"Tun Sie doch etwas mit dem Kind!"

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Viel zu viele Menschen stecken psychische Tiefschläge ein und glauben, das sei halt nicht zu ändern. Ein Bericht aus der Praxis einer Lebensberaterin.

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Viel zu viele Menschen stecken psychische Tiefschläge ein und glauben, das sei halt nicht zu ändern. Ein Bericht aus der Praxis einer Lebensberaterin.

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Anna Legler-Guc arbeitete zehn Jahre lang als Bauingenieurin, bevor sie sich der Lebensberatung zuwandte. Seit 1981 in öffentlichen Beratungsstellen tätig, führt sie seit 1993, gemeinsam mit ihrem Mann, ihr eigenes Beratungsinstitut mit je einer Praxis im 5. und im 14. Wiener Gemeindebezirk.

Im Gespräch mit ihr merkt man den früheren Beruf; sie geht sparsam mit Worten um, stets auf der Spur der verfehlten Architektur von zwischenmenschlichen Beziehungen, mit denen sie als Lebensberaterin tagtäglich konfrontiert wird. Und da kann bekanntlich vieles danebengehen. Zunächst der Grund, auf dem der gesamte "Beziehungsbau" aufgestellt werden soll. Ist er überhaupt fest genug? Ist der Bau selber statisch wohlproportioniert, um nicht gleich bei ersten unvorhergesehenen Belastungen zusammenzubrechen; in der Sonne oder im Schatten situiert; kommt überhaupt genug Licht und Wärme herein? Wie frei dürfen sich beide Partner darin bewegen, wie viele Türen sperrt der eine Partner vor dem anderen mutwillig ab? Wie oft und wie gerne halten sich beide Partner darin auf? Wie sind die Haushaltsarbeiten eingeteilt, wer spannt sich zu Hause immer nur aus, wer räumt auf?

Frau Legler-Guc neigt nach ihren langjährigen Beratungserfahrungen zu der Meinung, daß die meisten, wenn nicht sogar alle Beziehungsprobleme (schlimme Kinder, kaputte Partnerschaften) ihren Ursprung in der mißlungenen Beziehungsarchitektur und in den sich daraus ergebenden Spannungen zu suchen sind. Praktisch nie ist ein Mensch für eine harmonische Partnerschaft von Natur aus indisponiert. Nur bei extremen Fällen könnte es sich um eine erbliche Angelegenheit handeln, doch auch die ließe sich durch kompetente Beratung beziehungsweise Therapie bewältigen.

Fazit: Das, was zur Zerstörung von zwischenmenschlichen Beziehungen führt oder vertrauensvolle Offenheit erst gar nicht aufkommen läßt, ist "hausgemacht". Keine höhere Fügung hat da ihre Finger im Spiel, sondern eine menschliche, allzu menschliche.

Diese Einsicht weiß Frau Legler-Guc auch durch unzählige konkrete Fälle aus ihrer Berufspraxis zu untermauern. Da kommt ein zwölfjähriges spastisch gelähmtes Mädchen von ihrer Mutter im Rollstuhl in die Praxis hereingeschoben und verläßt diesen Raum nach einigen Monaten zwar nicht fröhlich herumspringend, aber immerhin in der Lage, sich auf eigenen Beinen in der Wohnung zu bewegen und alleine für sich zu sorgen. Die Vater-Mutter-Beziehung funktionierte nicht, das Kind reagierte darauf auf seine Weise.

Auch ein Jugendlicher, der auf die sogenannte schiefe Bahn gerät, hat sich diese nicht aus freien Stücken ausgesucht, wurde vielmehr durch die schiefe Beziehungsarchitektur von zu Hause in diese Richtung nach und nach hingeschoben.

Selbst gut gemeinte Willensanstrengung beider Elternteile, wegen des Kindes doch zusammenzubleiben, ist noch keine Garantie für ein kinderfreundliches, harmonisches Familienleben. Wenn die Beziehungskanäle zwischen den Ehepartnern verstopft sind, wird alle gemeinsame Mühe um eine harmonische Familie von dem Kind schnell als Farce entlarvt und innerlich abgelehnt. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann das Kind in der einen oder anderen Form zu rebellieren beginnt, die dann die Umgebung garantiert als ungut empfinden wird.

Auf zum Therapeuten In der Regel wird von den überforderten Eltern das Wichtigste, das heißt das auslösende Moment, das die Kommunikation verunmöglicht, verschwiegen. Vielmehr schleppen sie das vermeintlich uneinsichtige, widerspenstige Kind daher, mit dem klaren Auftrag an den Therapeuten: "Tun sie um Gottes willen etwas mit dem Kind, ich mache ja alles Erdenkliche, bin schon am Ende." Gott sei Dank, daß sie überhaupt kommen.

Erst langsam, in langen Gesprächen, arbeitet man sich durch die vorgeschobenen, scheinbar unüberwindbaren Probleme zu den tatsächlichen vor. Meistens handelt es sich um ein einziges; es fehlen in der Familie klare Regeln! Dann ist es zu Terror und Tyrannei (oder etwa zu Lähmungserscheinungen) in der Familie wirklich manchmal nur noch ein kleiner Schritt (siehe dazu Dossier).

Kaputte Beziehungen Zum Beispiel die sehr verbreitete Meinung, man tut dem Kind etwas Gutes, wenn man ihm konsequent jeden Wunsch erfüllt, kann unglaubliche Folgen zeitigen. Plötzlich eröffnen sich einem phantasievollen Kind ungeahnte Möglichkeiten, seine Mutter wie ein ferngesteuertes Spielzeug auf Trab zu halten. Jeden Tag, immer aufs neue, ihre Aufopferungsbereitschaft zu testen und zu perfektionieren. "Zum Beispiel könnte sie schneller sein, wenn ich von ihr etwas verlange, sie könnte doch selber wissen, was ich heute essen oder anziehen oder womit ich spielen will. Muß ich ihr denn alles immer wieder sagen?" Viele Mütter reagieren auf diese Situation so, daß sie sich bei ihrer Freundin aussprechen, die für ihre Muttersorgen vollstes Verständnis aufbringt, die Kinder sind halt so; oder weinen alleine vor sich hin, wenn sie keiner sieht. Und wenn sie etwas erleichtert und einigermaßen bei Kräften sind, geht der ferngelenkte Alltag, mit Geschrei und Beschimpfungen des eigenen Kindes garniert, wieder los.

In Wirklichkeit kann sich die Mutter nicht richtig durchsetzen, weil sie vor der Reaktion des Kindes Angst hat, vielleicht bei ihremPartner keinen Rückhalt findet. So ist sie auf die Liebe ihres Kindes angewiesen und befrachtet diese mit Sehnsüchten, die das kleine Kind unmöglich stillen kann. Erst wenn der Mutter klar wird, daß sie von ihrem Kind emotionell viel zu viel erwartet, versucht sie sich abzugrenzen, und das geht dann sehr schwer.

Es brauchen nur klare Regeln aufgestellt zu werden, die für alle Familienmitglieder gleichermaßen gelten und konsequent eingehalten werden; das Kind muß nicht mehr den absoluten Gebieter in der Familie spielen, es kann ruhig selber etwas tun, wie zum Beispiel seine Kleidung und Spielzeuge aussuchen, rechtzeitig sagen, was es zu essen haben will und so weiter.

Und wenn es gut geht, in seiner Mutter nicht mehr das willenlose Dienstmädchen sehen, sondern eine respektable Person entdecken, mit der sich über viele Dinge durchaus vernünftig reden läßt.

Manche Mütter kommen allerdings aus ihrer überschwenglichen Fürsorge für ihre Kinder nicht mehr heraus. Eine 75jährige Frau beklagt sich zum Beispiel, daß sie für ihren 45jährigen, beruflich recht erfolgreichen Sohn nicht mehr so sorgen kann, wie sie es möchte. Sie tut sich etwa beim Bügeln und Kochen mittlerweile schwer. Doch als sie vor die Alternative gestellt wird, sie muß es ja nicht tun, ihr Sohn kann ausziehen und sich eine Haushälterin zulegen, steckt sie zurück. Lieber wird sie weitermachen, bis sie umfällt ...

Eine andere, ältere Mutter versucht hingegen, ihre längst erwachsene Tochter aktiv zurückzuhalten. Immer wenn diese, mit der Therapeutin im Rücken, ihren Auszug aus der gemeinsamen Wohnung ankündigt, bekommt die Mutter plötzlich einen epileptischen Anfall. Wenn sich aber die Tochter in ihrer Absicht, selbst nach dem dritten Anlauf (angedrohter Auszug, darauffolgender Epilepsieanfall) nicht umstimmen läßt, und eine Heimhilfe für die Mutter anstellt, wird es dieser doch zu blöd. Im Grunde genommen ist sie eine bescheidene und sparsame Frau, der Aufwand kommt ihr einfach zu groß und unnötig vor. Die Tochter zieht aus, die Mutter gibt ihren Protest auf und verzichtet auf weitere zusätzliche Anfälle.

Man könnte da unendlich lang Fallbeispiele anführen, wie schwer sich Menschen manchmal miteinander tun. Dabei wird Frau Legler-Guc nicht müde zu betonen, daß es voll und ganz bei den Betroffenen selber liegt, ob sie in alten, mittlerweile als lähmend empfundenen Lebensgewohnheiten weiterhin ausharren, sie als unabwendbares Schicksal hinnehmen, oder ob sie sich den unerfreulichen Tatsachen mutig stellen und ernsthaft nach Auswegen suchen. Denn auch die scheinbar aussichtslosesten Konfliktsituationen, wo man seit Jahren keinen Millimeter weitergekommen ist, gibt es für einen unparteiischen Außenstehenden mindestens zwei, meistens noch mehr, Alternativen.

Ein rasches Anpacken von Kommunikationsstau ist vor allem dort besonders ratsam, wo Kinder mit im Spiel sind. Denn wer möchte schon in eine angespannte, gehässige Beziehung hineingeboren werden? Oder von einem Elternteil als Pfand eiskalt zurückgehalten, oder, nicht weniger schlimm, vom anderen Elternteil vor lauter Zuwendung erbarmungslos niedergewalzt werden?

Suche nach Ausweg Das Phänomen "verhaltensgestörtes Kind" ist uns allen sattsam bekannt, denn es ist weitherum als ernstzunehmendes gesellschaftliches Problem erkannt und anerkannt worden; die Lehrer(innen) haben mit Aggression und Gewalt in der Schulklasse immer öfters zu tun, die Exekutive muß von Jahr zu Jahr immer höhere Aufmerksamkeit der Jugendkriminalität und dem Drogenkonsum schenken, psychosomatische Erkrankungen in allen Altersstufen sind im Steigen begriffen. Alles deutlich lesbare Hinweise, daß es auf dem Gebiet der zwischenmenschlichen Beziehungen jede Menge Probleme gibt.

Auf der anderen Seite gibt es bereits mehr als genug Beratungsstellen mit qualifiziertem Personal (Sozialarbeiter, Psychologen, Therapeuten), die einem Ratsuchenden kompetent zur Seite stehen. Vorausgesetzt, man macht sich auf die Suche nach einem Ausweg, man will im eigenen Leben etwas verändern.

Das scheint der springende Punkt zu sein; viel zu viele Menschen stecken psychische Tiefschläge ein, genauso wie andere viel zu viele psychische Tiefschläge austeilen. Auf beiden Seiten in der durch und durch falschen Annahme, es muß halt so sein.

Man darf vom aber Leben durchaus mehr erwarten als nur zu leiden und Angst zu haben.

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