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Diluviale Menschenfunde und Urgeschichte

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Die älteste Geschichte der Menschheit, vor allem aber das Problem nach dem Aussehen des ältesten Menschen, bewegt wieder wie vor vielen Jahren, als die ersten Meldungen über urtümliche Menschenreste in die Literatur Eingang fanden, die wissenschaftliche Welt . Allenthalben, in deutschsprachigen und ausländischen Zeitschriften, findet man zusammenfassende Berichte über die Ergebnisse dieser neuen Forschungen, die besonders in den letzten zehn Jahren unser Bild vom Werden des Menschen in ein ganz neues Licht gerückt haben. Aber während man zur Zeit von Dubois, Klaatsch und Verworn in allen diesen Fragen noch im Dunkeln tappte, Meinungen vertrat, die durch vorgefaßte Aufstellungen beeinflußt waren, und ein System der Aufeinanderfolge menschlicher Fossilfunde schuf, das weit von den tatsächlichen Vorgängen entfernt war, verfügt die Forschung von heute über ein so ausgeprägtes und wohlfundiertes Grundgerüst, daß sich derartige Fragen doch anders darstellen, als es noch vor zwanzig Jahren der Fall war. In der Zwischenzeit hat nämlich die Erforschung der ältesten Geschichte der Menschheit dank der Zusammenarbeit von Glazialgeologie und Urgeschichte so große Fortschritte gemacht, daß die Grundprobleme der diluvialen Archäologie und der diluvialen Paläanthropo- logie als in ihren wesentlichen Zügen geklärt angesprochen werden dürfen.

Ausgangspunkt für alle diese Fragen ist die seit Penck-Brückner nicht allein in Europa, sondern auch in Asien, Afrika und Amerika mächtig geförderte Eiszeitchronologie geworden, an deren Grundergebnissen trotz der da und dort aufscheinenden Meinungsverschiedenheiten nicht mehr ge- zweifelt werden kann. Danach zeigt sich immer deutlicher die innere, nicht voneinander trennbare Verknüpfung des Glazialphänomens der gesamten Erde, die während gleichzeitiger Epochen durch Glaziale in gemäßigten und Pluviale in den subtropischen sowie tropischen Breiten eine bedeutende Veränderung ihrer Oberfläche erfährt. Eine vertiefte Erforschung aller Einzelheiten dieses Glazialphänomens, das sich nicht allein im Bilde der Erdoberfläche, sondern auch in der belebten Welt dieser Oberfläche ausdrückt, gestattet daher auch die Verknüpfung weitab voneinander liegender Einzelaufschlüsse. Dadurch wird es möglich, die Ergebnisse der europäischen Diluvialgeschichte mit jenen Chinas oder Afrikas in Verbindung zu bringen und eine Parallelisierung herbeizuführen, die die Grundlage für eine historische Gesamtbetrachtung dieser Zeit schaffen. Denn man darf nicht vergessen, daß der Mensch als Zeuge aller dieser klimatischen und damit erdgeschichtlich bedeutungsvollen Veränderungen damals schon lebte, daß er seine kulturellen Relikte in den geologisch näher bestimmbaren Schichten hinterließ und daß mit diesen auch menschliche Körperreste gefunden wurden, die nur auf diesem Wege eine historische Einstufung zu erfahren vermögen.

Wer sich also mit den Fragen der ältesten Menschenformen beschäftigt, muß von den Ergebnissen der Steinzeitforschung ausgehen und muß vor allem auch genaue Kenntnisse der Eiszeitprobleme besitzen; nur dann, wenn dieser wichtige Fragenkreis beherrscht wird, kann sekundär über die Probleme der diluvialen Menschenformen gesprochen werden. Wer diese Voraussetzungen nicht erfüllt, ja wer sich rein theoretisch über sie hinwegsetzt und mit vorgefaßten Meinungen an sie herantritt, besitzt die

Vgl. DDr. Rosina Zdansky: „Die Abstammung des Menschen im Lichte zoologischer Forchung", „Warn“ Nr. 14 vom 3. April 1948.

Legitimation nicht, m diesen schwerwiegenden Fragen mitzusprechen. So gebührt daher das erste Wort dazu dem glazialgeologisch geschulten Vertreter urgeschidhtlicher Forschung. Er schafft die zeitliche, erdgeschichtlich erarbeitete Grundlage für die Eingliederung seines Fundes, und er ist es vor allem, der zu entscheiden hat, ob ein Fund als menschlich anzusprechen ist, da ihm die Beurteilung der Kulturgeschichte obliegt. Erst in zweiter Linie kann der Anthropologe, wenn die von der Urgeschichte zu erhoffenden Aufschlüsse ausbleiben, zu Worte kommen, falls es ihm gelingt, auf dem Wege der morphologisch-typologischen Betrachtungsweise einen Fund für menschlich zu erklären, Diese Voraussetzugen sind nun dank glücklicher Fundumstände, kollegialer Zusammenarbeit und fortschreitender Erkenntnis auf anthropologischem Gebiet in den letzten Jahren in überaus glücklicher Weise geschaffen worden. Nur so, nur auf dem Wege einer engsten Zusammenarbeit von Glazialgeologie, Urgeschichte und Palä- anthropologie sin-d wir endlich so weit gekommen, daß wir zum Unterschied von den Hypothesen älterer Generationen nun auch mit Forschungsergebnissen arbeiten können, die in ihren Grundzügen kaum mehr umzustoßen sein werden — weil sie nur zu gut fundiert sind. Und diese Ergebnisse eben sind es, die uns die historisch gesicherte Abfolge von Anthropusform, Primigeniusform und Sapiensfossilisform vermitteln, die uns sagen, daß die körperliche Geschichte des Menschen vorläufig in diesen drei aufeinander folgenden Stadien zu erfassen ist, in Stadien, die auch kulturgeschichtlich fest verankert sind. So fest, daß es keine Neuentdeckung mehr geben kann, die die Abfolge von unterem Paläolithikum mit der Anthropusform (wie zum Beispiel die berühmten Funde des Sinanthropus Pekinensis mit seinen reichen Stein- und Knochenartefakten), von mittlerem Paläolithikum mit der Primigeniusform (dem Neandertaler, der immer wieder mit dem Moustžrien gefunden wird) und von oberem Paläolithikum mit der Sapiens-fossilis-Form (allen jenen reichen Skelettfunden des Aurignacien, Solutr en, Magdalenien und Mesolithikums) in Zweifel stellen könnte. Diese Abfolge ist so fest fundiert wie die jedem Schulkind bekannte Reihe von Altertum, Mittelalter und Neuzeit; mit ihr muß gerechnet werden, wenn über diese Fragen gehandelt wird und sie ist die conditio sine qua non für jede fruchtbringende Auseinandersetzung über dieses früher einmal so heiß umstrittene Gebiet ältester Menschenformen.

Heute aber geht es nicht mehr darum, ob die Anthropusform, beziehungsweise ihr ältester Vertreter des Pithecanthropus erec- tus ein missing link im Sinne von Dubois ist, ob die Kalotte des Neandertalers eine pathologische Entartung darstellt, nein, heute geht es bereits darum, die Vielfalt menschlicher Gestalt in dieser fernen, mehrere hunderttausend Jahre zurückliegenden Vergangenheit zu ergründen und diesem Phänomen mit den Mitteln moderner biologischer Forschung an den Leib zu rücken. Es geht jetzt darum, in der erhaltenen Vielfalt die Einheit zu finden, die durch den menschlichen Geist erfolgte Emanzipation des gesamten Geschlechtes in ihrer Auswirkung auf den Körper zu erfassen, um damit jene einheitliche Linie herauszuarbeiten, die die Grundlage jeder Stammesgeschichte ist; Für die menschliche Geschichte ist es irrelevant, welche Formen der Körper, die Hülle dieses beweglichen Geistes, gehabt hait, weitaus wichtiger ist es, die geistige Seite des ältesten, des für uns ersten Menschen zu erfassen. In diesem Sinne brauchen wir uns an einer übernommenen nnd daher überkommenen Terminologie nicht stoßen; wir müssen uns nur klar darüber sein, was die einzelnen Worte bedeuten. Geistes- und kulturgeschichtlich ist der Anthropuskreis ebenso als eine Homo-Form zu bezeichnen wie der Mensch unserer Tage, dem allein bloß die analytische Terminologie der Naturwissenschaft den Gattungsnamen Homo vorbehält. Das aber ist nicht entscheidend; entscheidend ist vielmehr die Tatsache, daß der bis tief in das Pleistozän hineinreichende älteste Mensch mit einer ausgeprägten, klar zu umschieiben- den Kultur angetroffen wird, daß er ein Geistwesen war, das sich bewußt seine Umwelt zu gestalten vermochte. Und in dieser Erkenntnis sind wir auch mit dem extremsten Zoologen eins: die Kluft zwischen Mensch und Tier ist so groß, daß sie durch nichts überbrückt zu werden vermag. Die Kraft des menschlichen Geistes erfüllte bereits die Welt, als sie ihm der erste Schritt seines noch unmodellierten Körpers erschloß.

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