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Biologie und Ethik

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Pflanze, Tier und Mensch unterliegen infolge ihres zelligen Aufbaues und der dadurch bedingten grundsätzlichen übereinstimmenden körperlichen Organisation gewissen gleichen Gesetzlichkeiten, die es gestatten, innerhalb dieses Bereiches nach Parallelen zu suchen und Vergleiche anzustellen. Für die biologische Forschung sind solche Parallelen ungemein wertvoll. Werden aber auf Grund bloßer äußerlicher Ähnlichkeiten bewußte Handlungen des Menschen in Parallele zu rein vegetativen Vorgängen anderer Lebewesen gesetzt, so bedeutet dies nicht nur eine grobe Oberflächlichkeit und Verfälschung der Tatsachen, sondern gleichzeitig auch eine ganz ernstliche Gefahr, besonders wenn daran Schlußfolgerungen von größter Tragweite geknüpft werden. Infolge einer biologischen Vorbildung können wir solche Einstellungen aber alltäglich erleben, und dies gehe so weit, daß Einrichtungen oder Verrichtungen von Pflanzen und Tieren dem Menschen sogar als Vorbild und nachahmenswertes Beispiel empfohlen werden. Die meisten sind sich anscheinend dessen gar nicht bewußt, welche Herabwürdigung des Menschen dies bedeutet, und noch weniger, was für Folgen sich daraus ergeben.

Von allen menschlichen Handlungen und Institutionen müssen wir fordern, daß sie den Grundsätzen der Ethik entsprechen, daß sie durch die seelischen Kräfte des Menschen gesinnungsmäßig bestimmt werden und daher von einem höheren Wert, Sinn und Zweck erfüllt sind. Der Pflanze und dem Tier müßten wir daher, wenn sie uns tatsächlich Vorbild sein“ können, entweder ein gleiches Ethos zubilligen oder aber dem Menschen jede edlere und höhere Gesinnung absprechen. In beiden Fällen bedeutet dies eine grundsätzliche Gleichstellung von Pflanze, Tier und Mensch. Die menschliche Seele wäre dann auch nichts Übernatürliches mehr, sondern nach materialistischer Auffassung nur eine bestimmte, dem Lebewesen Mensch eben eigentümliche Erscheinungsform seines Lebens; alle Lebewesen würden dann in allem der gleichen Gesetzlichkeit unterliegen und sich nur graduell durch ihre Organisationsstufen voneinander unterscheiden. Vorstellungen dieser und ähnlicher Art haben schon soviel Unheil auf dieser Welt angerichtet. Aber selbsc vielen Biologen ist anscheinend noch immer nicht klar, daß eine wissenschaftlich nicht zu rechtfertigende, allzu antro-pomorphe Behandlung biologischer Probleme viel Schuld an dieser Entwicklung trägt.

Im Jahre 1882 erschien von dem damaligen Breslauer Botaniker Ferdinand Cohn unter dem Titel „Die Pflanze“ eine Sammlung von Vorträgen, von denen sich einer mit dem „Zellenstaac“ befaßt. In diesem wird die Organisation der Pflanze und ihr Aufbau aus verschiedenen Einheiten in Parallele zu einem menschlichen Staatengebilde gebracht und versucht, das Leben der Pflanze durch den Vergleich mit einem Staatsorganismus und seinen Bürgern anschaulich und verständlich zu machen. Diese Idee war keineswegs neu, denn schon vorher haben zum Beispiel Herbert Spencer (1874, 1876) oder A. G. F. Schaeffle (1878) den Versuch unternommen, Entwicklung und Wechselbeziehung der menschlichen Gesellschaft durch den Vergleich mit einem lebenden Wesen und seinen Zellen zu erklären. Aber durch das Buch von Cohn, das im Jahre 1896 eine zweite Auflage erlebt hat, wurde dieser Gedanke einer Gleichwertigkeit von Zellen- und Menschenstaat in weitere Kreise hinausgetragen. Bei dem Anseilen, das die Biologie gerade in dieser Zeit ihrer stürmischen Aufwärtsentwicklung allenthalben genoß, hatte sie bei der Meinungsbildung in der breiten Masse schon ein gewaltiges Wort mitzusprechen.

Das Thema Zellen- und Menschenstaat ist in der Folgezeit auch tatsächlich nicht mehr von der Bildfläche verschwunden und in popularisierenden Schriften und Vorträgen in unzähligen Varianten abgewandelt worden, wobei dem Zellenstaat je nach der persönlichen Einstellung die verschiedensten Deutungen gegeben wurden: Er kann dem Pazifisten ebenso als Vorbild dienen wie dem Militarismus, und der totalitäre Staat kann in ihm ebenso leicht sein getreues Spiegelbild finden wie der soziale Staat die Verwirklichung seines Ideals „Einer für alle, alle für einen“. Schon dies muß zu denken geben.

Rein biologisch betrachtet, ist Organisation und Entwicklungsgang einer Pflanze durch die Gene vorgezeichnet; diese stempeln das Zellgefüge zu einem ganz bestimmten Organismus. Die einzelnen Zellen besitzen in der Jugend wohl die gleichen Entwicklungspotenzen, ihre freie Entfaltung ist aber unmöglich, da jeder Zelle durch ihre zwangsläufige Einordnung in den Gesamtplan die zu dessen Verwirklichung notwendige Differenzierung und Spezialisierung . vorgezeichnet ist. Sie wird auf Grund ihrer topographischen Lage zu bestimmten Entwicklungsrichtungen gezwungen. Die Beziehungen, die die einzelnen Zellen und Gewebe gegenseitig in bestimmte Bahnen drängen, sind stofflicher Natur. Die stofflichen Impulse für den Gesamtplan gehen unzweifelhaft von den Erbanlagen aus, für seine Verwirklichung im einzelnen erfolgt Impuls und Realisierung vielfach nur in ganz bestimmten Zellen und Geweben. Zellen, die ihre Aufgabe erfüllt haben, sterben ab, werden zerdrückt oder abgestoßen. Aber auch lebende Zellen können letzteres Schicksal erleiden. Hinsichtlich Ernährung und Wasserversorgung strebt jede Zelle dem für sie auf Grund ihrer Organisation erreichbaren Optimum zu. Sie reiße ohne Rücksicht auf ihre Nachbarn von dem lebenswichtigen Wasser stets so viel an sich, als sie durch ihre Saugkraft dazu befähigt ist. Im Zellenstaat daher einen naturgegebenen Altruismus suchen oder gar finden zu wollen, ist eine biologisch unmögliche Denkkonstruktion. Im Gegenteil ist jede Zelle der Typus eines nicht mehr steigerungsfähigen, naturgegebenen Egoismus, der aber gesinnungsmäßig nicht gewertet werden kann. Dieser Egoismus befähigt die einzelne Zelle zu Höchstleistungen innerhalb des über den Partikularismus dominierenden Gesamtplanes.

Kann nun so ein Zellenstaat wirklich mk der menschlichen Gesellschaft verglichen werden oder ihr gar als Vorbild dienen? Als warnendes und abschreckendes Beispiel woM, als Vorbild aber niemals! Denn diese seelenlose Staatsform kennen wir bereits zur Genüge und wollen sie im Interesse der Mensch1 heit nicht mehr erleben. Einem Gesamtplan, dessen einziges Ziel ebenso wie bei der Pflanz nur dessen Verwirklichung ist, werden die Bürger als kleine Räder einer allmächtigen Staatsmaschinerie untergeordnet, denn der Staat isc alles, der einzelne gilt nichts. Die Sorge des Staates um Nahrung, Obdach, Kleidung, Unterhaltung und Zerstreuung gilt nicht dem Bürger an sich, sondern nur der Steigerung seiner Arbeitskraft und Leistungsfähigkeit; die menschliche Seele mag dabei verdorren und verkommen. Religion ist daher nur gefährlich, denn sie bleibt stets der unbequeme Rufer und Mahner gegen die Vergötterung des Staates und seiner Lenker. Deshalb auch die Förderung antireligiöser Strömungen und der Gotdosenbewegung. Denn ihres sittlichen Haltes beraubte Menschen lassen sich leichter nach Gutdünken lenken und sind willkommene skrupellose Werkzeuge.

Ganz folgerichtig muß ein solcher Staat auf diese tiefe Stufe sinken; sobald eben der Mensch seine Seele verleugnet, vermag ihn nichts mehr über Pflanze und Tier emporzuheben; denn für sie alle gelten dann die gleichen Gesetze. Niemals dürfen wir uns dieses Bild durch den Glanz des erreichten Zieles trüben lassen; denn so wie das Produkt des Zellenstaates nach außen hin in vollendeter Form vor unser Auge tritt, so kann auch ein Staat durch Sklavenarbeit zu äußerem Glanz und äußerer Macht gelangen. Auch die Cheopspyramiden staunen wir als Weltwunder an und doch klebt an ihnen das Blut von Hunderttausenden.

Hat uns der Zellenstaat als Vorbild menschlicher Staatengebilde enttäuscht, so kann uns vielleicht in dieser Hinsicht das Zusammenleben der Planzen nebeneinander und miteinander Wegweiser und Richtschnur sein. Aber auch hier werden wir eine — noch größere — Enttäuschung erleben. Harmonisch wirken zwar die einzelnen Pflanzenbestände auf uns; Ruhe und Frieden strahlt die blumige Farbenpracht einer Wiese aus, Geborgenheit umfängt uns, wenn wir den kühlenden Schatten des

Wald betreten. Und weil wir ruhelose und gehetzte Menschen in dieser Natur sooft unser Gleichgewicht wieder finden, übertragen wir alle diese menschlichen Gefühle und Empfindungen nur zu leicht auf die uns umgebende Natur selbst und verfälschen sie dadurch in einem unbiologischen Sinne. Denn im ruhigen Wald wie auf der friedlichen Wiese tobt ein ständiger erbittertster Kampf ums Dasein, ein Kampf um Licht, um Wasser, um Boden und um Raum, und wenn die Pflanzen mit menschlichen Empfindungen ausgestattet und mit Stimmen begabt wären, so wäre die Natur erfüllt von einem niemals endenden erschütternden Klagen, Stöhnen and Röcheln, von Siegesgeheul und Zom-gebrüil! dahinsiechender und sterbender, sich wehrender und aufbäumender, unterliegender und triumphierender Lebewesen. Denn Jede Pflanze lebt auch in dieser scheinbaren Gemeinschaft nur für sich, entsprechend dem ah Urtrieb in jeder von ihnen verankerten Egoismus, der stärksten Waffe in diesem rücksichtslosen Kampf ums Dasein. Gemeinsam hat die Pflanzengesellschaft tnh der menschlichen Gesellschaft nur die unglückselig gleichgewählte Bezeichnung „Gesellschaft“ und der sich damit beschäftigende Wissenszweig die Bezeichnung „Soziologie“. Sonn aber haben sie nichts gemein, denn üKrem Wesen nach sind sie grundverschieden. Und trotzdem haben wir die Verirrung menschlichen Geistes erleben müssen, daß eine Weltanschauung das biologische Geschehen ab Grundlage und Richtschnur für ihre Handlungen genommen hat, um dadurch dem rflcksichtslosen Kampf ums Dasein, der Ausrottung des Schwachen, der Ausmerzung des Kränklichen und der Vernichtung jedes inneren und äußeren Gegners mit allen zu Gebote stehenden Mitteln nicht nur Begründung und Rechtfertigung, sondern sogar noch eine Gloriole geben zu können. Nur blieb es dabei dem Menschen vorbehalten, nachdem er sich selbst an Pflanze und Tier angeglichen und damit seiner Seele und seiner Menschenwürde entkleidet hatte, noch tief unter Pflanze und Tier zu sinken. Denn diese töten nicht, um zu töten, und quälen nicht, um zu quälen; sie kämpfen nur um ihrer Selbsterhaltung willen und ihre Beziehungen zur Umwelt lassen sich mit keinem ethischen Maßstab messen. Aber was in Vergangenheit und Gegenwart Menschen ihren Mitmenschen, von keinem Kampf ums Dasein dazu genötigt, an körperlichen und seelischen Leiden und Qualen angetan haben, das hat noch niemals eine Pflanze oder ein Tier seinesgleichen getan.

Außer diesen Pflanzengesellschaften gibt es noch viel engere Beziehungen von Lebewesen untereinander, indem zwei ganz heterogene und auf verschiedensten Entwicklungsstufen stehende Organismen in engster körp“rlidier Berührung miteinander leben und scheinbar eine Einheit bilden. Diese Symbiosen sind im Pflanzen- und Tierreich sehr verbreitet und haben immer wieder zum Vei gleich mit dem engeren Zusammenleben von Menschen herausgefordert; ein sehr beliebtes Thema popularisierender Darstellungen. Danach leben die beiden Partner nicht nur miteinander, sondern sollen sich noch gegenseitig fördern und ergänzen, was der eine an Nahrung und Wasser nicht hat, bietet ihm freigiebig der andere; ja er gibt ihm noch Behausung und Schutz dazu und so formte sich bei vielen die Vorstellung von einem Altruismus in der Natur von so vorbildlicher und nachahmenswerter Art, daß die Symbiose dem Menschen als Vorbild in der Ehe, in der Familie und in der Gesellschaft hingestellt wurde.

Die biologische Auffassung über die Symbiose ist aber anderer Art. Die Symbiose beginnt stets mit einem Angriff, setzt sich vielfach mit einem labilen Gleichgewichtszustand der beiden Partner fort, wobei diese sich gegenseitig ausnutzen, und endet oft mit der völligen Vernichtung des einen oder des anderen. Der berühmte Schweizer Botaniker A. Frey-Wyssling hat in seinem Buche „Ernährung und Stoffwechsel der Pflanzen“, Zürich 1945, in treffender Weise zu der noch immer weitverbreiteten und völlig abwegig a altruistischen Auffassung des Symbiose-Problems Stellung genommen: „In Tat und Wahrheit verhält es sich jedoch anders. Der Altruismus ist eine Forderung der menschlichen Ethik, der die Menschheit wegen ihres naturgegebenen Egoismus nur sehr unvollkommen nachzukommen vermag. Es ist eine Verme-senheit, wenn man die Bemühungen zur Verwirklichung des schwer erreichbaren Zieles unserer Ethik, wofür sich jeder mit seiner ganzen sittlichen Stärke einsetzen sollte, als einen Urtrieb der Natur hinstellen will. Wenn so etwas vorkommen würde, müßten wir nicht den Kampf ums Dasein als Grundlage des pflanzlichen und tierischen Lebens feststellen und die vielen sozialen Kämpfe und Kriege der Menschen als Naturkatastrophe erleben.“ “

Es ist ein folgenschwerer Fehler der Biologie, daß sie äußerlich ähnliche, ihrem ganzen Wesen nach aber grundverschieden Vorgänge und Erscheinungen mit gleichen Namen belegt und sie dadurch einebnet. Anstatt Klarheit zu schaffen, schafft sie so Verwirrung und trägt oft unbewußt ein nicht geringes Maß Schuld an manchen aktuellen Irrtümern und Irrlehren. Denn von der breiten Masse, die gläubig aufnimmt, was der Berufene ihr vorsetzt, ist eine feinere Abstufung und Differenzierung solcher Begriffe nicht zu verlangen. Im besonderen Maße gilt dies für den Begriff der Seele, der vielfach unterschiedslos für alle Lebewesen angewendet wird. Auf der einen Seite fühlt der Mensch, daß er sich durch ein gewaltiges Plus von Pflanze und Tier unterscheidet und auf der anderen Seite bemüht er sich krampfhaft, sich diesen gleichzusetzen. In diesem Zwiespalt, diesem Kampf des Körpers gegen den Geist, hat die Biologie dem Menschen bisher nur wenig geholfen; im Gegenteil 1 In der jüngsten Vergangenheit hat sie ihn darüber mit den „gleichen biologischen Gesetzlichkeiten“, denen all Lebewesen zwangsläufig unterliegen sollen, hinweggetäuscht. Aber ebenso gefährlich ist der Versuch, dem Menschen auf eine andere Weise seine Seele rauben zu wollen. Auch der eingefleischte Materialist kann nicht hinwegleugnen, daß der Mensch den anderen Lebewesen doch etwas voraus hat. Das als übernatürlich gelten zu lassen, bringt aber seine Weltanschauung ins Wanken. Deshalb werden nun alle Lebewesen beseelt und selbst dem Einzeller wird schon eine „Seele“ zugeschrieben. Diese Seelen verschwimmen vor der kritiklosen Masse zu einem gemeinsamen Begriff, und unwillkürlich formt sich daraus die Vorstellung von einer Wesensgleichheit alller Seelen; nur allzu folgerichtig muß diese falsche Prämisse schließlich zur Vorstellung einer scheinbaren Entwicklungsgeschichte der menschlichen Seele führen.

Leugnen wir aber die besondere Natur der menschlichen Seele, deren Kräfte nur den menschlichen Handlungen Sinn und Wert verleihen, wodurch sich eben der Mensch klar von Pflanze und Tier scheidet, so müssen wir daraus auch die vollen Konsequenzen ziehen. Es gelten dann für den Menschen die gleichen Gesetzlichkeiten wie für Pflanze und Tier und das höchste Gebot der Menschheit: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“, hat dann unter den Menschen keinen Platz mehr. Dann ist es besser, den „ewigen Gesetzen der Natur“ zu folgen, den naturgegebenen Egoismus als Mittel zur Erreichung des Heiles der Menschheit zu wählen, deren Ausrottung und Vernichtung dann nicht mehr lange auf sich warten lassen wind.

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