 10 Uhr Nachts auftauchen - nach stundenlangem Marsch durch den Schneesturm. Man sieht ihnen das schlechte Gewissen an, aber trotzdem sind sie erleichtert, daß jetzt alles wieder in Ordnung kommt, daß es warm ist und es heißen Tee gibt. Die Nacht verbringen sie auf den Matratzen der Mutterberatung am Boden, und am nächsten Tag wissen sie selbst wieder den Weg weiter. Sie wollen beide wieder heim, obwohl sie nach einem Auftritt ausgerissen sind. „Probehalber“ spielen wir die zu erwartende Szene beim Heimkommen durch. Dabei sind sie einmal der Vater, dann wieder sie selbst. Ein „Aha“-Er-lebnis - dieser Blick hinter die Kulissen, wenn man in die Haut anderer schlüpft.

Viele aber wollen gar nicht die Verbindlichkeit eines so intensiven Gesprächs - sie plaudern lieber auf der Straße über das Wetter, wenn wir gemeinsam auf den Bus warten müssen. Aber wenn man miteinander lebt, sich freut und auch ärgert, ist es dann gar nicht mehr so schwer, einmal zu kommen und zu sagen: „Es geht nicht mehr, ich schaff es nicht... ob es da Hilfe gibt?“ Solche Straßenvisiten lohnen sich!

So wird man ständig gefordert, allen alles zu sein: manche wollen die „Macht des Amtes“ beanspruchen, um dadurch selbst stark zu werden. Viele wollen sachlichen Rat und Information bei einem „Fachmann für Soziales“ einholen, und wieder andere wollen einfach von Mensch zu Mensch über ihre Probleme reden. Einige brauchen die Meinung eines neutralen, nicht verurteilenden Menschen, um eine Entscheidung treffen zu können, anderen hilft schon das Aufzeigen der verschiedenen Handlungsmöglichkeiten, das Richtige zu finden.

Diese Erwartungen lassen den Beruf der Fürsorgerin zu einem Beruf ohne -Dienstzeit werden. Probleme halten sich nicht an bestimmte Zeiten, Konflikte können nicht bis zum nächsten Sprechtag konserviert werden. Viele Menschen haben nie lernen können, etwas auszuhalten und zu ertragen, und dürfen deshalb nicht allein gelassen werden.

Das bedeutet auch einen Beruf ohne Sicherheit, ohne Programm. Es ist immer alles anders, immer unerwartet, immer überraschend. Was gestern richtig war, ist heute falsch; was Herrn X hilft ist für Frau Y bedeutungslos; wo jetzt schnelles Handeln doppelte Wirkung hat, ist ein anders Mal Geduld und Wartenkönnen entscheidend; was für morgen geplant war, muß schon heute geschehen; was aussichtslos erscheint, hat plötzlich eine neue Entwicklung begonnen; wo alles einfach und unkompliziert schien, gibt es auf einmal eine Fülle von Problemen. Aber die Begegnung mit Menschen verliert nie ihre Faszination!

Die Hilfe am Krankenbett, wo nicht unbedingt der Arzt selbst eingreifen muß, die Hilfe gegen die erdrückende Einsamkeit. Wer kümmerte sich um die Alten, die Hilfe brauchen, wenn nicht die Fürsorgerin bereit stünde?

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