6548127-1947_26_12.jpg
Digital In Arbeit

Neue Forschungen und Erkenntnisse der Biologie

Werbung
Werbung
Werbung

Die unerwartet tiefen Einblicke in den Aufbau der Materie, welche sich leider zunächst nur in der Erfindung neuer Vernichtungsmittel ungeheuersten Ausmaßes ausgewirkt haben, mußten notwendig auch in der Biologie zu neuen Versuchen, Ergebnissen und noch größeren Erwartungen führen. Denn mit dem ganzen, der atomistischen Weltanschauung eigentümlidicn Geist der Zersplitterung ist stets auch die Meinung verbunden gewesen, daß es schließlich nur von der Schärfe unserer Beobaditungen, von der Zerlegungskraft unserer Instrumente abhängt, ob wir den letzten Sdileier vom Geheimnis des Lebens lüften können.

Obwohl das Mikroskop schon einige Jahrhunderte im Dienste der biologisdien Forschung mit immer wachsendem Erfolg angewendet wird, so ist es doch noch gar nicht so lange her, seit wir nicht nur die „Wunderwelt der kleinsten Lebewesen“, sondern die mindestens ebenso wunderbare Welt des Feinbaues der Körper aller Organismen kennen lernten. Hiezu genügt das optische Instrument allein noch nidit, sondern es mußte erst die ganze komplizierte Technik der Vorbereitung des Präparats ausgearbeitet werden, bis es so weit war, daß man die stärksten Vergrößerungen überhaupt in Anwendung bringen konnte. Eine ganze Reihe von chemischen Reaktionen der einzelnen Elemente des Aufbaues mußte erst entdeckt werden, bis es gelang, dem Auge des Mikro-skopikers ein Bild zu bieten, das ihm gestattet, sich über die Zusammensetzung der einzelnen Körperteile, der Haut, des Muskels, der Nerven und Sinnesorgane, des Darms und aller der vielen Drüsen ein Urteil zu bilden.

Seither ist nun die Auflösung des von den — inzwischen zur Höchstleistung vervollkommneten — Linsen des Mikroskops entworfenen Bildes immer weiter, man kann sagen, bis zur Grenze des Erreichbaren fortgeschritten, aber der vielleicht hier und dort noch gehegte Glaube, daß man mit der stärksten „Immersion“ endlich doch werde sehen können, wo das Leben steckt und was es ist, ist wiederum in nichts zerflossen. Wie es aber so oft in der Wissenschaft und Technik gegangen ist, die ehrliche Arbeit so vieler Forscher hat ihre Früchte gebracht: nicht auf diesem Gebiet phantastischer und unwissenschaftlicher Wunschträume, sondern auf dem der Vererbungsforsdiung und der Biodiemie.

Kaum ein wissenschaftlicher Begriff ist sosehr Allgemeingut geworden, wie der — aus einem Mißverständnis des geschauten Bildes ursprünglidi gebildete — Zellenbegriff. Die Zelle als kleinste Lebenseinheit, als Inbegriff des Wachstumszentrums, als Keimzelle künftiger Entfaltung ist eine uns allen wohlbekannte Vorstellung, und man bedenkt es meist nicht, weiß es wohl oft audi gar nicht, woher dieser Name, dieser Begriff kommt. Für die Biologie war die Zellentheorie,''Hie gegen Ende des vorigen Jahrhunderts aufgestellt worden ist, eine grundlegende Tat, welche uns erst das richtige Verständnis der meisten Lebensvorgänge, die sich ja fast alle an Zellen abspielen und von der Zellorganisation bestimmt werden, verschafft hat. War man aber damals mit der Feststellung des Vorhandenseins dieser kleinsten Bausteine der lebenden Körper und ihrer grundsätzlichen Gleichwertigkeit bei allen Organismen, Tieren und Pflanzen und auch den einfachsten unter ihnen, wo diese Unterscheidung ihre Bedeutung verliert, den Urtierdien, Protozoen, Einzellern bereits am Ende, so lehrte die weitere Forsdiung, daß auch den Teilen dieser Gebilde eine große Bedeutung zukomme und die anfangs als Detailkrämerei bespöttelte Feststellung der minutiösen Vorgänge bei der Vermehrung der Zellen wurde mit einem Schlage zur Grundlage des Aufbaues der modernen Vererbungslehre.

Die ungeheure Bedeutung der Entdeckung jener feinstrukturellen Vorgänge, die den wissenschaftlichen Namen „Mitose“, das heißt Fadenbildung, tragen, lag darin, daß sich in ihnen die materielle Grundlage der dem Züchter seit dem'bahnbrechenden Werk Gregor Mendels die wertvollsten Dienste leistenden Vererbungsgesetze feststellen ließ. In dem zunächst unscheinbaren, an den normalen Lebensverrichtungen der Zelle scheinbar gänzlich unbeteiligten Kern derselben treten zur Zeit der Fortpflanzung, der Zellteilung, fädige, oft aber auch körnchenförmige Gebilde auf, welche nach ihrem Verhalten in der Färbetechnik des Mikroskopikers den Namen Chromosomen, Farbkörperdhen, erhielten. Bald erkannte man, daß ihre Zahl und Gestalt bei jeder Organismenart bestimmt ist, daß sie trotz ihres sdieinbaren Verschwindens zwisdien den Zellteilungen doch immer wieder in gleicher Gestalt und Zahl hervortreten, daß sie bei der Befruchtung von beiden Eltern dem Ei übergeben werden, daß also jeder Organismus in jeder seiner Zellen ein Erbteil von seinem väterlichen, ein zweites gleich großes von seiner mütterlichen Vorfahrenreihe trägt und daß ein ebenso komplizierter, wie verläßlich arbeitender Mechanismus besteht, welcher die gleichmäßige Verteilung dieses Erbgutes auf jeden Nachkommen gewährleistet. Verbesserung der Präpariertedinik, glückliche Entdeckungen besonders günstiger Objekte und ein eiserner Fleiß der Forscher hat Schritt für Schritt die Ergebnisse dieser Analyse der Feinstrukturen mit denen der Züchtung und praktischen Vererbungsforschung in Einklang gebracht. Aber noch war es nicht möglich, das eigentlich beweisende Experiment zu madien. Man wußte zwar, daß alle bisherigen Erfahrungen mit der Annahme in Einklang zu bringen sind, daß kleinste Körnchen, welche längs der Chromosomenfäden angeordnet sind, die Träger der Erbanlagen sind, für welche die Vererbungsforschung den Namen „Gene“ geprägt hatte. Aber die winzige Größe dieser Körnchen gestattete es nicht, an sie selbst mit dem Experiment heranzukommen, ohne dabei die Zelle zu zerstören und damit die Wirkung des Eingreifens, auszulöschen.

Auf diesem Punkte hat nun die neue Atomphysik mit ihren experimentellen Methoden auch der Biologie das Tor zu neuen Forschungen und Erkenntnissen geöffnet. Dieselben Mittel, welche zur Atomzertrümmerung und schließlich zur Atombombe geführt haben, wurden von Seiten der Biologen zur weiteren Erforschung der Vererbungsvorgänge eingesetzt. Es gelang zunächst mittels der Anwendung des Elektronenmikroskops, die Größenordnung jener Teildien festzustellen, welche wir als Gene bezeichnen dürfen; diese liegt ungefähr in dem Gebiet der Eiweißmolekel. Durch die Verwendung derselben Elektronenstrahlen gelang es aber dann auch noch, die Strukturen im Bereiche der Chromosomen zu treffen und einzelne jener Körnchen, welche sich an den Chromosomen finden, die sogenannten Chromomeren, derart zu verändern, daß sich im weiteren Verlauf der Entwicklung eine Gestaltsänderung herausstellte. Die neueste Tedinik hat somit die Möglidikeit eröffnet, an die Erbsubstanz heranzukommen, ohne die Zelle zu zerstören, so daß also aus der durdi die Bestrahlungen veränderten Keimzelle der Organismus gezogen werden konnte, der sich auch sonst entwickelt hätte. Welche weitreichenden Möglichkeiten sich aus dieser neuen Eingriffsmöglichkeit für die Forschung und in ferner Zeit vielleicht auch einmal für die Praxis ergeben werden, läßt sich mehr ahnen, als voraussagen.

Neben diesen erfreulidien Resultaten neuester Forschungen hat sich aber auch in der Mikroskopie an sich eine neue Methode der Beobachtung entwickelt. Wie schon erwähnt, ist es mit der einfachen Herstellung der vergrößernden Apparate allein nicht getan. Es muß vielmehr auch das zu beobachtende Präparat einer oft sehr umständlichen, immer große Sorgfalt erfordernder Behandlung unterzogen werden, die meist in der Behandlung mit verschiedenen Chemikalien besteht, welche das Präparat färben. An der verschiedenen Farbe, welche die einzelnen Substanzen annehmen, kann man sie erkennen und unterscheiden, aber die Methode hat den großen Nachteil, daß sie nicht anwendbar ist, ohne den Organismus zu schädigen, meist zu töten. Lange schon hat man gelernt, den Feinbau des Körpers nicht nur an in feinste Scheibchen zersdinittenen Organen zu studieren, sondern an Kulturen lebenden Gewebes. Bei niederen Tieren war die zunächst überraschende Feststellung zuerst gemacht worden, daß der Tod eines Individuums nicht zugleich schon zur selben Zeit das Absterben aller seiner Teile bedeutet. Der Sdiwanz der Eidechse, der dem ungeschickten Fänger oft statt der Beute in der Hand bleibt, zuckt nodi einige Zeit lebhaft hin und her, das Herz, das einem frisch getöteten Frosch entnommen wurde, schlägt noch lange Zeit ohne Verbindung mit dem Körper weiter, die feinen Wimpern der Schleimhäute bewegen sich selbst abgetrennt von ihren Zellen. Besonders Teile von Embryonen erweisen sich als äußerst lebenszäh, wenn ihnen die nötige Nahrung, Atmung und Temperatur geboten wird. So hat sich die Technik der Gewebskultur „in vitro“ im Glasschäldien und auf dem Objektträger des Mikroskopikers entwickelt, die uns zu sehr wichtigen Ejnblicken in das Leben der Zelle und Gewebe verholfen hat. Doch auch hier gilt die Schwierigkeit, daß ohne Färbung die feinsten Einzelheiten nicht zu erkennen waren, durch Anwendung derselben aber die Kultur gestört, wenn nicht zerstört wurde. Hier ist nun in letzter Zeit eine neue Technik der Lichtbehandlung ausgearbeitet worden, die bei Ausfall der optischen Werke Deutschlands nunmehr in England und Amerika weiterentwickelt wird. Es ist das sogenannte Phasendifferenzmikroskop, welches ohne chemische Behandlung feinste Strukturen siditbar macht.

Bekanntlich zeigt der Lichtstrahl die Eigenheiten einer Wellenbewegung, also rhythmische Schwankungen um eine Mittellage, welche sich in einzelne Bewegungsphasen zerlegen lassen. Bei Durchtritt durch optisch ungleich durchlässige, dichtere oder dünnere Substanzen oder Medien werden diese Bewegungen gestört, was sich als Lichtbrechung zeigt. Legen die Lichtstrahlen in den störenden Medien verschieden lange Strecken zurück, wie dies bei senkrechtem oder schrägem Durchgang der Fall ist, dann treten sie nicht mit derselben Phase der Wellenbewegung aus. Durch geeignete Anwendung von Blenden und Beleuchtungsapparaten läßt sich dieser Phasenunterschied als Helligkeitunterschied siditbar machen. Dieser optische Kunstgriff gestattet nun das Erkennen von Strukturen besonderer Lichtbrechung an der ungestörten lebenden Zelle der Gewebskultur. In England wurden in diesem Jahre bereits die ersten derartigen Filmaufnahmen von lebenden Gewebskulturen gezeigt und die Kongreßteilnehmer konnten die überraschende Klarheit der Bilder bewundern, welche von den feinsten Strukturveränderungen in den lebenden Zellen gewonnen worden waren. Man sah die Vorgänge in den Kernen der sich teilenden Zellen, jene Chromosomen und ihre Verteilung so gut, wie auf den besten mittels der Färbetechnik erzielbaren Präparaten. Man konnte lebende Phagozyten, Freßzellen des Organismus, aus einem Embryonalgewebc beobachten, wie sie sich der Bakterien bemächtigten, welche an die Kultur heran-gebradit worden waren. Es handelt sich dabei um ein medizinisch höchst wichtiges Phänomen: in vitro gezüchtetes Lungengewebe aus einem Hühnerembryo mit seinen Phagozyten wurde einer Infektion mit Tuberkelbazillen ausgesetzt. Wie die Ameisen aus einem gestörten Haufen brachen die Freßzellen in Schwärmen aus dem Gewebe hervor, stürzten sich wie der hungrige Wolf des Märchens auf die Bakterien und verschlangen sie. Durch Anwendung der Zeitraffermethode, welche sehr langsame Bewegungen für den Betrachter rasch ablaufen macht, hatte dieser Kampf der Verteidiger des embryonalen Gewebes gegen dessen Todfeinde eine geradezu dramatische Note. Mit Recht konnte der Vorführende abschließend sagen, daß mit der Gewinnung dieser neuen Methode der Sichtbarmachung subtilster Lebensvorgänge ein neues Zeitalter der Gewebskultur und Gewebsforschung angebrochen sei. Auch auf diesem Gebiet sind die größten und für die Menschheit segens-reidisten Ergebnisse noch zu erhoffen.

Während es auf diesem Gebiete der Lebendbeobaditung darauf ankam, die diemische Beeinflussung als schwere Störung soweit als möglich auszuschalten, hat sidi daneben gerade die chemische Untersuchung der Zelle und ihrer Bestandteile zu neuen Erfolgen und Erkenntnissen emporgearbeitet. Das den ersten Beobachtern durch ein starr festgehaltenes, bei Tier und Pflanze unerwartet gleichartiges Ablaufschema auffallende Entstehen und Vergehen der Chromosomen hat durch die neuesten zellchemisdicn Untersuchungen eine wesentliche Klärung erhalten. Untersuchungen, die an Feinheit der Technik und Erfindungsgabe des Technikers hinter denen der anderen Gebiete nicht zurüdtehen, haben uns erkennen lassen, daß es sich bei diesem Hervortreten und Verschwinden um tiefgreifende Umlagerungcn bestimmter, für den Zellkern sdion lange als kennzeichnend erkannter Substanzen handelt. Dadurch ließ sich zugleich wieder ein tiefer Einblick in den chemischen Aufbau der Chromosomen gewinnen, der wieder zu gegebener Zeit seine Rückwirkung auf die Vorstellungen und Experimente der Vererbungsforscher zeigen wird.

Darin ist ja .vielleicht das wesentliche Kennzeichen der heutigen biologischen Forschung zu erkennen, daß es sich mehr wie je um einen Zusammenbau der Ergebnisse der verschiedensten Forschungsgebiete der Naturwissenschaft handelt. War es für die Zeit vor den beiden Kriegen eines der schönsten Zeichen der Riditigkeit unserer Arbeitsmethode, daß zwei zunädist völlig unabhängig voneinander vorgehende Disziplinen der Biologie, die Vererbungsforschung und die Zellforschung, zu Resultaten gelangen konnten, welche beim Zusammenbau die schönste Übereinstimmung ergaben, so ist es heute die Verbindung viel größerer Gebiete, der Biologie, Physik und Chemie, aas der sich aussichtsreichste Keime kommender Erkenntnisse entwickeln.

Daß bei diesem deutlichen Hinweis auf die Einheit der Forschung in allen ihren Teilgebieten auch die Versuche nicht ausbleiben, zusammenfassende Theorien zu entwerfen und bereits bestehende auf ihre Gültigkeit gegenüber den neuen Tatsachenmaterial zu überprüfen, zeigt sich jedem deutlich, der die während der letzten Jahre in den anglikanischen Ländern, deren Forschung durch di Kriegsereignisse nicht oder wenigstens nicht in dem Maße lahmgelegt war als die unser, erschienenen Werke mustert. Vor allem ist es da jene biologische Theorie, von der man sich einst eine durchgreifende Umgestaltung unserer ganzen Lebensauffassung und Weltanschauung erwartet hat, die in zahlreichen neuen kritischen und ergänzenden Darstellungen bearbeitet worden ist, die A bstammungslehre. Lange schon handelt es sich hier nicht mehr bloß um die zum Sdilagwort gewordene und mißbrauchte Frage der Abstammung des 'Menschen vom Affen, sondern vielmehr um das allgemeine Prinzip der Entwicklung des Lebens und seiner Gestalten auf unserer Erde. Viele früher unbedenklich als Beobachtungstatsachen hingenommene Feststellungen und daraus abgeleitete Schlußfolgerungen mußten, da sie neuerer Kritik nicht standhielten, aufgegeben und abgestoßen werden. In anderen Dingen lieferten uns die neueren Forschungen wieder größeres und tragfähigeres Beweismaterial für die Richtigkeit des Entwicklungsgedankens. Was sich aber aus allen diesen kritischen Untersuchungen ergibt, ist die Erkenntnis der großen Einheit der gesamten belebten und unbelebten Natur, die auf , uns Menschen durch die immer und überall hervortretende Ordnung und die Ge setzmäßigkeit der in dieser ablaufenden Vorgänge den tiefsten und erhebendsten Eindruck macht.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung