6722990-1965_19_24.jpg
Digital In Arbeit

Kinder im Rollstuhl

Werbung
Werbung
Werbung

SIE DÜRFEN IN DER SCHULE auf der Maschine schreiben, sogar auf einer elektrischen. Andere sitzen nicht, sondern liegen beim Unterricht. Manchmal muß ein Kind plötzlich das Klassenzimmer verlassen, um nach einer halben Stunde mit einem Gipsverband wiederzukommen — es hat sich beim Hantieren mit dem Bleistift einen Finger gebrochen.

Der „Heimweg“ ist kurz, die Schüler legen ihn zum Teil im Rollstuhl zurück, denn sie sind Patienten und die Schule, der zwei Räume und vier Lehrer zur Verfügung stehen, ist einem Sanatorium angegliedert.

Und zwar einem Sanatorium, auf das man als Österreicher stolz sein dürfte. Leider wissen nur die wenigsten davon.

WIR SPRECHEN VON DER Wiederherstellungsanstalt für körperbehinderte Kinder in Hermagor, Kärnten, die seit 1956 besteht, von Fachleuten aus zahlreichen Ländern besucht wurde und in ganz Mitteleuropa als beispielgebend anerkannt ist. Bei der Wahl des Standortes entschied man sich deshalb für Hermagor, weil dort die meisten Sonnentage pro Jahr gezählt werden. Den Anstoß zur Errichtung gab die Gesellschaft „Rettet das Kind“, deren Schwesternorganisationen in Kanada, England und den USA mit einer größeren Geldspende sozusagen den Grundstein legten. Bekanntlich ist ja immer die erste Million am schwersten aufzutreiben; runde zwölf Millionen waren nötig. Zahlreiche öffentliche und private Stellen mußten zusammensteuern, damit die Arbeitsgemeinschaft der Fürsorgeverbände Kärntens dieses Werk zustandebringen konnte, das keineswegs nur der Kärntner Bevölkerung zugute kommt.

Die Patienten sind Kinder und Jugendliche aus ganz Österreich. Sie leiden an den Folgeerscheinungen überstandener Kinderlähmung, sie benötigen orthopädische Operationen oder schwierige Nachbehandlungen, manche laborieren an angeborener Brüchigkeit der Knochen, besonders groß ist die Zahl der Spastiker und der Querschnittsgelähmten.

IN DEN BEIDEN LETZTEN Fällen handelt es sich oft um Kranke, die man noch vor wenigen Jahrzehnten nur abschreiben konnte. Ein hartes Wort. Aber der Patient mit einer Querschnittslähmung auf Grund einer angeborenen Wirbelmißbildung oder nach einer in der Kindheit überstandenen Rückenmarksentzündung blieb damals fast immer an das Bett gefesselt. Sein Körper konnte keine Widerstandskräfte entwickeln. Antibiotika gab es noch nicht. Lebenserwartung: zwanzig Jahre,-selten mehr.

Heute kann so ein Mensch alt werden. Und was noch wichtiger ist: oft kann er sogar einen Beruf aus üben. Der Rollstuhl bedeutet heute nicht mehr Verzicht auf beruflichen Erfolg.

Allerdings ist oft schon sehr viel getan, wenn es den Ärzten gelingt, einen Menschen vom Bett zu befreien und „rollstuhlfähig“ zu machen. Selbst wenn er keiner geregelten Tätigkeit nachgehen kann, ermöglicht man ihm damit doch ein halbwegs menschliches Leben im Kreise der Familie.

Verhältnismäßig günstig sind dabei jene Patienten daran, deren Querschnittslähmung — so nennt man bekanntlich die teilweise oder totale Blockierung der Nervenbahnen von einem bestimmten Punkt der Wirbelsäure an abwärts — die Folge einer überstandenen Kinderlähmung ist, vorausgesetzt, daß sie die Arme bewegen können. Ihr Bewegungsapparat ist zwar stillgelegt, aber das Gefühl für die Stellung der einzelnen Gelenke ist ihnen erhalten geblieben. Zu den schwersten Fällen zählen Querschnittslähmungen durch Rückenmarksentzündung. Diese Patienten sind nicht nur gelähmt, sie haben jegliches Gefühl in den Beinen verloren und reiben sich, da sie den Schmerz nicht spüren, beim Liegen häufig wund.

Besonders stolz ist der Leiter der Anstalt, Primarius Dr. Alfred Wächter, auf seine Spastikerstation.

Spastiker lernen nicht oder nur sehr schwer gehen. Sie bringen oft ganz einfache Bewegungen nur unter grotesken Verrenkungen zustande. Ihre Krankheit ist keineswegs erblich bedingt, sondern auf eine Schädigung des Gehirns vor, während oder nach der Geburt zurückzuführen. Ihre Intelligenz ist oft viel, viel besser entwickelt, als die meisten Leute annehmen. Es gibt hochintelligente und begabte Persönlichkeiten unter den Spastikern.

Das Schicksal der Spastiker ist besonders tragisch, ihnen zu helfen, für den Arzt eine besonders dankbare Aufgabe. Aber es gehört großes ärztliches Können, viel Liebe und Geduld und reiche Erfahrung dazu. Und die Fortschritte, die da- ] bei erzielt werden, erscheinen dem ( Außenstehenden oft gering. Er kann ( ja nicht ermessen, was es für ein ] spastisches Kind bedeutet, wenn es in langem, hartem Training lernt, die Hand zum Mund zu führen.

Oder gar auf der elektrischen Schreibmaschine zu tippen! Eine elektrische Maschine muß es nicht nur deshalb sein, weil der Spastiker außerstande ist, den Wagen nach ; jeder Zeile zurückzuschieben. Oder : den Umschalter richtig niederzu- ' drücken. Die elektrische Schreib- j maschine produziert überdies vollkommen unabhängig von der aufgewendeten Kraft immer das gleiche, saubere Schriftbild. Das Ergebnis der Arbeit befriedigt, Zufriedenheit mit der eigenen Leistung ist dem Spastiker ein unerhörter Ansporn.

Mit rührender Dankbarkeit hängt er an dem Arzt, der ihn Schritt für Schritt einem menschlichen Leben entgegenführt. Oft bleibt er Jahre in Hermagor. Eine halbe Stunde Bewegungsübungen sind das Maximum dessen, was man ihm zumuten kann. Es bedeutet für ihn Schwerarbeit, eine Taste, die er mit den Augen längst gefunden hat, auch mit der Hand zu erreichen. Die ganze Tastatur ist mit einem Blech abgedeckt, über jedem Buchstaben befindet sich ein Loch. Die unbeholfenen Hände des spastischen Kindes finden Halt, es kann einen einzelnen Hebel betätigen, ohne auch die benachbarten auszulösen.

Selbst der kleinste Handgriff, den der Spastiker auszuführen lernt, bedeutet einen Triumph. Für ihn und für den Arzt. Noch vor wenigen Jahrzehnten hieß es einfach: „Nichts zu machen!“ Heute ist etwas zu machen.

DAS WORT HERMAGOR BEDEUTET Hoffnung für Spastiker und für Querschnittsgelähmte. Hermagor bedeutet fast immer wenigstens einen großen Schritt voran. Den Schritt vom Bett in den Rollstuhl oder vom Rollstuhl in die Beinschienen, die ein selbständiges Gehen ermöglichen, oder von den Schienen zu einer weniger behinderten Fortbewegung

Verloren wäre einst die Patientin Helga nach einem Halswirbelbruch gewesen. In einem systematischen „Querschnittstraining“ lernte sie wenigstens ihre Arme zu gebrauchen und im Rollstuhl einem Beruf nachzugehen. Nicht einmal zu einem winzigen Zucken, um eine Fliege zu verscheuchen, war das nach einer Polioerkrankung total gelähmte Mädchen Elisabeth imstande, als es nach Hermagor gebracht wurde. Elisabeth war bisher der schwerste „Fall“. Heute sitzt sie im Rollstuhl, und die Bilder, die sie mit dem Mund gemalt hat, wurden ausgestellt. Und auch einem Mädchen, das mit der schon erwähnten, angeborenen Brüchigkeit der Knochen herkam, wurde geholfen. Wenn sie ihr Bein gedankenlos über den Bettrand hängen ließ, brach es unter seinem eigenen Gewicht einfach ab! Eine Hormonkur verlieh den Knochen des Kindes die notwendige Festigkeit. Sie wurde natürlich nicht erst einmal durchgeführt, denn diese Krankheit ist häufiger, als man ahnt.

Und auch der kleine Hans hätte ein kurzes Leben im Bett verbracht, wäre er früher auf die Welt gekommen. Er leidet an einem angeborenen Defekt der Wirbelsäule, der einst Bettlägerigkeit bedeutet hätte. Heute braucht er nicht einmal im Rollstuhl zu leben, ein für solche Patienten entwickelter „Schwinggang“ ermöglicht es ihm, sich aus eigener Kraft fortzubewegen. Da es sich um ein besonders intelligentes Kind handelt, braucht man sich um seine Zukunft keine großen Sorgen zu machen.

PRIMARIUS DR. WÄCHTER LEGT großen Wert auf die Feststellung, daß er kein Spital leitet, sondern ein für den Patienten wesentlich angenehmeres Mittelding zwischen Klinik, Sanatorium und Erholungsheim mit Schule. Es steht alles zur Verfügung, was nötig ist, um Behinderungen aller Art zu heilen oder wenigstens zu mildern. Vom Operationssaal bis zum Schwimmbecken, vom Turnsaal mit allen Schikanen bis zum Hubbard-Tank für die Unterwassertherapie und alle sonstigen Behelfe für die Heilgymnastik, es gibt Spezialbänke, auf denen Wirbelsäulengeschädigte auf dem Bauch liegend schreiben und dem Unterricht folgen können. Kurz, alles, was gut und teuer ist.

So wäre also alles in Ordnung? Leider nicht.

Was ist damit getan, wenn ein Kind das Bett mit dem Rollstuhl vertauschen könnte, wenn der Vater keinen Rollstuhl kaufen kann? Kindern, die das Glück haben, in der leider viel zu kleinen Wiederherstellungsanstalt Hermagor einen Platz zu finden, geht nichts ab. Nicht, so lange sie dort sind. Vieles hingegen, wenn sie die Anstalt verlassen haben.

Es gibt sinnreiche Apparate, mit denen gelähmte Kinder gehen können, Schienen, Rollstühle, Gestelle und manches sonst, was einem vom Schicksal geschlagenen jungen Menschen das Leben erleichtert. Aber diese Dinge werden keineswegs gratis verteilt und die Krankenkasse zahlt nur das nötigste. Ebenso die Fürsorge. Und während gesunde Kinder nur aus ihren Hosen und Schuhen herauswachsen, werden den heranwachsenden körperbehinderten Kindern die viel kostspieligeren Schienen und Stützen immer wieder zu klein.

Man kann also, wie oben erwähnt, auf unser Wiederherstellungszentrum in Hermagor als Österreicher stolz sein. Aber man darf nicht glauben, damit wären alle Probleme jener Kinder gelöst. Auch der Wohlfahrtsstaat hat seine Stiefkinder, sogar die Nächstenliebe kennt Favoriten. Das körperbehinderte Kind zählt nicht dazu. Es wird bemitleidet — darauf könnte es verzichten. Die Mitmenschen müßten einspringen, wo die Eltern nicht weiterkönnen. Doch Mitleid, vor allem unpersönliches, abstraktes Mitleid, ist billiger.

ALLERDINGS HAT DIE GESELLSCHAFT „Rettet das Kind“ nicht nur den Anstoß zur Gründung des Kindersanatoriums gegeben, sie ergreift auch noch so manche andere Initiative. So zum Beispiel werden Patenschaften für Kinder vergeben. Wer seine Nächstenliebe auf diese Weise unter Beweis stellt, tut es nicht anonym — er erfährt, welchem Kind seine Hilfe zuteil wird und wenn er wirklich ein guter Pate sein will, dann trägt er nicht nur monatlich den Mindestbetrag von 100 Schilling auf die Post, sondern dann und wann auch einen netten Brief.

Zwei Anträge unter vielen mögen als Beispiel zitiert werden. Da wäre Kurt L., geboren 1955, ein spastisches Kind, das mehrmals in Hermagor war und dort mit sieben Jahren gehen gelernt hat. Seine Lage ist besonders traurig, weil sich sein Vater nicht um ihn kümmert. Die Mutter arbeitet abends, um wenigstens das nötigste kaufen zu können und droht unter der Belastung zusammenzubrechen. Da wäre ferner Brigitte W., geboren 1956, die nach einer Kinderlähmung an einer Atrophie des rechten Fußes leidet und jedes Jahr nach Hermagor kommen muß. Ihr Vater ist ein einfacher Arbeiter und hat noch sechs weitere Kinder zu versorgen. Er muß froh sein, wenn er genügend Brennmaterial kaufen kann ...

Ganze Mappen, vollgestopft mit den Schilderungen solcher Schicksale, liegen bei „Rettet das Kind“. Wie die Chancen stehen? Nun, es wurden bereits tausende Paten für österreichische Kinder gefunden. Doch frohlockt nicht zu früh! Nur einige hundert Paten sind Österreicher, zum Teil Einzelpersonen, zum Teil Truppenkörper und Betriebe. Die übrigen Paten, tausende wie gesagt, wurden im Ausland aufgetrieben !

Worauf man sich ernstlich fragt, ob wir Österreicher so arm sind oder so gedankenlos, oder ob einfach noch zu wenige von der Patenschaftsaktion der Gesellschaft „Rettet das Kind“ gehört haben.

Wenn letzteres zutrifft, sollte Abhilfe geschaffen werden.

Das Verhältnis der österreichischen Paten zu den ausländischen, jetzt etwa 1 zu 16, ist wirklich nicht schmeichelhaft für uns.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung