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Wie gut, daß sie lebt

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Ich bin Mutter von zwei Mädchen im Alter von acht und 13 Jahren, wobei meine kleine Tochter Barbara das sogenannte behinderte Kind in unserer Familie ist. Barbara ist mit einer Schädelmißbildung, einem im Mutter-Kind-Paß attestierten Hydrocephalus, einem mittelgradigen Dandy-Walker-Syndrom und mit Syndaktylien an den Händen und den Füßen zur Welt gekommen. Ganz konkret waren alle ihre Finger zu einer einzigen Knochenplatte verwachsen und mußten in sehr vielen und mühevollen Operationeh getrennt werden.

Weiters mußte meine Tochter zwei Wochen vor dem errechneten

Geburtstermin aufgrund schlechter Herztöne mit künstlicher Weh, eneinleitung geboren werden: Zusätzlich hat sje sich auch noch zweimal die Nabelschnur um den Hals gewickelt und war nur mit ganz hervorragender.Hilfe des mich betreuenden Arztes lebensfähig.

Für mich und meinen Gynäkologen stand aber außer Zweifel, daß· auch ein sehr schwer lebensfähiges und sehr mißgebildetes Kind ein AnrechtaufLebenhat. DasLebehsrecht läßt sich nicht auseinanderteilen!

Doch nach der Geburt begann dann erst der sehr schwere, oft jetzt noch sehr belastende Weg. So wurde mir mitgeteilt, daß dieses Kind ohnedies nur kurze Zeit lebensfähig sei) weil es dann aufgrund der geschlossenen Schädelnähte zu einem erhöhten Hirndruck komme. Das führe letztendlich zum Tode.

Wie fühlt sich eine Mutter, die ihr drei Wochen altes Baby im Arm hält und so etwas - noch dazu vor einer Gruppe Studenten zu hören bekommt? Wie fühlt sie sich, wenn die Studenten in ihrer Anwesenheit dem Professor berichten mußten, was ihnen alles an Fehlbildungen aufgefallen ist? Von den 20 Studenten hat sich nur eine einzige Studentin bei mir entschuldigt, und diese Situation entwürdigend und peinlich empfunden. Alle anderen waren froh, daß ich schon einiges über mein Kind berichten konnte. Ein Student meinte: „ . . . und die Ohren, sitzen so weit unten, das deutet auf Schwachsinn hin." Da war ich total geschafft, denn bis jetzt hatte ich geglaubt, eben ein nur körperbehindertes Kind zu haben. Und plötzlich soll sie auch noch geistig behin4ert sein! Diese Situation im Allgemeinen Krankenhaus verfolgt mich he}li???? J1QCh.

Poch w???? macht eUie Muft????r in ihrer Verzweiflung, wenn siealleii Aussagen zum Trotz fest daran glaubt, daß ihr Kind lebensfähig ist? Wenn sie spürt, daß dieses Kind für uns alle eine besondere Herausforderung ist und für alle, die seinen Lebensweg auch nur ein Stück begJeiten können, eine wahre Bereicherung sein kann!

Mir rinnt es kalt über den Rükken, wenn Leute - noch dazu anerkannte Wissenschaftler - allen Ernstes über „Recht auf Leben" diskutieren, mit der Begründung „ . . . um Leid zu ersparen". Mir stellt sich sofort die Frage: „ Wem soll Leid erspart werden?" Dem Kind, den Eltern, der Umgebung, der Gesellschaft?

Was soll das Wort „Leid" eigentlich bedeuten? • Soll ·es heißen, dem Kind die Schmerzen oftmaliger Operationen zu ersparen? Da kann ich nur aus Erfahrung sagen: Das kann nicht der wahre Grund sein: meine Tochter ist jetzt acht Jahre alt und mußte 24 Operationen über sich ergehen lassen. Die schwerste Operation war die Schädelkorrektur. 198 3 dauerte sie noch zwölf Stunden. Heute könnte sie schon in knapp der Hälf. te der Zeit durchgeführt werden. Barbara hatte das Glück, an die Plastische Chirurgie in Innsbruck überwiesen zu werden. Dort wurde niemals in Frage gestellt, ob dieses Kind für diesen lebensrettenden Eingriff würdig sei, oder nicht. Dabei kam zu Tage, daß sie keinen Hydrocephalus und auch kein Dandy-Walker-Syndrom hatte. Wäre es nach den Euthanasiebefürwortern gegangen, wäre dieses Kindaufgrund eines medizinischen Fehlgutachtens schon längst getötet worden!

Barbara zeigt eine gute geistige Entwicklung-was anscheinend für alle immer als Rechtfertigung dienen muß. Ich aber könnte mein Kind auch mit größeren Schäden annehmen, obwohl ich weiß, daß auch ich immer wieder versuche, besondere Übungsprogramme mit ihr durchzl1Ziehen, um sie nur ja der „Norm'' anzugleichen. Es wird mir eben

immer und überall bewußt, wie weit ihr Rückstand zur sogenannten „Normalität" ist. Daher ist es eine pädagogische Gratwanderung, das richtige Maß zwischen fördern und überfordern zu finden.

Wir müssen Achtung und Respekt vor der Eigenpersönlichkeit unserer Kinder haben und ihnen helfen das zu werden, was sie jeweils sind. Barbara ist ein besonders lebensfrohes und fröhliches Kind geworden, das viele.Freunde um sich hat und der es auch besonders gut gelingt auf Menschen zuzugehen. • Soll „Leid ersparen" heißen, daß Eltern sich der ihnen vom Schicksal - oder: von Gott gestellten · Aufgabe entziehen dürfen?Ich kann nur aus meiner Erfahrung sagen, daß ich dieses Kind von Anfang an als besondere Aufgabe für mein Leben gesehen und mich nie gefragt habe, warum es gerade mich gefroffen hat. Ich 'konnte dieses K.ii!d immer als etwas Besonderes sehen, das mir zu meiner persörilichen Weiterentwicklung verholfen hat, mich gelehrt hat, auch scheinbar hoffnungslose Situationen zu bewältigen. • Soll „Leid ersparen" mit Bezug zur Umgebung heißen: Du, Behinderter, hältst mir den Spiegel vor, daß faktisch jeder täglich einen Unfall erleiden könnte und dann ebenso hilfebedürftig wäre, wie du es jetzt bist?

Jedesmal wenn ich dich anschaue, sehe ich dein verunstaltetes Gesicht, delne Klaue, die zwar von Operation zu Operation schöner und funktionsfähiger wird, aber eben doch nie einer richtigen Hand ähneln wird. .. und davor habe ich Angst, Angst vor deinen Berührungen - sie sind vielleicht hart und unangenehm.

Ich müßte mich überwinden, auf dich zugehen, dich angreifen, dich strei????heln, dann könnte ich auch meine Angst überwinden. Wie schön, daß du so fröhlich und unerschrocken bist - und von selbst auf mich zugehst, mich als erster berührst. Es ist ja gar nicht so schrecklich. Die Narben haben dir sicher einmal sehr weh getan. Sie sind braun und runzelig, aber doch weich, wie meine Haut auch. Du bist ja so wie ich! AQer das konnte ich erst durch dich und dein mutiges Zugehen auf mich begreifen. • Soll „Leid ersparen" für die Gesellschaft bedeuten, daß sie keine finanziellen Mitt???? für dieses Kind aufbringen muß? Dann müßten wir aber auch jeden nicht mebr Erwerbsfähigen und Schwerstkranken töten.

Ich bin überzeugt: Niemand hat das Recht, über den Wert oder Unwert eines Menschenlebens zu entscheiden, weder die Eltern, noch die Ärzte oder schon gar nicht ein Ethiker. Die Grenze für das überleben eines Kindes liegt in der Fähigkeit, für sein überleben zu sorgen .

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