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Was ist mit dem Hausverstand los ?

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Irving Kristol, Professor für Sozialwissenschaft in New York, kam mit diesem über Amerika hinaus gültigen Beitrag in der jüngsten Ausgabe der „Conturen" zu Wort.

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Irving Kristol, Professor für Sozialwissenschaft in New York, kam mit diesem über Amerika hinaus gültigen Beitrag in der jüngsten Ausgabe der „Conturen" zu Wort.

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Die intellektuelle Geschichte der Zukunft wird, wenn sie auf das vergangene halbe Jahrhundert amerikanischer Erfahrung zurückgesehen wird, sicherlich von einem Phänomen getroffen werden, das wir die Tyrannei der Ideen nennen können. Es ist eine Tyrannei der akademischen, quasi-akademischen und pseudoakademischen Ideen über den Hausverstand, also über die Verkörperung praktischer Vernunft und traditioneller Weisheit.

Nehmen wir z. B. die Bildung, über die so viel Aufruhr herrscht. Es gibt absolut nichts Mysteriöses bei der Erziehung der Kinder oder junger Menschen für das Leben in der Gesellschaft. Die menschliche

Spezies hat das Tausende von Jahren getan und wir Amerikaner ebenso in größerem Ausmaß etwa drei Jahrhunderte — niemals zu jedermanns Zufriedenheit, aber auch ohne daß der Prozeß der Erziehung als ein enorm problematisches Unternehmen angesehen wurde, vor Rätsel gestellt durch scheinbar unlösbare Schwierigkeiten, die das Augenmerk von speziell ausgebildeten Experten nötig machen. In den vergangenen Dekaden haben wir jedoch Hunderte von solchen Experten ausgebildet („Pädagogen" im Unterschied zu einfachen Lehrern), haben dann unser Bildungssystem auf sie eingestellt und sind bestürzt und erstaunt über die miserablen Resultate.

Die Bestürzung ist gerechtfertigt, das Erstaunen nicht. Die Erziehungstheoretiker, die die moderne öffentliche Bildung in den USA geschaffen haben, glaubten nie, daß sie junge Menschen zur Partizipation in dieser Gesellschaft bilden sollen. Ihr Ehrgeiz war es, junge Leute so zu formen, daß sie fruchtbar in einer viel höheren — aber leider nichtexistenten - Gesellschaft partizipieren können. Von hier kommt die Vernachlässigung der traditionellen „Basis" der Erziehung - der Fähigkeit zu lesen, schreiben und rechnen, aber auch Disziplin, gutes Benehmen, richtiges Sprechen — zugunsten eines mehr „kreativen" Stundenplans, eines gelok-kerten Schulethos. Das Ergebnis ist, daß die meisten Amerikaner es sehr begrüßen würden, die altmodischen Schulen von gestern wiedereinzuführen und gern hohe Gebühren zahlen würden, um ihre Kinder in diese Schulen zu schik-ken, wenn sie sie finden könnten.

Oder nehmen wir die Frage der Kriminalität. Es wird nicht ausreichend gewürdigt, wie ungewöhnlich — man kann sogar sagen einzigartig — die Situation bezüglich der Kriminalität heute in den USA ist. Unsere Gesellschaft könnte wohl die erste in der ganzen Menschheitsgeschichte sein, in der der Durchschnittsbürger in der ständigen Gefahr lebt, Opfer von kriminellen Ausschreitungen seiner Mitbürger zu werden. Wer könnte vor 40 Jahren vorhergesagt haben, daß eine bemerkenswerte Steigerung des amerikanischen Lebensstandards, eine ebenso deutliche Erhöhung der Anzahl der Schuljahre zusammen mit der Schaffung des Wohlfahrtsstaates, der den Armen und Bedürftigen hilft, von der Explosion der Kriminalität begleitet werden würde?

Verbrechen und Verbrecher sind nichts Neues; sie sind immer unter uns gewesen. Aber für eine Gesellschaft ist die Unfähigkeit neu, kriminelle Aktivitäten so einzuschränken, daß der Durchschnittsbürger nur selten damit konfrontiert wird. Diese Einschränkung haben verschiedene Gesellschaften auf unterschiedliche Art erreicht — aber es wurde immer erreicht. Nur im Amerika von heute nimmt es die Dimension eines unlösbaren Problems an, eines ohne Alternative, mit dem wir zu leben haben. Wie ist es dazu gekommen?

Ein guter Teil der Antwort ist, daß unsere Soziologen, Kriminologen und Juristen ihre Theorien und Hypothesen dazu verwendet haben, ein System von Strafgerichtsbarkeit zu kreieren, welches die Kriminalität senken sollte, aber statt dessen eine weitere Verbreitung des Verbrechens ausgelöst hat. Es ist eine ironische Tatsache, daß die sogenannten „weniger entwickelten" Staaten, die so viel weniger Kriminologen haben als wir, auch viel niedrigere Verbrechensraten haben. Das ist das Resultat, wenn man es zuläßt, daß „hochgestochene" Theorien — eigentlich umständliche Ideologien — die Oberhand über den Hausverstand und die überlieferte Weisheit gewinnen.

Oder nehmen wir eine noch prosaischere menschliche Erfahrung: Kindeserziehung. Was kann eventuell mysteriös bei der Kindeserziehung sein? Wir sind alle Kinder gewesen und wissen, wie es ist. Menschen haben nun wohl lange Zeit Kinder aufgezogen, in verschiedenen Gesellschaften unter unterschiedlichen Begleitumständen, weder mit stetiger Verbesserung noch mit ständiger Verschlechterung der Qualität der Heranwachsenden. Nur in einer Welt, in der Psychologen bezüglich der Kindeserziehung „Expertise" zugebilligt wird, wird das Thema zu einer Quelle von Sorgen und Kontroversen. Wir sind heute so überschwemmt und eingeschüchtert von der Führung durch Fachmänner, daß wir nicht mehr bemerken, wie seltsam es ist, daß wir angeblich plötzlich ein

Buch lesen müßten, um fähig zu sein, Kinder aufzuziehen.

Kinder brauchen Liebe, Kinder benötigen Disziplin, und es gibt keinen Experten, der die für ein bestimmtes Kind bestimmter Eltern in einer bestimmten Familie angemessene Mischung liefern kann. Wir alle kennen, ohne ein Buch gelesen zu haben, den Unterschied zwischen sich sorgenden Eltern und Eltern, die sich um nichts kümmern. Wir alle kennen auf Grund unseres Hausverstandes sogar den Unterschied zwischen vernünftigen und dummen Eltern. Solche großen Unterscheidungen machen wir alle intuitiv, und sie reichen so ziemlich für das Vorhaben der Erziehung von Kindern.

Wenn andererseits Eltern anfangen, die Werke von Psychologen bei jeder Kleinigkeit zu konsultieren, wird ihre Ängstlichkeit und Unsicherheit in der Folge auch das Kind ängstlich und unsicher machen. Bei medizinischen oder biologischen Problemen (Dyslexie, Autismus und ähnlichem) kann ein klinischer Psychologe sehr nützlich sein. Aber wenn durchschnittliche Eltern Expertenführung brauchen, um ein durchschnittliches Kind zu erziehen — na ja, das ist ein recht zutreffendes Zeichen, daß die Kultur ihre innere Orientierung verloren hat.

Man könnte den Katalog der Fehler fast unendlich fortsetzen, den die .Tyrannei der Ideen in das amerikanische Leben gebracht hat und in große Gebiete der Kultur ebenfalls, nämlich dort, wo Expertentheorie erlaubt wird, eine klar widersprüchliche Realität zu beherrschen.

Wir geben jungen Mädchen die Pille, weil unsere Experten meinen, daß dies die Teenager-Schwangerschaft reduzieren würde; aber je mehr Pillen wir verteilen, desto schneller erhöhen sich solche Schwangerschaften; also machen wir die Pillen noch leichter erhältlich. Wir deinstitutionalisieren die geistig Kranken, weil das für ihre psychologische Gesundheit gut sein soll, und dann sind wir schockiert, wenn unsere Straßen von heimatlosen, hilflosen Menschen bevölkert sind. Wir versorgen unsere eingesperrten Verbrecher mit allen möglichen Annehmlichkeiten, damit sie sich leichter rehabilitieren können, nur um zu sehen, daß die Kriminalitätsraten in den Gefängnissen in die Höhe schnellen.

Wir lassen uns von unseren Philosophen, Psychologen und Erziehern versichern, daß wirklich keine zwangsläufige Verbindung zwischen Religion und Ethik besteht, nur um zu entdecken, daß wir „Ethiker" brauchen, die unsere Studenten in Ethik unterrichten - nur um zu sehen, daß die „Ethiker" sie moralische Lehren genereller Art lehren, nicht aber am Einzelfall den Unterschied zwischen richtig und falsch.

Wir sitzen in der Patsche.

Wirklich.es ist so ein offensichtliches Schlamassel, daß es wenigstens für ein Minimum an Hoffnung Raum läßt. Man kann zuversichtlich sein, daß die Wirklichkeit letztendlich über die hochgestochensten sophistischen Theorien siegen wird. Aber dieses Ende ist noch weit über dem Horizont, und man kann erschaudern beim Anblick des Ruins, der uns währenddessen befallen wird.

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