Seine Majestät, das Kind

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Kinder haben es heute so gut wie noch nie, ist oft zu hören. Irrtum, meint die amerikanische Autorin Diane Ehrensaft in ihrem neuen Buch. Kinder bekommen zwar alles, aber nicht das, was sie wirklich brauchen.

Seit Jahren gibt es so viel Widersprüchliches zum Thema Kindererziehung, dass sich inzwischen schon viele Eltern fragen, ob sie sich nicht lieber doch wieder auf ihre natürlichen Instinkte verlassen sollten. Vielleicht haben die modernen Väter und Mütter ohnehin ein sicheres Gespür dafür, was für ihre Kinder richtig und gut ist und brauchen gar nicht die dauernden Belehrungen, Ratschläge, Check-Listen und vielgepriesenen Patentrezepte.

Wenn das nur so einfach wäre! Die elterlichen Instinkte sind angesichts der vielen Probleme, verwirrenden Eindrücke und Konflikte abgestumpft, stellt Autorin Diane Ehrensaft gleich zu Beginn ihres Buches "Wenn Eltern zu sehr ... Warum Kinder alles bekommen, aber nicht das, was sie wirklich brauchen", fest. Die amerikanische Professorin für Psychologie am Wright Institute, Berkeley, weiß das aus unzähligen Erfahrungen, Gesprächen, Sitzungen und Analysen der gängigsten Elternsorgen und -probleme.

Die Kindertherapeutin - sie selbst ist Mutter zweier erwachsener Kinder - weist zwar gleich zu Beginn ausdrücklich darauf hin, dass es bei ihren Analysen nur um die Erziehungsprobleme der gebildeten amerikanischen Mittelschicht geht. Das sollte aber nicht dazu verführen zu meinen, das Buch sei nicht ganz stichhältig oder nur begrenzt für Eltern in Europa geeignet. Im Gegenteil: Alles, was hier beschrieben wird, spricht vielen aus dem Herzen wie zum Beispiel die Tatsache, "dass wir eine Generation von ichbezogenen Eltern sind, die ihrem persönlichen Glück breiten Raum geben. Und doch strengen wir uns gleichzeitig enorm an, gute Väter und Mütter zu sein". Paradoxerweise ist es aber gerade diese Kombination, die sich als verhängnisvoll erweist und die Gefahr in sich birgt, Eltern und Kindern das Zusammensein ungemein schwer zu machen.

Warum klappt es nicht?

Auch in Amerika gibt es das weitverbreitete Phänomen orientierungsloser, von Schuldgefühlen und Unsicherheit gepeinigter Erwachsener. Die heutigen Eltern wissen einfach nicht mehr, wie und nach welchen Werten sie ihre Kinder erziehen und behandeln sollen. In Zeiten der Befreiung von allen Normen und Zwängen gibt es weder verbindliche Erziehungsstile noch gemeinsame Erziehungsziele. Dabei schien irgendwie alles so einfach zu sein: Man müsse mit den Kindern sprechen, ihnen zuhören und sie ernst nehmen, dann könne gar nichts schief gehen, wurde immer wieder gepredigt. Warum klappt das dann nicht so recht mit dem Miteinander?

Der umfangreichste Teil des Buches von Diane Ehrensaft besteht in der psychologischen Analyse dieser misslichen Lage, in der viele Eltern heute stecken. Das große Problem ist, so ihr Befund, dass nicht nur die Elternrolle neu gestaltet werden muss. Auch die Vorstellungen davon, was Kindheit ist, haben sich verändert. Heutige Eltern haben meist nur eine sehr diffuse Wahrnehmung von ihrem Nachwuchs. Einerseits gelten Kinder als autonome Individuen auf dem Weg zur Reife und Mündigkeit. Andererseits werden sie als schutzbedürftige Wesen gesehen, die möglichst lange und intensiv der Fürsorge und Unterstützung bedürfen. Für dieses Phänomen prägt Ehrensaft den Begriff "Kind-Erwachsener". Wir müssen berücksichtigen, fordert sie daher vehement, "dass Kinder weitaus mehr können, als wir ihnen bisher zugetraut haben. Wir sollten aber gleichzeitig nicht aus den Augen verlieren, dass sie noch mitten in der Entwicklung stecken und nicht mit Erwachsenen verglichen werden können."

Bei ihren Analysen und Lösungsvorschlägen spricht sie ungeschminkt auch unangenehme Wahrheiten aus: Warum wir mit der Elternrolle heute so große Schwierigkeiten haben, hängt unter anderem auch damit zusammen, dass alles um die Kinder kreist, dass sie regelrecht überbewertet werden ("Seine Majestät, das Baby"). Eltern sehen in ihren Kindern meist etwas ganz besonderes und behandeln sie entsprechend. Jede kleine, noch so alltägliche Leistung wird schon zum großen Ereignis. Das soll das Selbstwertgefühl stärken und sei das Wichtigste heutzutage, denken viele Eltern. Aber die meisten Kinder können dann nicht mehr unterscheiden, was eine wirkliche Leistung ist, die Selbstbeurteilungen und -einschätzungen fallen ihnen immer schwerer, ebenso das Aushalten von Frustrationen und Enttäuschungen bei der Bewältigung ihres kindlichen und jugendlichen Alltags.

Die interessantesten Kapitel des Buches sind zweifellos die Beschreibungen, was Eltern tun können, damit ihr Kind ein sicheres und natürliches Gespür für seine Individualität bekommt und kein überzogenes Ich entwickelt. Ehrensaft nennt diesen Aufbau eine "Kontinuität des Seins". Das erfordert einen behutsamen und geschickten Balanceakt zwischen dem Ich der Eltern und dem Ich des Kindes. "Mein Kind ist genau wie ich, genau wie ich!" Wer so jubelt, macht schon die ersten Fehler.

Der elterliche Übereifer, der auf diese Weise oft ungehemmt zum Ausdruck kommt und die Kinder überfordert, ist für Diane Ehrefels immer wieder eine erschütternde Erfahrung. Die Lösungsansätze, die die Therapeutin in ihrem Buch anbietet, bettet sie immer wieder ein in anschauliche Geschichten und Gedanken aus der jahrelangen professionellen Beschäftigung mit Eltern und Kindern.

Übrigens: Immer wieder streut die Autorin auch interessante Rückblicke in die Geschichte der Kindererziehung ein, die auch für Nicht-Eltern sehr aufschlussreich sind. Möglicherweise kommen bei der Lektüre auch innere Beschädigungen aus der eigenen Kindheit ans Licht. Sie stammen vielleicht aus einer Zeit, in der sich alles um die Erwachsenen drehte und die Kinder einfach nur in ein starres System von Regeln und Erwartungen gepresst wurden, der strengen elterlichen und sozialen Kontrolle unterstellt. Wo es nicht erlaubt war, unaufgefordert den Mund aufzumachen, und gegessen wurde, was auf den Tisch kam.

Und das ist noch gar nicht so lange her.

"Wenn Eltern zu sehr ...

Warum Kinder alles bekommen, aber nicht das, was sie wirklich brauchen" von Diane Ehrensaft, Klett-Cotta, 2000, 310 Seiten, öS 235,70/e 17,13

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