Die verlorene Lebenslust

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Chronische Müdigkeit und Depressionen gelten für manche als die Leiden in unserer Überdruß-Gesellschaft. Sind wir unfähig zum Glück geworden?

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Chronische Müdigkeit und Depressionen gelten für manche als die Leiden in unserer Überdruß-Gesellschaft. Sind wir unfähig zum Glück geworden?

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Noch nie ist es uns so gut gegangen wie heute, und noch nie ging es uns so schlecht? Trotz Sparpaket und Pensionsdebatte, trotz steigender Arbeitslosigkeit und mangelndem Lehrstellenangebot - der Wohlfahrtsstaat steht noch (?) fest, unser Lebensstandard (und damit auch unsere Selbst-Entfaltungsmöglichkeiten) ist immer noch weit höher als der etwa unserer Großeltern, ganz zu schweigen von unseren östlichen Nachbarn oder gar der Dritten Welt.

Und dennoch, chronische Müdigkeit und Depression werden von Heiko Ernst (Psychologe und Chefredakteur der Zeitschrift "Psychologie Heute") als die Leiden unserer Überdrußgesellschaft diagnostiziert.

"Die klagende Klasse" (wie Wolf Leppenies die Intellektuellen als notorische Schwarzseher bezeichnet), macht für diese vor allem unter ihnen selbst grassierende Depression schon seit längerem den "Untergang des Abendlandes", den "Verlust der Mitte", sowie einen "allgemeinen Werteverfall" verantwortlich.

Und überhaupt sei der Mensch nicht zum Glück geboren, wie ja auch Freud im "Unbehagen an der Kultur" apodiktisch behauptete, besonders aber nicht der "höhere", das heißt der kreative, denkende Mensch.

Eine alte Behauptung, schon Vergil - oder war's Tacitus? - war überzeugt: glücklich sind nur Tiere und Toren. Und manchmal vielleicht die Kinder, weshalb dann die nostalgische Sehnsucht nach der Kindheit vor allem in der Romantik Mode wurde.

Meister im Klagen Wir heutigen Nachfreudianer wissen auch das schlechter, ist doch die Hölle unserer Kindheit die Ursache schlechthin aller gegenwärtigen, sich immer und immer nur wiederholenden Schmerzen. Andererseits - ohne Schmerzen kein Menschsein, jedenfalls kein höheres, weshalb viele, wenn nicht gar die meisten unserer ausgezeichneten Künstler (nein, keine Namensnennung) alle ihre Auas mit großer Andacht hätscheln: ein großes Aua macht auch einen großen Mann.

Beziehungsweise Frau, gerade die Literatinnen sind Meisterinnen im schönen Klagen, besonders, wenn es um die Anklage geht. Denn schuldig an allem Unglück sind ja immer nur die bösen Buben. Patriarchat und so. Und daß das Opfer nicht nur der ästhetisch höhere, sondern auch der moralisch bessere Mensch ist, hat in unserer leidens- und todessüchtigen Kultur bekanntlich ebenfalls eine lange Tradition; und auch hier gibt für uns wieder besonders die Romantik den Jammer-Ton an. (Die Klassiker waren da herber, da ging's noch um Selbst-Verantwortung, befriedigende Pflichterfüllung, gestirnter Himmel über uns und Sittengesetz in uns, und darin lag für sie das Menschen- vor allem aber das Männerglück.)

Doch - zum Glück? - die Zeiten ändern sich. Ich sage nur: Paradigmenwechsel, Wertewandel!

Nicht mehr nur Müh' und Arbeit macht das Leben süß (es gibt ohnehin bald nicht mehr genug für alle), und nicht nur melancholisches Gesehne den Menschen schön, erst recht aber nicht Leiden das Opfer per se auch gut - die Nachkriegsgeneration, vor allem aber ihre Kinder wollen endlich Genuß und Glück erleben, aber sofort.

Doch eben gerade daran hapert's. Wir haben keine Kultur des Genießens ausgebildet, geschweige denn eine der Lust. Genauso wie es uns an jeder echten Körper-Kultur mangelt, und der Körper ist immerhin mindestens das Vehikel selbst noch der vergeistigten Lust. (Das von manchen bis zum Fanatismus betriebene Bodystyling, gleich welcher Sparte, will ja nichts anderes, als dem body die vorgestanzte Form aufzwingen, die eine Barbiepuppenindustrie von ihm verlangt.) Von Kultur, die ja auch mit Kultus, mit Heiligkeit zu tun hat, kann keine Rede sein, eher von Fetischisierung und Vergewaltigung.

Denn wir lieben unsere Sinne nicht, sowenig wie unseren Körper, der die letzten Jahrhunderte lang ja ohnehin nicht viel mehr als ein "Sündenstiefel" galt. Wir haben kein Gespür für das, was uns gut tut. So taumeln wir im Überfluß gleich Überdruß zwischen extremer Völlerei und strengster Askese hin und her, nicht umsonst ist die Bulimie, die Freß-Brechsucht, die symptomatische Frauen-Krankheit unserer Zeit.

Männer leiden (bisher) meistens anders am ungeliebten Körper, ihre Exzesse schwanken immer häufiger zwischen Satyrismus (wenn auch nur im Kopf) und totalem sexuellen Desinteresse.

Die selbstverständliche Leibhaftigkeit des Göttlichen, wie sie sich auch noch im ursprünglichen Christentum ausdrückte, haben wir, von der Geist-Macht Besessenen, uns ja gründlich abtrainiert; die glückverheißende Einheit von Geist, Seele und Körper ist vom modernen Maschinenmenschen zugunsten eines technisch machbaren Vollkommenheits-Ideals auf den Müllhaufen des Aberglaubens geworfen worden.

Und dieses unmenschliche Vollkommenheitsideal beherrscht uns trotz Paradigmenwechsel auch heute noch. Kaum eine(r) ist sich selbst jemals gut genug, was unabdingbare Voraussetzung für jedes Menschenglück wäre.

Es war wieder einmal C. G. Jung (der nicht umsonst heute eine enorme Rezeption erfährt), der den Vollkommenheitsanspruch vom männlich orientierten Geistideal ableitete. Und ihm das weiblich lebensbejahendere Ideal der Vollständigkeit entgegenstellte. Als Rettung aus der Selbst-Entfremdung. Nicht eine immer weiter getriebene, ohnehin niemals ganz erreichbare Perfektion kann den Menschen, gleich ob Mann oder Frau, auf dieser so wunderbar unvollkommenen Erde glücklich machen. (Peinliches Resultat dieses Strebens war der Fachidiot, genial vielleicht auf einem einzigen Gebiet, inkompetent überall sonst.) Vollständigkeit aber, individuelle, real lebbare Ausbildung aller menschlichen Rollen und je nach Möglichkeiten dieses einzelnen in all seiner liebenswürdigen Unvollkommenheit, dieses im Grunde mütterliche Ideal wird von der boomenden Psycho-Bewegung als wesentlich glückversprechender angesehen.

Das Ende der Ideale?

Doch nicht nur das. In Zeiten der radikalen Veränderungen, vor allem auch im beruflichen Sektor, wird die Fähigkeit, flexibel von einer Rolle zur anderen zu wechseln, zunehmend überlebensnotwendig. Wer heute als Manager anfängt, arbeitet morgen vielleicht als Sozialarbeiter und umgekehrt und in drei Jahren wieder als was anderes; nicht mehr höhere, lebenslang konsequent verfolgte Ideale sind heutzutage gefordert, sondern realisierbare und jederzeit den verschiedensten Bedingungen anpaßbare, flexible Ideen.

Kein Wunder, daß auch die Stoiker wieder eine Renaissance erleben, die praktisch orientierten Philosophen des Glücks (besonders beliebt unter den Konstruktivisten und den an ihnen orientierten PsychoLogikern).

Mihaly Csikszentmihalyi, der in seinem Werk "Flow" einmal mehr die Frage nach dem Glück zu beantworten versucht, zitiert nicht umsonst immer wieder Epiktet, einen Mann, der es wissen mußte. Ehemaliger Sklave, der sich im wahrsten Sinne frei gedacht hatte, sein Herr mußte schließlich den berühmt gewordenen, auch von Kaiser Hadrian hoch verehrten Philosophen aus der Sklaverei entlassen. Grundsatz seines Denkens, den jeder heutige Konstruktivist unterschreiben würde: "Nicht die Gegenstände, sondern unsere Meinungen, die wir uns von ihnen machen, sind Ursache unseres Glücks und Unglücks."

Und dort beginnt ja auch unsere Freiheit (wenn's nicht überhaupt die einzige wahre Freiheit ist, die wir haben), bei den Gedanken, die wir uns selbst machen.

Doch auch das ist etwas, worin wir uns erst schulen müssen (oft geht's nur mit professioneller Hilfe), Selbst-Ver-Antwortung für unsere Gedanken und damit auch für unser Glück zu übernehmen. Denn die Freiheit von althergebrachten Normen, Glaubenssätzen, Rollenbildern, die uns Heutigen, ob wir wollen oder nicht, aufgegeben ist, verunsichert und macht auch angst.

Daß in dieser Freiheit dann auch ein ganz neues Glück und eine vielleicht noch unbekannte Lust entdeckt werden könnte, das müssen wir erst noch ausprobieren und erfahren. Und damit uns selbst und auch anderen erfahrbar machen. Also, Sie können wählen; frohes Schaffen?

Die Autorin ist Lebens- und Krisenberaterin sowie psychologische Karriereberaterin, Kreativtrainerin und Schriftstellerin.

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