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Kind und Film

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Es leuchtet ein, daß eine Institution, die im Leben des Erwachsenen eine so bedeutende Rolle spielt wie das Kino, schon früh auf die eine oder die andere Weise auch in den kindlichen Erlebnisbereich eindringt. So gehört das Wort „Kino“ bereits in das Vokalubar des Kindes, das eben erst zu sprechen begann. Um so dringlicher werden Fragen, die das angemessene Verhältnis des Kindes zur Institution Film betreffen.

Auf den sogenannten Kinderfilm bezogen, will die Kinderpsychologie natürlich keine Produktionsvorschriften herausgeben, gleichwohl mag aber gelten, daß nur solche Filme als Kinderfilme legitimiert sind, die den auf den jeweiligen Reifezustand gegründeten entwicklungsspezifischen Bedürfnissen gerecht werden, das sind also Filme, die in dem Kinde nichts vorzeitig wecken, verbilden oder irreleiten. Sind diese Bedingungen nicht gegeben, wird die Kinderpsychologie ein Veto einlegen müssen. Sie können a priori nicht gegeben sein bei Kindern bis zum fünften Lebensjahr. Dies zu begründen ist um so wichtiger, als es vielerorts erlaubt ist, sogenannte „Schoßkinder“, das sind die Ein- bis Zweijährigen, in Kinovorstellungen mitzunehmen. Für sie ist die lange anhaltende Ueberflutung mit akustischen und visuellen Reizen besonders schädlich, da schon ihre Physis derartigen Anstrengungen nicht gewachsen ist. Außerdem ist der mehrstündige Aufenthalt in einem schlecht gelüfteten, dunklen Raum hygienisch bedenklich.

Das Drei- und das Vierjährige mögen psychologisch zwar widerstandsfähiger sein, doch muß die Kinderpsychologie auch ihnen „Kinotauglichkeit“ absprechen. Die Kinder dieser Altersstufe haben nämlich zwar ein gutes Bildverständnis, aber keine Publikumsreife. Denn das rezeptive Verhalten ist in diesen Jahren noch kurzatmig wie auch die Aktionen, auf die das Kind immer bedacht ist. Man bedenke, welche Reizintensität nötig ist, soll die Aktivität des Kindes für volle zwei Stunden aufgestaut werden. Ueble Nachwirkungen, wie Erregungszustände, nächtliches Aufschreien u. a. sind die häufige Folge solcher Schädigungen. Um es nochmals zu betonen: für die genannten Altersstufen muß die Ablehnung des Kinobesuches generell gelten, also noch vor jeder etwaigen Erörterung möglicher Sujets.

Es wurde eingangs erwähnt, daß schon der frühe Vokabelbestand das Wort „Kino“ enthält. Nun ist zu ergänzen: nicht das Wort allein, auch gewisse Vorstellungen sind mit ihm bereits verbunden, da ja das Kind unentwegt sieht, daß die Mutter ins Kino geht, und hört, was die Erwachsenen davon erzählen. Gerade das aktive Kind unternimmt nun alles, um es der interessenbesetzten Person der Mutter gleichzutun: entweder es reagiert sich im Phantasiespiel ab oder es bedrängt die Mutter, tatsächlich ins Kino mitgenommen zu werden. Man findet also schon bald eine richtige Kinobereitschaft. Ihr entsprechen die Erzieher um so leichter, als es ihnen die Unternehmer leicht machen, indem sie „Kindervorstellungen“ einrichten.

Die Schädigungen sind für den Laien nicht ohne weiteres einsehbar. Um so dringender muß auf sie hingewiesen werden. So haben neuere Untersuchungen über die Entstehung von Vorstellung und Phantasie bewiesen, daß das Kind, soll es Vorstellungen ausbilden, Tätigkeiten des Alltags nachahmen muß. Der Weg zum selbständigen Tun aus eigener Vorstellung geht über die Nachahmung fremden Tuns. Nachahmen setzt aber voraus, daß etwas vorhanden ist, das man nachahmen kann, und das interessant genug ist, daß man es nachahmt. Und hier sind es zuvörderst die Arbeiten der Mutter, die das Kind nachahmend aufgreift. Der mittlere Haushalt ist voll Anregungen Fehlen nun die Voraussetzungen, entwickelt das Kind wenig Vorstellungen und wenig Phantasie und daher eine geringe geistige Aktivität, dann braucht es sehr massive Reize, um aus dem erlebnisarmen Dasein hinaustreten zu können. Und das Kino bietet sie. Zu welchem Ergebnis, davon war oben die Rede.

Erst das Kind, das sich dem Schulalter nähert und gut ausbalanciert ist, kann gelegentlich von Erwachsenen in Kurzfilme geführt werden. Für den jetzt erreichten Entwicklungsstand ist es zu begrüßen, wenn die vertrauten Dinge der kindlichen Umwelt zu Akteuren werden, wenn sie mit prägnanter Physiognomie vor die Sinne treten und so auch die Teilnahme des Gemütes erwirken. Es soll nur jede allzu primitive Vermenschlichung vermieden werden, der Film soll vielmehr objektiv-realistisch sein. So entspricht er nämlich am besten der nun altersspezifischen Sehweise.

Ein Wort jetzt auch über die Art der Sujets in Filmen, die für Kinder geschaffen werden. Der Akzent soll auf heiteren und freundlichen Begebnissen des kindlichen Lebens liegen, aber auch dem Ernsten und dem Traurigen mag ein gebührender Platz eingeräumt werden. Für den letztgenannten Fall ist jedoch hinsichtlich der Realistik einige Zurückhaltung geboten: Szenen der Angst und der Furcht, des übergroßen Elends, Leidens und Sterbens dürfen keineswegs voll ausgespielt werden. Die Bebilderung solcher Affekte und Ereignisse hat man der individuellen Phantasie des Kindes zu überlassen, die selbst von seinen Erfahrung genährt wird. In dieser Hinsicht kann der Film von nichtentarteten Volksmärchen lernen. Obgleich dieses nur mit dem Wort operiert, verzichtet es doch auf die Details (etwa beim Bauchaufschneiden des Wolfes; es schildert vielmehr liebevoll und genau, wie das jüngste Geißlein Schere, Nadel und Zwirn holt). A4so: alle Affekte sollen nur anklingen, denn das Kind ist auch weiterhin affektiv überaus labil, es schwingt viel stärker in Extremlagen als der Erwachsene. Im übrigen ist ein Kinobesuch eines Fünf- oder Sechsjährigen ein Zugeständnis an die heutige Zeit. Dem wohlumsorgten Kind entgeht nichts, wenn man ihm den Film noch eine Weile vorenthält.

Erst mit dem achten und neunten Jahr wird sich das Kind an all dem richtig freuen, für das das Fünf- und Sechsjährige eben reif geworden ist. Nun ist die Aufmerksamkeit weniger fluktuierend, die Aktivität ver-innerlicht, das sachliche Interesse größer. Wie man sich verhält, das erfährt das Kind im Ehrenkodex der Clique, der Altersgenossenschaft; nun aber will es auch informiert werden über das, was in der weiteren Welt vorgeht, es wird reif für den Dokumentarfilm (Kulturfilm). Als Richtlinie für derartige Filme mag gelten: das Geschehen kann handlungsreich und turbulent sein, Proben des Mutes und der Tapferkeit zeigen, doch dürfen auch jetzt noch Szenen mit negativen Affekten (Angst, Schrecken) keineswegs voll ausgespielt werden, ist doch die Wirkung der Bilder offenbar nachhaltiger als es der Eindruck wäre, den ein geschildertes Ereignis in der Realität hervorriefe, in der gegebenenfalls die Kinder durch Hilfsleistungen abgelenkt werden, so daß die Affektstauung geringer bleibt.

Bis zum zehnten Lebensjahr sei man jedenfalls mit dem Besuch auch von Kurzfilmen sparsam. Später, etwa bis zum 14. Lebensjahr, ist ein Spielfilm normaler Länge durchaus akzeptabel, doch soll dieser in eigenen Jugendvorstellungen und ohne das Ragout aus Reklame und Vorschau geboten werden.

Es wäre sehr zu wünschen, wollte die Presse die Eltern zureichender informieren, vornehmlich über das Mindestalter, in dem dieser oder jener Film besucht werden kann; auch schiene es wünschenswert, Standardreihen von Kinderfilmen zusammenzustellen.Leider hat Oesterreich keine Erhebungen aus jüngster Zeit. Die Fülle der einschlägigen und dringenden Fragen führte auf der Festwoche des religiösen Films schließlich zu der Anregung, eine Arbeitsgemeinschaft zu gründen, die geeignete Vorschläge und Maßnahmen auszuarbeiten hätte.

* Aus einem Vortrag auf der III. Internationalen Festwoche des religiösen Films zu Wien.

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