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Angeborene Fremdenangst?

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Es kann nicht überraschen, daß gerade in Zeiten, in denen Gesellschaften Belastungen ausgesetzt sind, für die sie noch keine Lösungsstrategien konzipiert haben, auf einfache, pseudologische „Gesetzmäßigkeiten" zurückgegriffen wird. Wie einfach ist doch die Welt zu erklären! Des eigenen Vorurteiles hat man sich nicht mehr zu schämen, verfügt man doch über Argumentationsfiguren, die „wissenschaftlich" belegt sind. So verwundert es nicht, wenn sich Europas „Neue Rechte" (besonders in Frankreich) bei ihrem Konzept des „Ethnopluralismus" auf Verhaltensforschung, Anthropologie und Genetik bezieht, um sich weltanschaulich zu rechtfertigen. Dabei distanziert man sich - sehr geschickt - klar vom Nationalsozialismus. Zwar ist für die „Neue Rechte" der traditionelle Rassenbegriff nach wie vor existent - doch lehnt sie eine Klassifikation nach „höher-" beziehungsweise „minderwertig" ab. Der Ethnopluralismus soll die Beziehungen zwischen den Völkern neu ordnen, um eine „gemischtrassige Gesellschaft" zu verhindern. Jede ethnische und kulturelle Gemeinschaft möge in ihrem „Territorium" bleiben, dort den eigenen Erhalt sichern.

Wir Europäer haben - aus welchen Motiven und mit welchen Methoden auch immer-hochstehende außereuropäische Kulturen in kürzester Zeit zerstört und danach die europäischen Wertvorstellungen zum Maßstab der ganzen Welt gemacht. Von der von uns selbst ausgelösten Dynamik überrascht, fühlen wir uns bedrängt und bedroht.

Wie einfach ist es da, zu behaupten, Afrikaner seien „von Natur aus" weniger intelligent als Europäer, dies sei eine Folge des unterschiedlichen Erbgutes der „Rassen". Man bezieht sich etwa auf die Arbeiten von Jensen, der dem Afrikaner größere rhythmische und handwerkliche Begabung zu-, dafür j edoch die Fähigkeit zu höheren logisch-abstrakten Denkleistungen abspricht. Der Ethnopluralismus ist gegen die Diskriminierung von „Farbigen", fordert jedoch ihre Repatriierung nach den Ländern, aus denen sie gekommen sind. Dort mögen sieihren „genetisch" bedingten, „rassen- und kulturtypischen" Weg alleine fortsetzen.

Der traditionelle Rassenbegriff hat jedoch beim Menschen keine Gültigkeit. Was wir an gestaltmäßigen Unterschieden zwischen den drei sogenannten Großrassenkrei-sen sehen, sind einige wenige, genetisch freilich sehr stabile Rest-Merkmale, die aus der Zeit der Rassenentstehung in den großen Isolationsräumen vor mehr als 100.000 Jahren entstanden sind. Nach Aufbrechen dieser Isolate kam es zu immer intensiveren Durchmischungen.

Aufgrund modernster biochemischer und biomathematischer Forschungsergebnisse ist der Terminus Rasse für den Menschen unerheblich geworden. So kann sich zeigen, daß die genetische Distanz zwischen zwei aus einer beliebigen Gruppe ausgewählten Menschen größer ist als der mittlere genetische Unterschied zwischen Europäern und Afrikanern. Nur rund fünf Prozent der weltweiten genetischen Variabilität können noch auf die drei „Großrassenkreise" zurückgeführt werden.

Was die Völker - leider immer noch! - zu trennen vermag, sind Religion, Kultur und Sprache, nicht aber die Biologie. Somit erweisen sich der Ethnopluralismus und alle aus ihm abgeleiteten Forderungen als neue Spielart ethnozentrischen Denkens, das Humanität und Toleranz ausschließt und die Grundlage für den neuen „wissenschaftlich" gerechtfertigten Rassismus bildet.

Ähnlich verhält es sich mit dem „Territorialtrieb", der von der Verhaltensforschung ausführlich beschrieben wird und bei vielen Tieren tatsächlich eine Art Universa-lie darstellt. Auf den Menschen angewandt bedeutet dies, daß es Gruppen- und individuelle Mechanismen gebe, die zu Abgrenzung nach außen und Solidarität nach innen zwingen. Dieses „Bedürfnis" wird gerade heute neben den Vorurteilen „biologischer Andersartigkeit" der Fremden auch ins Treffen geführt, um Angst und Hilflosigkeit gegenüber der wohl bisher größten Völkerwanderung zu maskieren. Hätte aber dieses territoriale Prinzip beim Menschen ebenso große Bedeutung wie bei manchen tierischen Gruppen, wären viele Formen menschlicher Siedlungsgeschichte und Arten des Miteinan-derlebens gar nicht möglich gewesen.

Wenn wir angesichts gewaltiger wirtschaftlicher und politischer Umwälzungen Zuflucht in redukr tionistische Argumentationen suchen, mißbrauchen wir nicht nur wissenschaftliche Forschungsergebnisse, sondern engen unsere kreative Phantasie ein. Dies bewirkt Einschränkungen bei der Erstellung von Lösungsansätzen und Kapitulation vor der Komplexität und scheinbar nicht mehr steuerbaren Eigendynamik unserer Probleme.

Doch nicht nur biologistische Ansätze sind von Übel. Auch vor jenen Eiferern ist zu warnen, die etwa in Österreich mit Unterschriftslisten gegen Ausländerfeindlichkeit herumziehen und dabei die Angst hilfloser, sich von der Augenblickssituation bedroht und überfordert fühlender Menschen als „faschistisch" bezeichnen.

Auch aus dem „Fremdeln" der Kinder in einem bestimmten Alter ist keinesfalls die Existenz einer angeborenen Fremdenfurcht abzuleiten, wie es seit einiger Zeit versucht wird. Wir sollten die Erkenntnisse der Vergleichenden Verhaltensforschung und der Evolutionsgeschichte nicht zur Rechtfertigung von Verhaltensweisen benützen, die im Begriff sind, atavistisch zu werden, sondern zur Bewältigung neuer Herausforderungen durch humane Lernprozesse.

Falsch wäre es, aus der Kenntnis des artgerechten Verhaltens vieler Säuger Fremdenfurcht und Territorialität als Universalie auch für den Menschen abzuleiten. Richtig ist es, aus dem kritischen Umgang mit wissenschaftlichen Ergebnissen die Sonderstellung des Menschen herauszuarbeiten, um zu mehr Mündigkeit zu gelangen. Unser Gehirn, die Grundlage der Persönlichkeits- und Leistungsstrukturen, unterscheidet sich keineswegs grundsätzlich von dem der übrigen Säuger. Was uns auszeichnet, sind qualitative Weiterentwicklungen. Über dem kleinsten Teil, nach McLean dem protoreptilischen Gehirn, das für ein relativ einfaches Leben ohne Sozialstruktur in einer eher konstanten Umwelt ausreichend ist, entwickelte sich das frühe Säugerhirn, das palaeomam-malische Gehirn. Es ist zu Lern-und Gedächtnisleistungen befähigt, höhere soziale Organisationen sind damit noch nicht zu bewerkstelligen. Es ist vorwiegend auf augenblicksbedingte Triebbefriedigung ausgerichtet. Aus diesem palaeo-mammalischen Gehirn entwickelte sich das mächtige, die anderen Hirnteile überlagernde neomam-malische Hirn, unser Großhirn, Sitz unserer Persönlichkeit und Intelligenz.

Wie haben wir aber diesen Intelligenzbegriff in unserer westlichen Gesellschaft eingeengt! Unter Intelligenz verstehen wir weithin die Fähigkeit zu logisch-mathematischen und abstrakten Lösungen, ebenso wie die Sprachbegabung. Damit sprechen wir aber nur einen Teil unserer Großhirnleistung an. Besonders mächtige und beim Menschen quantitativ und qualitativ am höchsten entwickelte Großhirnteile stehen im Dienst der „sozialen Intelligenz". Sie haben die Aufgabe, die zur spontanen Trieberfüllung drängenden Impulse des pala-eomammalischen Gehirns zu „dämpfen" und diese Antriebe in sozial verantwortungsbewußte, vorausplanende Strategien umzuwandeln. Diese Hirnteile ermöglichen es auch, einlangende Informationen auf ihre soziale Bedeutung hin zu interpretieren, sie der jeweiligen Situation entsprechend richtig verarbeiten zu können.

Mit zunehmender Komplexität des Gehirns und zunehmender Differenziertheit sozialer Verbände wurde die Zeit der nachgeburtlichen Betreuung immer länger. Sie ist dem sozialen Lernen vorbehalten. Das Menschenkind kommt mit einem besonders unreifen Gehirn auf die Welt und bedarf wie kein anderer Säuger der liebevolle.! Geborgenheit - weit über die ersten drei Jahre hinaus. Zunächst reagiert es mit seinem protoreptilischen und palaeomammalischen Gehirn auf die Umwelt und ist durch seine Triebansprüche bestimmt. Mit der weiteren Reifung des Großhirns erlangt es Kontrolle über das „Tier in sich". Es muß sich in dieser Zeit auch selbst erfahren. Es beginnt -immer auf der Grundlage der liebevollen Elternbeziehung - selbständig Nähe und Ferne zu erkunden. Es sucht Orientierung. Dies ist auch der Zeitpunkt, zu dem es - vorübergehend! - zu „fremdeln" beginnt: Das noch nicht Erfahrene wirkt bedrohlich und macht Angst. Die Einbettung im gesicherten Sozialverband aber führt recht bald dazu, daß es seine Stärke erfährt und die Angst vor dem unbekannten anderen schwindet. Aus der temporär auftretenden Angst ist Akzeptanz geworden.

Freilich: in dem Maße, in dem wir Kinder sich selbst überlassen und keine Zeit für die liebevolle Obsorge aufwenden, wird das Großhirn nur noch bedingt die permanente Kontrolle über unsere stammesgeschichtlich älteren Hirnteile übernehmen können. Aggression als Ausdruck mangelhaft erlernter sozialer Intelligenz nimmt zu und aus dem „Fremdeln" kann unter Umständen Fremdenhaß entstehen.

Es ist keine Erklärung des Phänomens „Fremdenangst", wenn Wortmarken wie „Fremdrassen", „Territorialität" oder „angeborene Fremdenfurcht" dafür herangezogen werden. Sie kann auch nicht mit Wortmarken wie „angeborene Abwehrhaltungen gegen Fremde" erklärt werden.

Das, was viele Menschen auch in unserem Land bewegt, sind sozial-und wirtschaftspolitische Probleme, zu deren effizienter und humaner Lösung erst wenige Ansätze erarbeitet wurden. Man darf aber optimistisch sein, daß eine verantwortungsbewußte Wirtschaft - effizienter vielleicht als manches politische Konstrukt - den Weg in eine bessere Zukunft weisen wird.

Diese Strategien können aber nur unter einer Bedingung zu einem menschlichen Selbstverständnis führen, das durch bereitwillige Annahme des anderen, des Fremden, und nicht durch Ablehnung bestimmt ist: Daß wir unseren Kindern wieder die Zeit und Zuwendung schenken, deren sie in ihrer Entwicklung so dringend bedürfen.

Es ist die Generation der Eltern, die wesentlich mitbestimmt, ob das egoistische Tier, das in uns allen gefangen ist, in der nächsten Generation schon mehr gezähmt sein wird. Gelingt dies, werden wir, weil wir unser selbst sicher sind, auch keine Angst vor Fremden haben müssen.

Der Autor ist Ordinarius für Humanbiologie in Wien.

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