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...mit Schwester M. Camillus

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DER TAG DER SCHWESTERN beginnt gewöhnlich um dreiviertel sechs Uhr mit Morgengebet und heiliger Messe. Viele der einheimischen Krankenschwestern nehmen freiwillig daran teil.

PUNKT ACHT ÖFFNEN AMBULATORIUM und Medikamentenverteilung ihre Tore, punkt acht treten die Tagschwestern auf den fünf Spitalsstationen ihren Dienst an — die verantwortliche Missionsärztliche Schwester pflegt daher um dreiviertel acht bereits auf ihrem Posten zu sein. Für die Oberin ist heute der „große Rundgang“ erster Programmpunkt. Er beginnt bei der „Warte-sektion“ vor dem Ambulatorium — hier ist alles in Ordnung, hinter dem Schalter amtieren bereits die beiden Angestellten und ihre Helferinnen, daneben sind die Waagen und Instrumente zur Abnahme der Blutproben und zur Messung des Blutdrucks bereit; gegenüber in der Apotheke hat Schwester M. Muriel, die Apothekerin, die kostbaren Medikamente aus sicherem Verschluß geholt und ist eben dabei, die von den Nachtschwestern nicht benötigten, soeben von den Stationen zurückgekommenen Arzneien wieder aufzuheben und ihre Rückgabe zu quittieren.

Im Krankenhaus läuft alles seinen normalen Gang. Im ersten der beiden Männersäle macht gerade die Schwester Ärztin französisch-kanadischer Abstammung — sie wird in einem ruhigen Augenblick von der Begegnung ihrer französischen Mutter mit Doktor Dengel erzählen — Visite, drüben bei den Frauen hat die zweite Schwester Ärztin ihre Visite bereits abgeschlossen, um in die Ambulanz zu gehen. Die dunkelhäutige Stationsschwester ist aber durchaus dankbar, daß die Schwester Oberin gerade rechtzeitig gekommen ist, um ihr beim Anlegen einer Infusion bei einem nervösen alten Man“ behilflich zu sein; und der Be.Jnach-barin einer Frischoperi&rten im Frauensaal muß neuerlich mit Nachdruck eingeschärft werden, daß sie keinesfalls ihrer Nachbarin kaltes Wasser einflößen darf, sondern nach der Schwester läuten müsse, wenn die Schwerkranke Durst äußere. „Aber Schwester — Holy Family Wasser ist doch gutes Wasser“, sagt die also Gerügte treuherzig-erstaunt.

DER RUNDGANG ERFÄHRT eine neue Unterbrechung durch Peter, den Laboratoriumsangestellten, der hinter der Schwester hergestürmt kommt. „Schwester, Schwester, kommen Sie! In der Ambulanz haben sie einen Unglücksfall. Zwei junge Burschen sind bei der Farmarbeit angeschossen worden. Sie sind sehr verängstigt und fürchten, daß sie sterben werden. Kommen Sie schnell.“

Bei einem schweren Unfall werden alle Dorfältesten benachrichtigt. Daher ist es nicht überraschend, zu sehen, daß der Unfallraum überfüllt ist und die Leute nahezu aus Türen und Fenstern herausquellen. Die Männer zeigen aufgeregt und fragen die Knaben aus. Die zwei Opfer sitzen auf einer Bank und deuten sehr dramatisch auf ihre Verletzungen. Dabei erzählen sie ihre Geschichte.

Es war ein reiner Unglücksfall. Wenn man den dichten und durchwachsenen Busch kennt, kann man sich alles genau vorstellen: Ein Jäger, der Vögel im Busch jagte, hatte die Burschen aus Versehen angeschossen. Die beiden hatten vielfältige, aber oberflächliche Schrotschüsse an Armen und Beinen, der eine sogar eine Verletzung in der Nähe des Auges. Ja, jeder gab zu, daß es ein Unfall gewesen war.

Die Schwester Ärztin schlägt vor, die Burschen über Nacht im Krankenhaus zu behalten. Die Ältesten willigten ein, bestanden aber darauf, daß die Ärztin sofort alle Schrotstücke entferne. Sie erklärte ihnen entschieden^ daß die Stücke langsam von selbst an die Oberfläche wandern würden. Dann könnten sie besser entfernt werden. Bis dahin solle man die Schrotkömer in Ruhe lassen. Niemand werde dabei einen Schaden davontragen.

Die Ältesten hören aufmerksam zu, sind aber davon nicht sehr überzeugt. Nach kurzer Zeit kommen sie mit entschlossenen Gesichtern zurück. Da die Ärztin auch jetzt nicht bereit ist, die Kömer sofort zu entfernen, wollen die Knaben zu einem „Magier“ gehen. Er ist bekannt und lebt etwa 120 Kilometer vom Krankenhaus entfernt. Der Ärztin bleibt keine andere Wahl, als sie ziehen zu lassen, nicht ohne davor zu warnen, daß es eine teure Reise werden würde, die Behandlung schädlich sein und unter Umständen zu einer Infektion führen könne. Nichtsdestoweniger marschieren alle fort, jubelnd, daß sie einen schlauen Mann kennen, der solch eine Magie betreibt, die der Schwester Ärztin unbekannt ist.

Erst zwei Wochen später wird man von Schwester Marianne erfahren, wie die Geschichte weiterging — sie sei hier vorweggenommen: „Zwei Tage später kamen sie zurück, um uns die ganze Geschichte zu erzählen. Der Zauberer hatte eine besondere Paste aus Kräutern und Blättern gemacht und magische Worte gesprochen. Und siehe da... als er die Blätter entfernte, lag ein Metallstück auf jedem dieser Blätter. Es war einfach großartig gewesen. Wie froh war man, daß man Zeuge eines solchen Wunders sein konnte! Als die Ärztin bat, jeden der Patienten untersuchen zu dürfen, stimmten diese freudig zu. Oh, ja, untersuchen Sie uns nur gründlich. Sie brauchte nicht eine Minute, um festzustellen, daß die Körner unverändert an Ort und Stelle saßen. Der Schalk saß ihr in den Augen, als sie ihre Bestürzung darüber ausdrückte. Jeder der Ältesten betastete die Stellen und einer nach dem anderen mußte zugeben, daß die Kügelchen immer noch da waren. So waren sie wirklich an der Nase herumgeführt worden! Uber 4000 Schilling hatten sie bezahlt, die Transportkosten nicht eingerechnet. Erstaunlicherweise war niemand böse. Keiner ärgerte sich über diesen Trick. Es war keine Rede davon, den Magier vor Gericht zu verklagen oder ihn bei der Polizei anzuzeigen. Sie hatten diese Möglichkeit riskiert. Seine Schläue, mit der er sie hintergangen hatte, verdiente Bewunderung! Sie hatten dem Zauberer diese Gelegenheit gegeben, und er hatte sie genützt.

Was die Ärztin betraf, konnte sie nun beide Knaben behandeln, wie sie wollte. Die Körner kamen bald an die Oberfläche und konnten leicht entfernt werden.“

Zurück zum unterbrochenen Rundgang. Im Laboratorium sind die Schwester Laborantin, die heute Nacht kaum zur Ruhe gekommen ist, und die beiden von ihr eingeschulten einheimischen Laboranten emsig an der Arbeit. Auf Befunde, die von hier kommen, kann man sich verlassen, bedingungslos!

IM OPERATIONSSAAL IST HEUTE — wie täglich — Großreinemachen. Für morgen, Mittwoch, hat Schwester M. Grace eine schwierige Operation angesetzt. Aber daß man die abwaschbaren Wände auch dort abwaschen muß, wo „ohnedies niemand hingreifen kann, weil es zu hoch ist“ — das muß die Oberin den beiden Putzfrauen natürlich separat erklären. Und ihnen bei dieser Gelegenheit nochmals einschärfen, daß sie den Sterilisator auf keinen Fall öffnen dürfen, am besten gar nicht angreifen sollen. Und daß sie die Operationslampe zur Seite drehen müssen, ehe sie darunter mit den Langstielbesen zu hantieren beginnen.

In der Ambulanz ist inzwischen die Reihe der werdenden Mütter so lang, daß die einheimische Hebamme mit den Untersuchungen nicht nachkommt und das Angebot von Schwester Rosemary angenommen hat, ihr zu helfen. Schwester Rosemary wird aber bald wieder weggeholt: im Büro ist inzwischen ein Vertreter erschienen — was selten genug vorkommt und gebührend genützt werden muß —, der Lehrmittel für die Hebammenschule anbietet.

So hat Schwester M. Camillus — selbst Hebamme —- das Hörrohr übernommen und springt nun an einem der beiden weißen Untersuchungstische ein. Die wenigsten der Patientinnen kommen heute zum erstenmal: sie halten sich an die Regel, einmal im Monat, wenn möglich vierzehntägig, zur Untersuchung zu kommen. Verdauungsstörungen, Herzbeschwerden, Ödeme, Schlaflosigkeit, leichte Toxaemie oder Hyperemesis stehen oft auf der Tagesordnung. Und immer wieder ist es notwendig, den jungen Frauen einzuschärfen, daß sie keine Feldarbeit tun, keine schwere Lasten tragen sollen. Zwillingsgeburten verursachen keine Aufregung — sie sind in vielen Gegenden überaus häufig. Es tut nur not, rechtzeitig aufzuklären, denn in manchen Stämmen und Dörfern besteht eine gewisse Neir gung, den kleineren Zwilling oder den Erstgeborenen, der im Volksglauben nur als „Wegbereiter des wichtigeren Kindes“ angesehen wird, ein wenig zu vernachlässigen. „Es muß sterben, denn es will nicht trinken“, ist eine Feststellung, die häufig zwar mit Wehmut getroffen wird, aber weder die Mutter noch die anderen Familienmitglieder dazu veranlaßt, etwas zu unternehmen, um das Kleine zum Trinken zu bringen.

AB HALB ZWEI UHR HERRSCHT Siesta im Holy Family Hospital. Draußen ist die Hitze so unerträglich geworden, daß selbst die zierlichen weißen Reiher und die sonst so flink huschenden Eidechsen unsichtbar geworden sind. Man weiß: ein Patient, der um diese Zeit hierher kommt und Einlaß heischt, muß sterbenskrank sein, sonst hätte er sein Haus nicht verlassen. Der Mann, der heute ankommt, ist es — obwohl er allein zu Fuß gewandert ist, nachdem ihn ein Lastwagen ein Stück mitgenommen hat, und obwohl er scheinbar mühelos sein Bündel Habseligkeiten auf dem Kopf balanciert. Er ist nicht nur schwerkrank — er ist auch eine Gefahr für die anderen, solange er unbeobachtet spazierengeht: Die „Sister Doctor“ hat festgestellt, daß hier Typhusverdacht besteht. Natürlich wird er sofort ins Isolierzimmer gebracht — das Fieberthermometer zeigt 103 Grad Fah-renheit, das sind 39,8 Grad Celsius!

Folgt man Schwester M. Camillus hinüber zu den wartenden Patienten in der Ambulanz, dann erlebt man sogleich einen Beweis, wie mühsam es oft sein kann, eine Anamnese zu erstellen. „Seit wann ist das Kind krank?“ fragt die Schwester eine junge Frau, die einen sichtlich fiebernden, etwa fünfjährigen Buben auf den Armen trägt. „Seit heute früh, Schwester.“ „So, so. Hat der Kleine vielleicht etwas Schlechtes gegessen?“ „Oh, nein, Schwester.“ „Wirklich nicht?“ „Bestimmt nicht, Schwester, ganz bestimmt nicht.“ Schwester M. Camillus rückt feierlich die Brille zurecht und bemüht sich, ganz streng dreinzuschauen. „Wirklich nicht?“ „Nein, Schwester — höchstens ein ganz klein wenig. Aber schon vor vielen Tagen!“ „Vor wieviel Tagen?“ „Mindestens vor drei Tagen, Schwester!“ „Aha. Und er hat wirklich erst seit heute Fieber?“ „Nun, Schwester, wenn Sie so fragen — vielleicht seit gestern. Aber höchstens seit vorgestern.“ „War es vielleicht so, daß er schon vor drei Tagen Fieber bekam?“ „Ja Schwester — Sie wissen ja sowieso alles.“ Nun also kann der kleine Patient zur Untersuchung ins Nachbarzimmer gebracht werden. Ähnliches wiederholt sich im Lauf des Nachmittags in allen nur erdenklichen Varianten.

Drüben, in dem kleinen Schwestern-Schulgebäude, geht inzwischen der Unterricht seinen gewohnten Gang. An Hand von Wandtafeln und maßstabgetreuen Modellen lernt der erste Jahrgang seine Grundsätze der Anatomie — der zweite hat Krankenpflegetheorie, im Musterbett liegt eine lebensgroße Patientenpuppe, die eben korrekt umgebettet wird, eine Schülerin nach der anderen versucht sich daran. Ein Glück, daß die Kunststoffpuppe nichts spürt, denn bei den ersten Versuchen wird die mangelnde Geschicklichkeit durch entsprechenden Kraftaufwand kompensiert.

GEGEN SECHS IST DAS TAGESPENSUM erfüllt. Die letzten Patienten haben die Ambulanz verlassen, in den Krankensälen ist die zweite Visite abgeschlossen, die Schülerinnen streben ihrem Wohnhaus zu. Für die Schwestern läutet das Glöckchen zum Rosenkranz. Heute sind sie vollzählig — morgen wird die eine der Ärztinnen fehlen: sie geht auf „Treck“, wie die Tour mit der fahrbaren Ambulanz heißt. Ein harter Tag für sie — und ein harter Tag für die andere Schwester Ärztin, die allein Spitalsdienst zu versehen, Schwangerenberatung abzuhalten und dazu eine dringende Operation auszuführen hat.

Gemeinsam wird das Abendessen eingenommen. Halb acht bis viertel neun: die Stunde der Rekreation, die freie Dreiviertelstunde!

Immer noch drückt die Hitze, nun von den Mauem reflektiert, aber es ist ein schöner, klarer Abend. Im Ort schlagen die Trommeln, fast täglich besteht ein Anlaß dazu. Handelt es sich heute um Geburt oder Tod, Hochzeit oder Heimkehr, eine politische Versammlung oder einen wichtigen Besuch? Es ist nach acht, schon greift eine Schwester nach dem Buch, dem die geistliche Lesung des Abends zu entnehmen ist — da erscheint im Torbogen die diensthabende einheimische Krankenpflegerin aus der Männerstation: soeben wurde ein Verletzter gebracht.

ES WIRD STILL IM SCHWESTERNHAUS, vor den Zimmern der diensthabenden Ärztin und der Krankenschwester, die Nachtbereitschaft hat, werden die weithin sichtbaren kleinen Lampen aufgedreht, in den anderen Zimmern erlöschen nach und nach die Lichter.

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