Brief an die Tochter - Brief an die Tochter - © Foto: Pixabay

Meine liebe Tochter!

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Was bedeutet Kindsein im 21. Jahrhundert? In einem Brief an seine Tochter handelt der Philosoph Gottfried Schweiger diese Thematik ab. Eine Reflexion über Werte und Verantwortung.

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Was bedeutet Kindsein im 21. Jahrhundert? In einem Brief an seine Tochter handelt der Philosoph Gottfried Schweiger diese Thematik ab. Eine Reflexion über Werte und Verantwortung.

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Du bist noch zu jung, um diesen Brief lesen zu können. In ein paar Jahren aber wird es soweit sein. Ich möchte Dir anlässlich des Tages der Kinderrechte davon erzählen, was es bedeutet, heute, im Jahr 2019, in Österreich aufzuwachsen. Ich will Dir auch davon erzählen, vor welchen Herausforderungen Eltern, unsere Gesellschaft und die Politik stehen, um Kindern in ihren Rechten und Pflichten zu unterstützen. Fangen wir ganz vorne an.

Wer ist denn überhaupt ein Kind? Du bist ein Kind mit Deinen zwei Jahren und Du wirst auch noch in ein paar Jahren ein Kind sein. Aber bist Du mit fünfzehn Jahren noch ein Kind oder mit neunzehn? Kindheit ist nicht nur eine biologische Kategorie, sondern auch eine soziale und eine normative. Normativ ist diese Kategorie deshalb, weil sie darüber entscheidet, was jemand tun darf und wie wir jemanden behandeln sollen. Kinder dürfen weniger Dinge tun als Erwachsene. Sie dürfen nicht wählen, nicht für Geld arbeiten und sie dürfen nicht heiraten. Dafür haben Kinder aber bestimmte Privilegien: Sie müssen nicht ins Gefängnis, sie müssen keine Steuern zahlen und generell nehmen Erwachsene oft mehr Rücksicht auf Kinder.

Menschen, die achtzehn Jahre alt sind, unterscheiden sich von denen, die siebzehn sind und von denen, die neunzehn sind. Aber unterscheiden sie sich so sehr, dass wir sagen können, die eine ist ein Kind, die andere schon erwachsen, die eine darf wählen, die andere noch nicht? Ich glaube nicht. Der Übergang zwischen Kindheit und Erwachsenenalter ist fließend und porös. Daher unterscheiden manche Wissenschaften auch zwischen Kindheit und Adoleszenz, die mit der Pubertät beginnt. Das macht die Sache etwas genauer, aber löst die grundsätzlichen Probleme nicht wirklich, weil sich Kinder und Jugendliche unterschiedlich entwickeln.

Aber die eigenen Kinder gehören einem nicht. Das ist wichtig zu betonen, da die Macht, die Eltern über ihre Kinder haben, groß ist.

Aber in manchen Bereichen brauchen wir Altersgrenzen, die dann ungenau sind. Altersgrenzen sind Hilfsmittel, die etwa im Recht verwendet werden, weil Einzelprüfungen zu aufwändig und ungenau wären. Wenn man Kindern und Jugendlichen den Konsum von Alkohol verbieten will, will man sie schützen. Aber will man die neunzehnjährigen Menschen denn nicht mehr schützen? Es gibt sicher einige Jugendliche, die sehr verantwortungsvoll mit Alkohol umgehen können, während es einige junge Erwachsene gibt, die das nicht können und die man vielleicht vor sich selbst schützen sollte.

Heute ein Kind zu sein, ist sicherlich in einigen Bereichen ganz anders als noch vor dreißig Jahren. Es gibt neue Technologien, die fast schon ab der Geburt im Leben der Kinder präsent sind. Smartphones und das Internet etwa. Auch Du hast schon ziemlich früh mitbekommen, dass Mama und Papa oft in diese schwarzen kleinen Geräte schauen und dass man damit die Oma oder den Opa anrufen kann. Man kann sie sogar dort sehen, wenn man mit ihnen spricht. Mit neuen Technologien kommen neue Chancen, aber auch neue Gefahren und gerade für Eltern ist es schwierig, hier eine Linie zu finden. Wie gefährlich sind denn nun tatsächlich Computerspiele und sollte ich öfters kontrollieren, was meine Kinder im Internet tun. Zu einigen Fragen gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse, aber meistens werden Entscheidungen aus dem Bauch heraus getroffen. Eltern haben Wertvorstellungen und glauben zu wissen, was gut für ihre Kinder ist. Manchmal stimmt das, manchmal aber eben auch nicht. Für den Staat ist das ein ebenso schwieriges Terrain. Die Familie ist ein geschützter und höchst privater Raum und viele reagieren ziemlich allergisch darauf, wenn die Politik hier hineinregieren will.

Darf mir der Staat vorschreiben, was meine Kinder zu lernen haben? Etwa dass es eine Evolution gab und der Mensch sich im Verlauf der Naturgeschichte aus den Vorfahren der Affen entwickelt hat? Darf der Staat in Schulen Sexualkundeunterricht anbieten, der die Gleichwertigkeit von unterschiedlichen sexuellen Neigungen lehrt? Darf der Staat Kindern verbieten, ein Kopftuch oder ein Kreuz um den Hals zu tragen? Diese und andere Fragen sind auch deshalb so strittig, weil sie Moral und Werte betreffen.

Der Staat hat eine Pflicht, Kinder und ihre Rechte zu schützen, und das geht nicht ohne sich mit Fragen der Moral auseinanderzusetzen und Entscheidungen zu treffen. Das Verbot der Körperstrafe etwa, das es leider nur in sehr wenigen Ländern gibt, ist so eine moralische Entscheidung, die heutzutage in Österreich rechtlichen Charakter hat. Eltern haben auch Pflichten gegenüber ihren Kindern. Sie sollen für ihre Kinder sorgen und sie lieben. Wer die Elternschaft annimmt, egal ob für seine biologischen Kinder oder andere, geht eine langfristige Verpflichtung ein, die man nicht leichtfertig aufgeben darf. Aber die eigenen Kinder gehören einem nicht. Das ist wichtig zu betonen, da die Macht, die Eltern über ihre Kinder haben, groß ist. Sie beeinflussen bewusst und unbewusst sehr vieles im Leben ihrer Kinder und dürfen ihnen einiges erlauben oder verbieten. Diese Macht wird auch vom Staat gewährt und geschützt, und es gibt wohl keine besseren Alternativen als das Aufwachsen im Kreis der Familie.

„ Ich möchte dir davon erzählen, vor welchen Herausforderungen Eltern, unsere Gesellschaft und die Politik stehen, um Kinder zu unterstützen. “

Leider haben es manche Kinder schwer in diesem Land. Sie haben nicht so wie Du zwei gesunde Eltern mit geregeltem Einkommen, die Dich in vielem unterstützen und fördern, Verwandte, auf die man sich verlassen kann, ein schönes Kinderzimmer mit vielen Spielsachen. Viele Kinder sind arm, und auch wenn Kinderarmut in Österreich nicht so erdrückend und grausam ist wie in anderen Teilen der Welt, so existiert sie doch. Kinder spüren, wenn sie weniger haben als ihre Freunde und ihre Klassenkameraden und sie spüren es auch, wenn es den Eltern schlecht geht. Armut erzeugt Stress, sie macht krank und sie kann dazu führen, dass man sich selbst nicht mag.

Warum es dennoch Kinderarmut in Österreich gibt? Die kurze Antwort lautet, weil wir es zulassen. Wir, das sind die Gesellschaft und die Politik. Österreich wäre reich genug, allen Kindern ein abgesichertes Leben zu ermöglichen. Das zu tun, wäre auch kein Almosen, sondern würde nur umsetzen, was Kindern als ihr Recht zusteht. Alle Kinder haben nämlich das Recht, ausreichend versorgt und ohne Armut aufzuwachsen. Es müssen nicht alle Kinder gleich viel haben, aber keines darf so wenig haben, dass ihm eine gute Kindheit verwehrt bleibt. Der Staat kann nicht alles verteilen, er kann nur schwer dafür sorgen, dass in allen Familien Liebe und Harmonie herrscht und kein Streit. Der Staat kann und soll nicht alle Probleme lösen und an alle Glückspillen verteilen. Aber die Politik könnte dafür sorgen, dass keine Familie zum Sozialmarkt gehen muss und keine Familie so wenig Geld hat, dass die Kinder in schimmligen und überbelegten Wohnungen spielen und schlafen müssen. Kein Kind ist nämlich für seine Armut verantwortlich und kein Kind konnte es sich aussuchen, ob seine Eltern arm oder reich sind. Auch Du, meine liebe Tochter, hattest in diesem Sinne einiges Glück, dass Du in Österreich auf die Welt gekommen bist und nicht in einem Flüchtlingslager in Afrika. Es ist traurig und unfassbar, aber auf dieser Welt sterben noch immer jedes Jahr Hunderttausende Babys und Kleinkinder, weil sie in Armut geboren wurden.

Ich weiß nicht, was sich in Zukunft für die Kinder verändern wird. Manches wird gleich bleiben und einige neue Herausforderungen werden auf uns zu kommen. Wenn Du einmal vielleicht selbst Kinder hast, werden diese dann von Lehrerrobotern unterrichtet? Wirst Du ihnen einen Chip mit GPS in den Arm einsetzen, um immer zu wissen, wo sie sind und wie es ihnen gesundheitlich geht? Ich kann nur hoffen, dass in der nicht allzu fernen Zukunft alle Kinder die gleichen Chancen vorfinden werden, egal wo sie geboren wurden und wer ihre Eltern sind. Dass alle die Möglichkeit haben, eine glückliche Kindheit zu erleben.

In Liebe, Dein Vater

Zum Autor: Gottfried Schweiger ist als Philosoph am Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg tätig. Er arbeitet dort zu Fragen der politischen Philosophie, der sozialen Gerechtigkeit und Kinderarmut. Auch ist er einer der Herausgeber des Handbuches „Philosophie der Kindheit“.

Zum Autor: Gottfried Schweiger ist als Philosoph am Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg tätig. Er arbeitet dort zu Fragen der politischen Philosophie, der sozialen Gerechtigkeit und Kinderarmut. Auch ist er einer der Herausgeber des Handbuches „Philosophie der Kindheit“.

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