Die Kleinen sind total überfordert

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Ängstliche und nervöse Kinder, die sich nicht konzentrieren können, bevölkern die Praxen. Vieles davon dürfte von zu viel und zu frühem Fernsehkonsum beeinflußt sein.

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Ängstliche und nervöse Kinder, die sich nicht konzentrieren können, bevölkern die Praxen. Vieles davon dürfte von zu viel und zu frühem Fernsehkonsum beeinflußt sein.

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In der Diskussion pro und contra Fernsehen steht der Kinderarzt vor einem Dilemma. Ist der Arzt überzeugter Gegner, gilt er als alternativ und rückständig. Will er offen, modern und liberal sein, kann er das Fernsehen heute unmöglich kategorisch ablehnen. Es geht mir gar nicht so sehr um die Diskussion, was geschaut wird, sondern daß eben geschaut wird.

Nun könnte man einwenden, daß wir im heutigen Medienzeitalter (dominiert von Computer, Video, Internet, Playstation etc.) unsere Kinder nicht früh genug an den Bildschirm gewöhnen können. Denn jede Generation muß mit den Suchtmitteln ihrer Zeit umgehen und leben lernen.

Kritisch wird es, wenn der Fernsehapparat zum Hauptspielzeug und zum Beziehungspartner wird. Die besondere Sorge gilt dabei kleinen Kindern, die der bunten Bilderwelt des Fernsehens schutzlos ausgeliefert sind. Wie bei jeder Droge spielt auch beim Fernsehen das Expositionsalter eine entscheidende Rolle.Die Wirkung des TV als potentielles Suchtmittel und als Modulator der kindlichen psychischen und sozialen Entwicklung wird stark unterschätzt. Die Gefährdung mit den sogenannten "zivilisierten" Suchtmitteln beginnt üblicherweise um die Pubertät oder im jungen Erwachsenenalter.

In diesem Alter sollten Jugendliche durch den Einfluß der Familie und Freunde, aber auch aufgrund ihrer gewachsenen Persönlichkeit bereits in der Lage sein, nein zu sagen.

Beim TV beginnt die Exposition jedoch spätestens im Kindergartenalter, heutzutage in den meisten Familien noch viel früher. Dabei erfüllt das Fernsehen alle Kriterien eines Suchtmittels: Dosisabhängigkeit, zunehmender sozialer Rückzug, Einschränkung der Kommunikation und Gewöhnung.

Der Haken an all diesen Theorien: Sie sind kaum wissenschaftlich beweisbar und stützen sich auf klinische Beobachtungen und deren subjektive Interpretation. In allen Studien, in welchen erwachsene Experten um die Interpretation frühkindlichen Verhaltens gefragt werden, kann das Problem der Gegenüberstellung von Selbstbeurteilung versus Fremdbeurteilung nicht gelöst werden.

Babies können keine Interviews geben, Kleinkinder keine Fragebögen ausfüllen. Selbst geschulte "Baby-Observer" (das sind tiefenpsychoanalytisch geschulte und entwicklungspsychologisch kundige Experten), können nie direkte Antworten vom Studienobjekt Baby erhalten.

Viele Kinder aggressiv Die Untersuchung frühkindlichen Verhaltens ist daher immer subjektiv, immer von der Interpretation und damit von Zeitgeist, gesellschaftlicher Wertung und wissenschaftlicher Modeströmung abhängig. Alles was wir über den Einfluß des Fernsehens, besonders auf sehr junge Kinder, wissen, ist daher auf indirekte Beobachtung und Expertisen gestützt. Die Folgen oder Spätfolgen sind daher aus heutiger Sicht ebensowenig absehbar wie potentielle Schäden auf die körperliche, geistige, kognitive und emotionale Entwicklung der Kinder. Und wo sich die Folgen nicht sicher abschätzen lassen, ist immer Vorsicht am Platz.

Im Universitätsklinikum des Kinderzentrums Graz werden fast täglich Kinder aller Altersgruppen mit aggressivem und antisozialem Verhalten, Frustrationsintoleranz, Impulskontrollstörungen, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, auffälliger Geschwisterrivalität, vermehrter Nervosität, Angst- und Paniksyndromen, chronischen Kopfschmerzen oder Schlafstörungen vorstellig.

Der kausale Zusammenhang dieser gehäuft auftretenden, teils massiven psychischen und psychosomatischen Störungen mit dem Fernsehen ist nicht eindeutig nachweisbar, weil es keine Kontrollgruppe gibt. In anderen Worten: Es ist nicht möglich, eine für einen seriösen wissenschaftlichen Vergleich notwendige, ausreichend große Zahl von nicht fernsehenden Kindern zu finden. Fernsehen ist die Norm.

Für mich ist der Zusammenhang dieser Störungen mit überhöhtem Fernsehkonsum allerdings so evident, daß ich ihn als gesichert annehme. Besonders dramatisch sind die Auswirkungen der flimmernden Bilder auf Kleinstkinder.

In der psychotherapeutischen Säuglings- und Kleinkindambulanz sehen wir Kinder ab dem ersten Lebensjahr aus unterschiedlichsten sozialen und familiären Verhältnissen, die den Fernseher im Wohn- oder Kinderzimmer als als Ersatz für Geschwister oder Beziehungspartner erleben. Sie sind dem TV wehrlos ausgeliefert, zu einem vollkommen passiven Konsum gezwungen.

Damit wird die kognitive und emotionale Wahrnehmungskompetenz dieser Kinder hoffnungslos überfordert. Eine adäquate Verarbeitung dieser Einflüsse ist auch für die intelligentesten Kinder schlechthin unmöglich. Was übrigens nichts mit den Inhalten zu tun hat. Denn hier ist das Medium die katastrophale Botschaft.

Auch noch so "harmlose" Zeichentrickfilme mit Comicbildern von lustigen Löwen und Dinosauriern können in der Psyche so kleiner Kinder keine altersgerechte Repräsentation finden. Die Bilderflut bricht über das Kind herein, ohne diesem die Chance zur Flucht oder zur Steuerung der Ereignisse zu lassen.

Geborgenheit fehlt Damit unterscheidet sich das Medium Fernsehen fundamental von den alten Bilder- und Märchenbüchern, deren Inhalte ja oft weit grausamer waren als jene modernen, politisch korrekten Kinderfernsehens. Das Bilderbuch gibt dem Kind die Möglichkeit, das Medium selbst zu steuern, d.h. es bei Überforderung oder Desinteresse einfach wegzulegen. Wird das Buch gemeinsam mit einem Erwachsenen, einer vertrauten Bindungsperson, angeschaut, so kommt noch die Dimension der Kommunikation und Interaktion dazu.

Der Austausch verbaler und nonverbaler Erklärungen vermittelt dem Kind jene Geborgenheit, die es allein vor dem Fernseher niemals erleben kann.

Und genau hier liegt die große Gefahr des Mediums TV. Von der Geburt an lernt ein Kind zu kommunizieren. Es sendet nonverbale Signale aus und erwartet darauf eine Reaktion. Längst ist wissenschaftlich bewiesen, daß die Reaktionen der Mutter nach einem bestimmten, nur zum Teil kulturabhängigen Muster verlaufen. Das Kind wiederum reagiert auf die Mimik und die Stimme der Mutter. Es weiß, welche Reaktionen es auf die Botschaften, die es aussendet, erwarten darf.

Einbahn-Beziehung Das TV-Gerät zerstört diese Sicherheit. Es sendet laufend kommunikative Signale, reagiert aber nicht und sendet, unbeirrt durch die Reaktionen seiner kleinen Zuseher, weiter. Damit kann das frühkindliche Verständnis von Kommunikation fundamental gestört werden. Das kann böse Folgen haben, denn Kommunikation und das Erlernen aller frühkindlichen Fähigkeiten der sprachlichen und psychosozialen Entwicklung sind auf Interaktion und Beziehung aufgebaut.

Das Resümee: Kinder unter zwei Jahren gehören nicht in den selben Raum wie der laufende Fernseher, egal ob alleine oder gemeinsam mit Erwachsenen. Für Kleinkinder wäre auch das Ansehen eines selektierten Fernsehprogramms nur minutenweise und unbedingt in Anwesenheit einer vertrauten Bezugsperson zulässig. Auch das Ansehen qualitativ hochwertiger Erwachsenen-Programme wie z.B. Nachrichten ist für Vorschulkinder nicht empfehlenswert. Bis zum Alter von acht Jahren sollten Kinder überhaupt nicht alleine fernsehen und auch später sind Eltern gut beraten, wenn sie die Programmauswahl kontrollieren und - wenn nötig - auch beschränken.

Was also tun? Denn einen Kampf gegen das Medium Fernsehen führen zu wollen, wäre heute ungefähr so sinnvoll wie Don Quixotes Attacke gegen die Windmühlen. So bleibt nur die Mahnung zum vorsichtigen Umgang. Und dazu gehört die Bereitschaft, sich mit den Reaktionen des eigenen Kindes auseinanderzusetzen. Fragen Sie Ihr Kind, um was es bei dem geschauten Programm gegangen ist. So bekommen Sie ein verläßliches Feedback über den kindlichen Filter der Wahrnehmung. Dieser ist stark vom Alter abhängig. Kinder bis zum vierten Lebensjahr (die eigentlich kaum fernsehen sollten), finden das Programm meistens "lustig". Das heißt, es hat sich viel bewegt, war bunt und abwechslungsreich. Bereits in diesem Alter ist ein Suchteffekt nachweisbar, den inhaltlichen Zusammenhang eines Programms können die Kinder allerdings nur in den seltensten Fällen nachvollziehen und wiedergeben.

Weiters denke ich, daß es in der stark ideologisch gefärbten Diskussion pro und contra Kinderfernsehen durch Eltern und Fachleute vor allem auf ein differenzierteres und individuell angemessenes Niveau ankommt. Somit ist jede kategorische Verurteilung oder globale Stellungnahme aus der Sicht des Kindes, des betroffenen, individuellen Kindes, unfair und unhaltbar. Das viel benützte und auch mißbrauchte Schlagwort 'Zum Wohle des Kindes' soll hier in eine altersgerechte und persönliche Kommunikation erwachsener und verantwortlicher Menschen mit den Kindern münden, in welcher die Kinder, je nach Entwicklungsalter, Intelligenz und Persönlichkeit, selbst und interaktiv sowohl die Diskussion als auch deren Umsetzung mitgestalten können und sollen.

Natürlich gehört dazu genauso der Respekt vor der kindlichen Meinung und den kindlichen Bedürfnissen wie auch die Anerkennung der elterlichen Verantwortung. Je differenzierter, korrekter und fairer dieser Kommunikationsprozeß geführt werden kann, desto eher wird er auch die Diskussion um und mit anderen, auf uns alle zuflutenden noch neueren Medien positiv gestalten helfen.

Beitrag von Univ.-Prof. Dr. Marguerite Dunitz-Scheer, Kinderfachärztin und Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche an der Abteilung für Psychosomatik der Universitätsklinik für Kinder und Jugendliche in Graz. Sie ist selbst Mutter von sechs Kindern im Alter von 3 - 19 Jahren.

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