Das hat es früher alles nickt gegeben. Dieses Wort kann man heute immer wieder hören. Wer sich in einer großen oder kleineren Stadt die Ankündigungen der Bildungseinrichtungen näher betrachtet, wird es bestätigen müssen. Wann und wo gab es denn jemals so viele Kurse und Vorträge über den rechten Umgang mit Kindern oder überhaupt regelrechte Elternschulen und Mütterrunden mit ganzen Vortragsserien über Kindererziehung? Daneben stehen fast in jedem Buchladen überdies noch Erziehungshausbücher verschiedenster Art und Preislage. Wenn die Mütter und Väter wenigstens hinterher besser oder überhaupt erziehen könnten! Im Gegenteil, die meisten werden dann nur noch unsicherer und geben es schließlich auf. Das heißt, sie überlassen die Erziehung ihrer Kinder fortab gänzlich den andern. Amerika bleibt selbst auf diesem Gebiet seinem Ruf treu und übertreibt sogar diese volkserzieherischen Bestrebungen bis in das Gebiet der unbegrenzten Möglichkeiten. In ihren Illustrierten spotten sie darüber selbst; ein amerikanischer Cartoon — ein illustrierter Witz gleich den Comic Strips — karikiert diese erschreckende Hilflosigkeit moderner Eltern ihren eigenen Kindern gegenüber. Ein kleiner Trotzkopf wälzt sich auf der Erde, schlägt wild um sich und hält fest verkrallt ein Buch in seinen Händen. Die Amerikaner sagen, das Kind hat einen Koller, dem deutschen und deutlichen Wort Trotz weichen sie ängstlich aus. Die Mutter will ihm das wichtige Buch entwinden, bevor es der kleine Knirps noch zerreißt. Hilflos steht der Vater daneben und fragt seine Frau, was sie in diesem Falle zu tun hätten. Darauf erwidert sie, wenig beruhigend: „Ich weiß es selbst noch nicht, er hat ja gerade das Buch darüber I“
Die Leute mache mit den Kindern heute zur viel Geschichten. Das ist leider nur zu wahr, aber in einem mehrfachen Sinn. Ein nicht geringer Teil der Eltern glaubt, sie dürfen die Kinder nicht mehr der übergroßen Zahl der völlig unkontrollierbaren „Miterzieher“ überlassen. So kommt es, daß sie sich dauernd mit dem Tun und Treiben ihrer Sprößlinge befassen. Der fiber-
wiegenden Mehrheit von Vätern und Müttern in allen Schichten der Bevölkerung — so scheint es — stehen jedoch heutzutage ihre Kinder( bei ihrem zeitgemäßen Lebenswandel irgendwie hindernd im Wege. Was die psychologischen und soziologischen Wissenschaften nur umständlich und mühevoll feststellen, spricht der Mund des Volkes durch die zwielichtige Weisheit der Sprache für jeden verständigen Menschen inhaltsreich aus; zu früh und zu hart drückt nicht selten ein schweres Schicksal auf die Schultern vieler Kinder, das ihnen ihre eigenen Eltern aufgelastet. Es muß — wurde es doch nie gefragt! — sein Geschick, seine „Geschichte“ schon ganz allein tragen, bevor es noch selber so richtig geschichtsfähig geworden ist. Es muß sie — die erlebnisreichen und sein künftiges Leben bestimmenden „Geschichten“ — tapfer durchstehen, bevor es noch selber ein solches übergewichtiges Schicksal in seine Hände nehmen und mit festem Herzen meistern kann.
Keinem Erwachsenen würde je einfallen, einem fünfjährigen Buben einen Sack mit zehn Kilogramm auf die Schultern zu legen. Un-gescheut und ohne Zaudern läßt der gleiche Mann eine ungleich schwerer drückende Last auf sein Kind niedersinken. Mit diesen „Geschichten“ kommen dann sie oder ihre Eltern — erfreulich, wenn sie es noch tunl — zum Erziehungsberater. Und für sie ist er auch da, denn Sorgen um unsere Kinder sind Sorgen um junge Menschen.
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„Als wär's ein Stück von mir ...“ Jedes Kind ist auch lange Zeit nach der Geburt nur „ein Stück“ von der Mutter. Die geistige Nabelschnur darf noch jahrelang nichtlkurzerhand abgeschnitten werden. Ein kaum wenige Wochen junger Säugling wurde von der Großmutter liebevoll betreut, weil die Mutter berufstätig sein mußte. Nun raffte der Tod die Betreuerin des Kindes hinweg. Die Mutter war genötigt, ihr zartes Knäblein einer Säuglingsschwester zu ihren acht Babys noch dazu in Pflege zu geben. Bald darauf begann nun die allzu frühe „Geschichte“ dieses Kindes sich auszuwirken: es bekam förmlich einen chronischen Durchfall. Arzt und Psychologe stellen übereinstimmend
fest: dem Kinde fehlt nichts als die Liebe seiner Mutter.
Eine andere Mutter beklagt sich darüber, daß ihr Kind bereits im zweiten Lebensjahr noch immer nicht sauber zu gewöhnen sei. Und in der Nacht schreie es „ohne ersichtlichen Grund“ auf. Geduldiger Aussprache gelingt es, dem verborgenen, tieferen Grund auf die Spur zu kommen: ein früher Reif legte sich auf die junge Ehe, und das Kind trug an diesem still erduldeten Leid und der herben Enttäuschung der Mutter mit. Die Tiefenpsychologie vom Kinde spricht geradezu von einer „Partizipation mystique“, von einer geheimnisvollen Anteilnahme des Kindes an der Gemütsverfassung seiner Mutter. Es muß wahrhaftig geheimnisvoll genannt werden, in welch fester Form Mutter und Kind von der Geburt her eine förmlich unauflösliche Einheit, tief wurzelnd in ihrem Unbewußten, eingegangen sind. An der Grenze der Unmenschlichkeit bewegen sich die in ihrer Tragweite freilich nicht abgeschätzten „Experimente“ mancher Mütter, wie das grausame Scrlicksal der unschuldigen Kinder lehrt, das ihnen der Hohenstaufenkaiser Friedrich heraufbeschwor. Nach einer alten Chronik wollte er wissen, welche Sprache ein Kind spricht, zu dem niemals eine Mutter oder sonst ein Mensch auch nur ein Wort gesprochen. Er ordnete an, daß eine ganze Reihe von Säuglingen wohl gut genährt und bestens körperlich gepflegt würde, verbot aber strengstens, daß irgend jemand ein Wort mit ihnen spreche oder auch nur zärtlich mit ihnen sei. Sein wissenschaftliches Interesse mußte teuer bezahlt werden: er erhielt nie eine Antwort auf seine Frage, denn alle diese Kinder starben vor dem Ende des ersten Lebensjahres.
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„Mutter, ruf mich noch einmal!“, sagte ein Bub zu seiner früher als sonst aus der Arbeit heimkehrenden Mutter. Sie trafen einander in der Nähe der Wohnung. Beide freuten sich und begrüßten einander herzlichst. Merkwürdigerweise will er trotzdem nicht gleich mit seiner Mutter heimgehen, wie sie und jeder andere erwartet hätte. „Geh voraus!“ meint er, „und ruf mich noch einmal vom Fenster aus, daß ich heimkommen soll. Ich möchte auch einmal hinaufgerufen werden wie die anderen Kinder.“ Dabei überzog sein frisches Knabengesicht ein leichtes Rot, verschämt die bitter entbehrte Liebe seiner Mutter verratend.
Dieses Beispiel ist charakteristisch für eines der heikelsten und schwierigsten Probleme unserer Zeit: für die ganztägige außerhäusliche Berufstätigkeit der-Mutter; Und-doch dürfen wir ihm nicht aus dem Wege gehen.
Vom frühen Säuglingsalter bis in die späten Krisenzeiten der Jugendjahre hat der Ausfall der Mutter schmerzliche Folgen. Sie reichen von harmlosen Begleiterscheinungen bis zu betrüblichen Entgleisungen krimineller Art in der Reifezeit. Während vom Zwölfjährigen noch erzählt wird, daß er ein schlechter Esser sei, nicht viel auf sich halte, keinen rechten Schwung bei der Arbeit aufweise, von der Schule gar nicht erst heimgehe, sondern gleich zum ' Freund eile und bei ihm seini Aufgaben mache, überhaupt heimflüchtig sei, so wird von seinem viel älteren Bruder leider bereits berichtet, daß er richtig- kriminell entgleist sei.
Fortschrittliche Kämpfer für die Rettung der Jugend vor solchen argen Entgleisungen treten unermüdlich für die Schaffung von Tagesheimen für die Kinder ein. Aus tausend Gründen können solche „Heime“ niemals die „interpersonelle Einheit“ einer liebenden Mutter und eines liebenden Vaters mit ihrem Kinde — nämlich die Familie — ersetzen. Die Hamburger Jugendleiterin Käte H e i n t z e konnte in drei Kindertagesheimen Erfahrungen sammeln und schreibt darüber:
„Kann es für das kleine Kind, für den Menschen in der Phase allerstärkster Abhängigkeit und Erlebniskraft, zwei Heime geben, eines für den Tag und eines für die Nacht? Kann es, nach Stunden bemessen, zwischen diesen beiden Heimaten wechselnd leben und Wurzeln schlagen? Gehört nicht zur frühen Kindheit die Ganzheit und Unteilbarkeit des Seins, des Nichtwissens um Zeit und zeitliche Begrenzung des eigenen Daseins und seines Inhaltes? ... Ist es nicht vom Schöpfer so gewollt, daß die schützende Hülle, die den zarten, reizempfindlichen Organismus' umgibt, sich allmählich weitet, mit ihm wächst? ...“ Es ist nicht verwunderlich, daß die Kinder abwesender Mütter Sorgenkinder ersten Ranges genannt werden, verbringen doch diese außerhäuslich berufstätigen Frauen bis zu 70 Prozent neun bis elf Stunden fern von ihren Kindern. Es ist daher begreiflich, daß die Leiter von Jugend-und Erziehungsberatungsstellen deutscher Städte eigene Merkblätter für die berufstätigen Mütter herausbrachten und an sie zur Verteilung bringen. Und höchst erfreulich werden wir es wohl nennen dürfen, daß eine Erhebung der Münchner ■ LIniversität in dortigen Industriebetrieben ergab, daß von den dort arbeitenden berufstätiger
Müttern zu 75 Prozent lieber daheim blieben. Diese Sehnsucht nach Rückkehr ins eigene Heim kam in Oesterreich u. a. bereits vor Jahren bei einer Enquete der Sozialistischen Frauen zum Ausdruck.
Doppelrollen verdoppeln die Wirkung. Es ist nicht nur die Abwesenheit der Mutter und ihr beklagenswerter Ausfall in der Erziehung, unter denen die Kinder zu leiden haben. Wie manche Tiere in der Gefangenschaft vor den Gittern ihrer Käfige sich dauernd wiegen und wippen, so kann an manchen dieser kleinen Kinder beobachtet werden, daß sie in gewissen Abständen „mit dem Kopf gegen die Wand“ stoßen. Es ist auch nicht nur die Doppelrolle, die diese Frauen sich oft selber aufgehalst haben: einen vollen Beruf außer Haus wie ein Mann auszuüben und trotzdem Hausfrau und Mutter zu bleiben. Als Folge ihrer Doppelbesetzung und der damit verbundenen Verknappung der für die Erziehung notwendigen Zeit und Kraft macht sich eine spürbare Niveausenkung ihres erzieherischen Verhaltens bemerkbar. Solche Mütter machen alles gehetzt und voll Ungeduld, sie werden alsbald nachgiebig und verwöhnen ihre Kinder, gleich darauf greifen sie wieder zu gröberen Erziehungsmitteln und wursteln so fort im unberechenbaren Wechsel der, erzieherischen Umgangsformen. Ein Schüler schildert diese allabendliche Situation eines solchen Familienlebens in einem Aufsatz für eine Erhebung in trefflicher Kürze und Prägnanz: „Jetzt richtet meine Mutter das Essen her und sie muß auch schon für morgen herrichten. Dann muß meine Mutter Strümpfe stopfen. Mein Vater spielt mit mir: .Mensch, ärgere dich nicht'...!“ Welch unbeabsichtigte Ironie!
Eine ganz andere Gefahr schafft- das schlimmste Unheil für diese Kinder. Die doppelte Berufsausübung der Mutter schädigt mehr ihre Gesundheit, die Doppelrollen als Mutter und Freundin anderer Männer verdirbt den Charakter ihrer Kinder. Die deutsche Betriebspsychologin Erika Hantel faßte ihre Erfahrungen in deut-
schen Großbetrieben über das „Verborgene Kräftespiel“ in den lapidaren Satz zusammen: die Frau habe die Erhebung zum Arbeitskameraden des Mannes mit der Einbuße ihrer Weiblichkeit bezahlen müssen. So schmerzlich es für die Frauen sein mag: die traurigsten „Hinterbliebenen“ sind die Kinder, die schmerzlich Zurückbleibenden in mehrfacher Hinsicht, die, fallengelassen, schließlich Gefallene werden müssen. Es ist heutzutage nicht leicht, die Personaldaten der Kinder in den Schulen aufzunehmen. Aufgeweckte Buben stehen auf und antworten auf die Frage nach Vater und Mutter: „Bitt“, Herr Lehrer, wir sind geschieden! Ich weiß es nicht!“ Bei nicht wenigen macht es große Schwierigkeiten, mit ihnen über die Doppelrolle eines „Onkels“ klarzuwerden.
Diese „Ehescheidungswaisen“ sind bereits Legion in Europa und stellen die wichtigsten „Patienten“ aller Beratungsstellen dar. Das kann für die Zukunft nicht ohne Folgen bleiben. Diese immer mehr um sich greifende Promiskuität der Geschlechter dürfen wir mit wissenschaftlich gesicherter, hoher Wahrscheinlichkeit als einen der Hauptgründe für die Entwurzelung und Haltlosigkeit unserer heranwachsenden Jugend bezeichnen. Was für den Arzt eine Operation bedeutet, den gleichen Schwierigkeitsgrad haben diese Fälle für jede Erziehungs- und Jugendberatung. Längst verkünden es die Plakate in den Weltstädten: weder die Mütter noch die Kinder kann man teilen. Eine überaus schwere Zukunftssorge taucht angesichts der vielen männlichen und weiblichen „Halbschwachen“, noch nicht voll Verantwortlichen auf: wie sollen alle diese einmal sich „fortpflanzen“, wenn sie selber noch nie recht und fest verwurzelt waren?!
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Jeden Freitag von 16.30 bis 18.30 Uhr, bei schriftlicher oder telephonischer (53 36 35) Voranmeldung auch später, hält der Verfasser in der Katholischen Frauenbewegung, .Wien I, Singerstraße 7, Frziehungsberatung. Aus seinen Begegnungen und Erlebnissen stammen die obigen Darlegungen.