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Das mühelose Leben

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Es ist wohl anzunehmen, daß die Politiker die vier Grundrechnungsarten beherrschen. Wenn aber Milliardenforderungen zur Finanzierung dės Versorgungsstaates erhoben werden, obgleich nicht die nötige Bedeckung dafür vorhanden ist, und wenn beispielsweise das durch Verkürzung der Arbeitszeit und durch Lohnerhöhungen reduzierte Volumen der zur Verfügung stehenden Arbeitsstunden nicht ausreicht, um die notwendigsten Arbeiten durchzuführen, trotzdem aber immer wieder neue Forderungen nach Verlängerung der Freizeit vorgebracht werden, dann . wird es notwendig, einmal gründlich nachzudenken. Denn ein ganz erheblicher Teil dieser mit demagogischem Elan vorgebrachten Forderungen versetzt weiteste Bevölkerungsmassen in taumelnde Begeisterung, die gegen jedes vernünftige Argument immunisiert. Und wer ein auch nur ganz oberflächliches kritisches Unterscheidungsvermögen erhalten konnte, wird unschwer erkennen können, daß hier ein Symptom des pathologischen Zeitgeistes vorliegt, das nicht ernst genug genommen werden kann. Denn die Auswirkungen gehen weit über all- fällige Rentenerhöhungen und steigenden Mißbrauch der Freizeit hinaus. Erkennt man nämlich die tatsächlichen Zusammenhänge, dann kann von der Illusion eines schöneren Lebens nichts mehr bestehen bleiben. Ganz im Gegenteil, die in rasantem Tempo vorangetriebene Änderung des Lebensstils muß schon in ganz kurzer Zeit bedenkliche Auswirkungen zeigen.

Leben heißt kompensieren

Zu den Kriterien des Lebens gehört neben der Fähigkeit des Stoffwechsels und der Fortpflanzung auch das sogenannte Anpassungsvermögen. Jede biologische Art mußte sich mit den Umweltbedingungen auseinandersetzen, und wenn die Fähigkeit zur Anpassung schwindet, dann kommt es zur Degeneration und zum Absterben. Auch der Mensch ist ihm unterworfen., und konnte in' dem erst relativ kurzen Zeitraum--Beines irdischen Daseins, mit allen Bedrohungen, wie Seuchen, Hunger, Naturkatastrophen und Klimaschwankungen, fertig werden. Denn der Homo sapiens ist mit einem ausgezeichnet funktionierenden vegetativen System ausgestattet, das ihm die Fähigkeit gibt, auch mit den härtesten Unbilden der Umwelt fertig zu werden. Doch müssen diese Funktionen ständig trai-

niert werden, da sie sonst verkümmern. Die Weltgeschichte bietet genügend Beispiele, welch außerordentlicher Belastung Menschen ausgesetzt werden können, ohne dabei ernstlichen Schaden zu erleiden.

In weiterer Folge liefert die medizinische Wissenschaft den einwandfreien Beweis, daß nur die Aufrechterhaltung aller körperlichen Funktionen die Gesundheit erhält, und es ist ja hinreichend bekannt, daß beispielsweise eine vierwöchige Bettruhe bei jugendlichen Menschen monatelange Kreislaufstörungen mit sich bringt. Jede einseitige Tätigkeit, das

Der Kult der Bequemlichkeit

Das Zauberwort heißt Bequemlichkeit. Es wirkt wie ein verheerendes Rauschgift und hat längst einen Großteil der gesamten Erdbevölkerung in seinen Bann geschlagen. Jede neue Erfindung, jede Entdeckung wird zunächst geprüft, ob sie nicht geeignet ist, dem Menschen ein paar Handgriffe zu ersparen. Ohne Unterbrechung steht der moderne Mensch unter dem Eindruck einer konsumierenden Propaganda, die ihm das mühelose Leben als einzig erstrebenswert hinstellt. Klimaanlagen sollen eine möglichst konstante Temperatur herbeiführen, Maschinen sollen jede, aber auch wirklich jede Tätigkeit übernehmen, und der moderne Mensch sieht in der völligen Bewegungslosigkeit das erstrebenswerte Ideal. Man fährt im Auto selbst bei den kleinsten Besorgungen, man benützt den Aufzug auch dann, wenn der Höhenunterschied lediglich zwei bis drei Meter beträgt, und wann immer auch ein Organgefühl sich regt, muß es sofort befriedigt werden. Der Gedanke an körperliche Ertüchtigung, an Askese oder Fasten für wenige Tage oder gar nur Stunden ist dem modernen Menschen unverständlich. Bequem soll das Leben sein, mühelos auf allen Ge- kiSÖWi nd Auf

gabe übernommen, die Ansprüche dieser Lebenshaltung zu befriedigen, und besorgt dies mit einer beängstigenden

Gründlichkeit.

Stillstand des Geistes

Die Anbetung des Götzen Bequemlichkeit erstreckt sich aber nicht nur auf den Körper. Man fördert den Kult der Mühelosigkeit und unternimmt nichts, um die erschreckende geistige Verflachung zu bekämpfen, die eine

Leben in klimatisch ständig gleichem Milieu, der ungenügende Wechsel in der Ernährung, die mangelnden Bewegungen des Körpers überhaupt füh- i ren in kürzester Zeit zu den schwersten Anpassungsschäden, deren Behebung mit zunehmendem Alter immer, schwieriger wird. Die Tatsache, daß Millionen Menschen an sogenannter vegetativer Dystonie leiden, die ja nichts anderes als eine Summe von Anpassungsstörungen ist, und gezwungen sind, durch Drogen aller Art das Leben selbst in seiner Gleichförmigkeit zu ertragen, ist ein geradezu beängstigendes Fanal!

ganz natürliche Folge der propagierten Bequemlichkeit ist. Weiteste Bevölkerungskreise kommen geistig einfach nicht mehr mit und lehnen jeden Ansporn der zerebralen Funktionen entschieden ab. Und so schwer es etwa ist, einem Trinker den Mißbrauch des Alkohols ausreden zu wollen, ebenso wäre ein Kampf gegen die Bequemlichkeit, dieses Rauschgift der technischen Zivilisation, vergeblich. Zumal sich damit ein treffliches politisches Geschäft machen läßt, so man auch die letzten Reste eines Verantwortungsgefühls ausschalten kann.

Ein Tag ohne Maschine

Seit urdenklichen Zeiten weiß man schon um die lebensfördernden Wirkungen der Enthaltsamkeit. Zeitweilig eingeschaltete Pausen im gewohnten

Lebensrhythmus, vorübergehende Drosselung der kontinuierlichen Nahrungszufuhr, bewußte Abhärtung durch Wind und Kälte sowie gelegentliche körperliche und geistige Anspannung bewirken ein Training aller Anpassungsfunktionen und geben dem Menschen die Sicherheit, allen Anforderungen gewachsen zu sein. Heißt leben soviel wie kompen-

sieren, dann ist der Wille zur Anpassung soviel wie der Wille zum Leben überhaupt! Und der Verzicht auf jede Anstrengung, der Wunsch nach Mühelosigkeit, nach körperlicher und geistiger Trägheit ist dann nichts anderes als Verzicht auf das Leben zugunsten primitiver vegetativer Lebensform. Damit verliert man aber jede Möglichkeit, Änderungen in der Umwelt zweckentsprechend zu registrieren und sich auch darauf einzustellen. Nur auf diese Weise läßt sich die völlig negative und selbstzerstörende Einstellung unzähliger Menschen erklären, die an sich in materieller Hinsicht vollkommen gesichert leben könnten.

Inmitten der technischen Zivilisation kann ein Tag ohne Maschine zur Besinnung und Abkehr von der rein materiellen Hetzjagd führen. Verzichtet man für 24 Stunden einmal in der Woche auf jeden technischen Fortschritt und versucht man, einmal ohne Auto, ohne Aufzug, ohne technische Kulisse auszukommen, dann wird man um ein Vielfaches die geistigen Funktionen anstrengen müssen. Dann wird sich aber auch zeigen, ob der Körper überhaupt noch lebensfähig ist, wenn er nicht die gewohnte Bequemlichkeit hat, und inwieweit man ein bereits willenloses Opfer der technischen Zivilisation geworden ist. Man wird, kann man tatsächlich einen

„Tag ohne Maschine“ durchführen, einen Schutz finden gegen das äußere hektische Treiben und zu einer inneren Sammlung kommen, die viele Menschen so dringend nötig haben. Man wird dann auch erkennen, daß es immaterielle Werte gibt, die erst den wirklichen Wert im Leben ausmachen und die man nicht durch Bequemlichkeit erwerben kann. Der Mensch unserer Tage bedarf einer zielstrebigen körperlichen und geistigseelischen Führung, soll er nicht im Strudel des Materialismus versinken, aus dem es keine Rettung mehr gibt.

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