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Die Selbstmörder sind unter uns

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Unangenehme Dinge will man bekanntlich nicht wahrhaben. Schon Sigmund Freud prägte für dieses so typische menschliche Verhalten den Ausdruck „Verdrängen“, und man versteht darunter das psychische Phänomen, daß man alle jene Faktoren, die den gewohnheitsmäßigen und auch bequemen Ablauf des Lebens stören, restlos aus dem Bewußtsein verbannen kann. Und genau so wie das Einzelwesen reagiert, ebenso verhält sich das soziale Gebilde, der Staat: Man erfreut sich der reibungslosen Funktion, man begeistert sich an den zweifellos vorhandenen Fortschritten, und man will noch mehr Bequemlichkeit und noch mehr Anteil an allen Vergünstigungen. Den brennenden Problemen aber geht man so weit als möglich aus dem Weg, und gewisse, die Existenz bedrohende Tatsachen will man überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen. Man verhält sich auch dann noch passiv, wenn irgendein negativer Faktor ein derartiges Ausmaß angenommen hat, daß man ihm eigentlich schon auf Schritt und Tritt begegnen kann. Dazu gehören vor allem jene aus den seelischen Fehleinstellungen entstandenen dubi-quitären Zeitphänomene, wie Alkoholismus, zunehmender Nikotinmißbrauch und eine wie ein Genußmittel verkaufte Aufpeitschung des Sexus. Aber dazu gehört noch eine andere Zeiterscheinung, die man allerorts total vernachlässigt und die doch zu der allergrößten Besorgnis Anlaß geben muß: die beängstigende Zunahme der Selbstmorde.

Sowohl über die Zahl der gelungenen Suicide wie auch über diejenigen Versuche, die mehr oder minder ernst gemeint waren und wo es — aus welchem Grund auch immer — zu einer Rettung des Lebensmüden kam, gibt es eine sehr genaue Statistik. Das Faktum selbst läßt sich ja unschwer registrieren, die Ursache aber bleibt in den meisten Fällen vollkommen ungeklärt. Man ist gezwungen, die Tatsache als unabänderlich hinzunehmen: Immer mehr Menschen werfen das Leben weg, inmitten einer Welt eines bisher noch nie erreichten Wohlstandes, umgeben von einer weitest ausgebauten sozialen Versorgung finden immer mehr Menschen das Dasein so unerträglich, daß sie Hand an sich selbst legen. Was für ein entsetzlicher Gegensatz zwischen Schein und Wirklichkeit.

UNABÄNDERLICHE URSACHEN

Noch vor fünfzig Jahren kamen auf hunderttausend Einwohner in der Zivilisation rund zwölf gelungene Selbstmorde pro Jahr und eine dreifache Zahl von Selbstmordversuchen. Man weiß, daß vor allem akut ausbrechende Geisteskrankheiten, aber auch langjährige, scheinbar harmlos verlaufende Psychosen zum Freitod, oft genug unter schauerlichen Umständen, führen. Es ist aber doch interessant, daß die prozentuelle Ausbreitung der geistigen Erkrankungen mehr oder minder doch konstant bleibt oder zumindest nur ganz langsam zunimmt. Auch die schwersten Belastungen, wie Krieg und Austreibung, Gefangenschaft und bitterste Not, haben die Zahl der Schizophrenen im Durchschnitt nicht vergrößert. Und auch die endogene Depression, die bekanntlich die größte Selbstmordgefährdung mit sich bringt, hat nicht zugenommen. Weiter hat es wohl zu allen Zeiten Menschen gegeben, die den Verlust eines Lebenspartners nicht überleben wollten, die freiwillig den Tod suchten, weil sie Angst vor Krankheiten hatten, die bestimmte Kränkungen nicht ertragen wollten oder vor dem wirtschaftlichen Ruin standen. Doch muß man hier sehr vorsichtig sein, denn nicht immer deckt sich ein gefundenes Motiv auch mit der wirklichen Ursache. In den sogenannten Abschiedsbriefen sind die Menschen meist nicht voll ehrlich und verlegen den Schwerpunkt ihrer Begründung sehr oft auf Umstände, die einer genauen Überprüfung nicht standhalten. Es muß jedoch als gesichert gelten, daß sowohl die Geisteskrankheiten wie auch bestimmte Lebensumstände zu allen Zeiten die Menschen zum Selbstmord getrieben haben, und keine wie immer geartete Daseinsform wird dies wohl ändern können.

Wenn aber trotzdem jetzt die Zahl der Selbstmorde zunimmt, wenn — wie dies ja statistisch einwandfrei erkennbar ist — von Jahr zu Jahr mehr Menschen aus dem Leben flüchten und in der Zivilisation auf hunderttausend Einwohner jährlich bis zu vierzig Selbsttötungen kommen, der Suicid also bereits dreimal so häufig geworden ist, so gibt dies natürlich zu denken. Es scheiden jährlich mehr Menschen freiwillig aus dem Leben, als der moderne Straßenverkehr an Todesopfern fordert, die Selbstmordziffer ist höher als die Sterblichkeit aller InfelfticWskrankheen ““iusarÄmen. biJtatO kan: annehmen, daß sich in Europa alle fünf Minuten ein 'Mensch umbrfirgt: 1;

DIE ROLLE DER SÜCHTIGKEIT

Millionen Menschen leben ständig mit einem erhöhten Blutalkoholspiegel. Sie können das Leben überhaupt nicht ohne Spirituosen ertragen und weisen alle ein gemeinsames, ganz typisches Merkmal auf, einen Egoismus, der unter Umständen über Leichen geht. Durch die immer deutlicher werdende Charakterveränderung sinken sie aber doch allmählich sozial ab oder verlieren immer mehr an persönlicher Umweltbeziehung. Es ist zwar nur eine ganz grobe Regel, aber sie hat sich unzählige Male bestätigt: wenn es nicht gelingt, einen Süchtigen zu entwöhnen, so landet er entweder im Irrenhaus, im Gefängnis oder er begeht früher oder später doch Selbstmord. Dieses tragische Ende ist dann sozusagen der Schlußpunkt einer jahrelangen charakterlichen Fehleinstellung, die endgültige Konsequenz eines unabänderlich gewordenen Lebensweges. Der unmittelbare Anlaß ist dann vollkommen nebensächlich und wird, wie bereits erwähnt, sehr oft für die Ursache selbst gehalten, da ja vor allem der chronische Trinker erstaunlicherweise nicht immer als solcher erkannt werden muß. Spätere Historiker werden einmal — allerdings vergeblich — nach einer

Erklärung suchen, warum man in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts gegen die rapid zunehmende Trunksucht so gar nichts unternommen hat. Denn nicht einmal dann, wenn der Alkoholiker eine Katastrophe verursachte, trifft ihn das Gesetz in einer verdienten Weise. Und überall muß man mit Staunen registrieren, daß eine Mauer des Schweigens, der Duldung und sogar Fürsorge um jeden Trinker von seinen Angehörigen, Berufskollegen und anderen Mitmenschen errichtet wird. Man mag aber noch so sehr das Problem übergehen wollen, eine Konsequenz läßt sich nicht verschweigen, näm-ifch die mit der Zunahme der Trunksucht verbundene erhöhte Selbstmordziffer. Und so wie bei der Trunksucht der Lebensweg in die Irre führt, ebenso bewirken auch die anderen Suchtmittel die gleichen- Folgen. Es ist viel zuwenig bekannt, wie erbärmlich mit den sogenannten Weckaminen ein sehr anrüchiges Geschäft gemacht wird (auch wenn man sie als harmlose Entfettungsmittel anpreist), wie skrupellos manche Ärzte den Morphinismus fördern. Hier trifft man auf eine unbegreifliche Gleichgültigkeit und Toleranz. Auch der übrige Drogenkonsum, der eine rasante Zunahme zeigt, beweist mit aller Deutlichkeit, daß die Menschen die Realität der Umwelt nur durch den Dunstschleier des Alkohols oder der Chemikalien wahrhaben wollen. Tonnenweise werden heute in manchen Ländern das Phen-azetin, die Barbitursäure, die vegetativen Pharmaka und die vielen Tranquilizers verkauft. Die Konsumenten sind Menschen, die sich damit sozusagen noch gerade am Leben halten können. Und dann bei einer zusätzlichen Belastung endgültig zerbrechen.

HEILUNG VON INNEN

Halten wir mit aller Deutlichkeit fest: Mit der in unserer Generation unvorstellbar ausgeweiteten Möglichkeit, an allen nur möglichen irdischen Genüssen teilzuhaben, ging jede Transzendenz verloren. Hier, auf dieser Welt, will man einen möglichst hohen Lebensstandard erreichen und will überhaupt keine Verantwortung tragen, weder für die Mitmenschen noch für sich selbst. Man will das Dasein hier auf dieser Welt genießen, aber steigender Genuß bewirkt zunehmendes Unbehagen, und Sattheit macht verdrießlich. Bequemlichkeit ist kein positiver Daseinszweck, und die ungeheure Verbreitung der Neurosen in allen möglichen Varianten beweist auch dem politisch ganz einseitig Orientierten, daß eine komplette soziale Versorgung dem Menschen noch lange keine innere Sicherheit und Stabilität gibt. Das Fanal unserer Zeit sind die zunehmende Arbeitsunlust, die zunehmende Süchtigkeit, die rapide Verringerung der geistigen Interessen, das Verschwinden moralischer und ethischer Werte und als letzte Konsequenz aus allem die sprunghaft ansteigende Selbstmordzahl.

Man müßte viel mehr Wert legen auf eine innere Erziehung des Menschen, man müßte systematisch die Menschheit für die schwere Belastung durch die moderne Zivilisation vorbereiten, man müßte, wenn man schon die Verantwortung für eine politische Führung . übernimmt, diese auch tragen und jene Faktoren eisern bekämpfen, die des Menschen Persönlichkeit aushöhlen und ihn immer unsicherer machen. Denn ein Mensch, der nicht nur in der Befriedigung seiner Sinne den Zweck seines Daseins erblickt, der auch höhere Interessen besitzt und innerlich gefestigt ist, wird weniger selbstmordgefährdet .sein als der Neurotiker'sdete Jetztzeit. Seit jeher haben den Menschen Religion, Ethik und eine altruistische Lebenseinstel-lung Sicherheit und Halt gegeben„ aber der moderne Mensch möchte diese lästigen Attribute abschütteln zugunsten einer bequemen Befriedigung seiner Sinne.

Und wird dabei aller Dinge überdrüssig, lebensüberdrüssig...

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