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So sah ich Österreichs Kinder

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Von einem Schweizer, der im Dienste der Jugendbewegung steht, erhält die „Furche" nachstehende Schilderung von Beobachtungen, die, unter österreichischen Kindern im Schweizer Gastlande gesammelt, an österreichische Erzieherkreise gerichtet sind. Das hier Gesagte rührt an Erscheinungen, die nicht zuletzt aus den österreichischen Schicksalen des vergangenen Jahrzehnts erwachsen sind. Aus nachbarlicher Wohlgesinnung daran erinnert zu werden, daß sie nicht als Gewohnheit hingenommen werden sollen, begegnet dem Dank und der Zustimmung aller einsichtigen Eltern und Pädagogen. „Die Furche“

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Von einem Schweizer, der im Dienste der Jugendbewegung steht, erhält die „Furche" nachstehende Schilderung von Beobachtungen, die, unter österreichischen Kindern im Schweizer Gastlande gesammelt, an österreichische Erzieherkreise gerichtet sind. Das hier Gesagte rührt an Erscheinungen, die nicht zuletzt aus den österreichischen Schicksalen des vergangenen Jahrzehnts erwachsen sind. Aus nachbarlicher Wohlgesinnung daran erinnert zu werden, daß sie nicht als Gewohnheit hingenommen werden sollen, begegnet dem Dank und der Zustimmung aller einsichtigen Eltern und Pädagogen. „Die Furche“

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Im Rahmen der Schweizer Erholungsaktionen für kriegsgeschädigte Kinder aus Europa (Frankreich, Belgien, Holland, Österreich, Deutschland), die in den Jahren 1945 bis 1948 vom Schweizer Pfadfinderbund organisiert wurden, hatte ich Gelegenheit, als Leiter einer schweizerischen Pfadfinderabteilung Knaben aus Niederösterreich einzuladen und während ihres Schweizer Aufenthalts zu betreuen. Die Pfadfinder haben bei diesen Aktionen beispiellosen, begeisterten Einsatz gezeigt. Sie werden es nie bereuen. Denn eng sind die Bande, di uns seither mit vielen unserer österreichischen Freunde und ihren Familien verbinden. Lieb ist uns das Nachbarland Österreich durch sie geworden. Mir war es vergönnt, einige Reisen nach Wien und INIie- derösterreich zu unternehmen; ich lernte ein schönes Land kennen, das mich immer wieder machtvoll rufen wird durch seine landschaftliche Schönheit, kulturelle Größe und Eigenart und mehr noch durch seine wertvollen Bürger, die ich nie vergessen werde.

Wenn ich daher heute zeigen möchte, wie ich die Kinder Österreichs sah, dann liegt mir nichts ferner als eine Kritik am Geschauten und Erkannten, ich möchte lediglich einen praktischen Beitrag zum Thema der modernen christlichen Jugenderziehung leisten, zu einem Thema, das uns alle angeht, in welchen Landesmarken wir auch wohnen mögen. Beweislos wage ich zu behaupten, daß es das Grundproblem unserer heutigen unsicheren Zeit darstellt, weil die Zukunft eines Volkes immer in die Hände, in die starken Hände seiner Jugend gelegt ist.

Während meiner letzten Besuche in Österreich bestaunte und anerkannte ich das sichtbare, rasche Fortschreiten der Aufbauarbeiten allüberall. Möge sich auch die Aufbauarbeit der innern Werte im gleichen Maße entwickeln und mögen diese Zeilen dazu einen bescheidenen Beitrag leisten!

Eines sei gn den Anfang gesetzt, weil es uns — die wir beileibe ja auch keine Engel sind — zuerst aufgefallen ist und uns am meisten bedrückt hat. Die österreichischen Kinder beten so wenig. Das Gebet, die kindliche, vertrauensvolle Zwiesprache mit dem Vater, bleibt doch das Vorrecht der Jugend. Ist es nicht immer ein Ereignis, am Morgen gesund auf wachen Zu dürfen und einen Tag, einen lichtvollen, einmaligen, ganzen Tag vor sich zu wissen? Ist es nicht doch auch ein Ereignis, am Abend gesund und unbeschadet ins Traumland eintreten zu dürfen? Kann es nach den harten, entbehrungsreichen Kriegsjahren wirklich wieder ganz selbstverständlich sein, an den Tisch sitzen, essen zu können, wenn auch noch nicht genügend und mit bescheidener Auswahl? Daher müssen wir gerade am Morgen, am Abend und am Tisch wieder betende

Kinder sehen; betende Eltern auch, aber vor allem und immer wieder betende Kinder. Darf ich da einen erlebten Vergleich anführen:

Im Sommer 1945 leitete ich ein Er- holungslager für 30 Knaben aus Südfrankreich, im Jahre 1946 ein solches für 35 Gäste aus östesreich. In beiden Lagern wurde am Morgen, nach der Tagwache, die Landesfahne unserer kleinen Freunde — die Trikolore Frankreichs und die rotweißrote Österreichs — zusammen mit unserem Landesbanner gehißt. Am späten Abend, vor Beginn der Nachtruhe, wurden sie wieder eingeholt. Im Halbkreis standen jedesmal unsere Lagergemeinschaften aus West und Ost um den Fahnenmast. Da Morgengebet wurde dort verrichtet und dort das Abendgebet. Würden Sie mich nun fragen, welche Knaben andächtiger und inniger beim Gebete waren, dann würde der Vergleich unbedingt zugunsten der gläubigen Südfranzosen ausfallen. (Ich sage der „gläubigen", weil wir auch solche auf genommen hatten, die nicht um Gott wußten.) Bei den österreichischen Kindern bedurfte es immer einer guten Dosis Straffheit der Lagerleitung, wenn erreicht werden mußte, daß wenigsten wahrend des Gebetes der' Lagerleitung nicht geschwatzt wurde. Hätten doch diese Kinder gewußt, würden sie es dexh jemak erfahren wi nnig Schwerer Freunde ;

baten, der großen Aufgabe einer solchen Aktion ungebrochen und treu dienen zu dürfen.

Und ein anderes: Nehmen wir die Gaben des Himmels mit bornierter Selbstverständlichkeit, dann wird uns auch keine gebende, offene Menschenhand ein Dankeswort abringen. Könnten Sie ermessen, wie viele Pflegeeltem es bitter schmerzte, weil für alle Liebe und Güte, weil für alle Gaben und guten Worte so wenig Dank zurückhallte. Gewiß, wir durften im gewaltigen Ringen des zweiten Weltkrieges durch eine unfaßbare Fügung abseits vom großen Ringen, abseits vom Schrecken stehen. Wir wollen uns dafür auch wirklich dankbar zeigen, denen helfend, die in den Strudel mit hineingerissen wurden. Vielleicht, wir könnten noch mehr tun? Wir wollen’s und werden’s und tun’s.

Es mag sie interessieren, daß wir zum Beispiel im Jahre 1946 für 35 Knaben rund 10.000 Schweizer Franken aufwendeten, wovon rund die Hälfte von der Kinderhilfe des Roten Kreuzes zur Verfügung gestellt wurde, der Rest wurde in unserer 6000köfJfigen Gemeinde gesammelt. Dies in einer Zeit, wo jede Woche mindestens eine Kollekte für in- und ausländische soziale Zwecke bringt. Mit diesem Geide wurden die Knaben gekleidet, wurde ein fünfwöchiges Erholungslager durchgefühnt, wurden prächtige Reisen unternommen und vieles mehr. Nach der Lagerzeit widmeten sich die Pflegeeltern dem Dienst an ihren Schützlingen, nährten sie, kleideten sie und füllten ihre Säcke urtd Koffern für die Ausreise.

Man verstehe daher, daß es weh tun muß, wenn es dann immer wieder Kinder gibt, die nach der Heimfahrt nicht ein Wort mehr von sich hören lassen, keine Zeile, keinen Gruß? Glücklich sind wir, weil wir doch helfen durften und konnten, das genügt. Aber man empfindet es doch, wenn kein Wort des Pflegekindes mehr den Weg in unser Land findet, zu einer Familie, die vielleicht beim Abschiede weinte, weil das Kind schon fest in den Familienkreis eingeschlossen war.

Ich wäre ungerecht, würde ich nicht auch erwähnen, daß aber doch auch viele sind — darunter zähle ich fast alle meine Freunde —, die eine stete briefliche Verbindung mit ihren Schweizer Freunden aufrechterhalten, viele noch, die den hohen Wert der Dankbarkeit kennen. Wären sie nicht, hätten sich wohl schon viele gebende Hände aus schmerzender Enttäuschung geschlossen.

Ich ließ mir erzählen, daß die Gastkinder des ersten Weltkrieges aus Österreich fast ausnahmslos, lange Jahre hindurch treue Anhänglichkeit zu ihren zweiten Eltern bewahrten. In unserer Familie besitzen wir noch immer ein Bild von solchen Kindern und meine Mutter weiß noch, wie sie heißen, was sie geworden sind und teilweise sogar noch, wo sie heute leben. Vielleicht ist ein Leser dieser Zeilen darunter — wird er mich, wird er uns daher verstehen?

Der Krieg hat viele unerschütterlich scheinende Werte zerstört, wir wissen es zu gut und vergessen es nicht. Diese Äußerungen sind daher in keinem Falle Vorwürfe. Sie sollen nur zeigen, daß wir auch hier aufbauen müssen.

„Dürfen wir ins Kino?" Diese Frage wurde mir von einem zehnjährigen Knirps schon bei der ersten Einreise in die Schweiz gestellt und mein „Nein“ hat eine nicht gelinde Entrüstung im Wagenabteil ausgelöst. Zehnjährige Filmbesucher waren für mich tatsächlich ein Novum. Bei uns verbietet ein Gesetz allen Schulpflichtigen den Kinobesuch. Ich glaube, daß wir viele unnötigere Gesetze haben, als es dieses ist. Ist es wirklich möglich, habe ich mich damals gefragt und frage ich mich heute noch, daß es Eltern gibt, die ihre Kinder bedenkenlos dem Gifte mittelmäßiger und schlechter Filme ausliefern, die schließlich zur Zerstreuung der Erwachsenen und nicht zur Schädigung der Jugend gedreht wurden. Auch bei uns wird viel über den Film geredet, aber so lange wir unsere Kinder nicht mit allen Mitteln vor seinem — wenn auch nicht immer verderblichen •— Einfluß schützen, ist es nicht gut, an filmische Grundprobleme zu rühren, die ja doch nie richtig gelöst werden, mag noch so viele Tinte und Druckerschwärze darüber verbraucht werden.

Die Gegensätze berührten sich auch in unserem Erholungslager. Beispiele von egozentrischer Einstellung waren an der Tagesordnung und wurden abgelöst durch rührende Zeichen altruistischen Fühlens und Handelns. Wie dankbar waren wir für die letzteren und wie viel Mühe hat es uns gekostet, einen fruchtbaren und verständigen Gruppen- und Lagergeist zu pflanzen und zu erhalten. Wir erkannten aber, daß die guten Keime lebten und wir versuchten sie zu entwickeln. Die Weiterarbeit müssen wir aber den Eltern und Erziehern in der Heimat unserer jugendlichen Gäste überlassen. Vertrauen und Hilfsbereitschaft müssen in den jungen Herzen wachsen können. Der Pfadfinder ist verpflichtet, täglich eine gute Tat zu üben, die an sich sehr klein und bescheiden sein darf, die aber dennoch den steten Gedanken an die Pflicht der Hilfsbereitschaft wachzuhalten vermag. Hier liegt auch einer der großen Vorzüge, wenn nicht der größte, der weltweiten Pfadfinderbewegung.

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