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Wege zum mittelalterlichen Kunstwerk

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In einem Aufsatz in Nr. 8 der „Furche“ wurden „die steinernen Rätsel von Millstatt“ besprochen und es wurde darauf hingewiesen, daß es in der mittelalterlichen Kunst noch zahlreiche andere rätselhafte Darstellungen gibt, deren Bedeutung noch immer umstritten ist. Es soll' im Folgenden versucht Werden, etwas über die Wege zu sagen, welche zur Lösung dieser Rätsel führen.

Es gibt in der mittelalterlichen Kunst Darstellungen, welche vom modernen Beschauer ohne weiteres als ;,Rätsel“ empfunden werden, weil der Inhalt,dieser Darstellungen zunächst unverständlich ist. Es gibt aber auch eine große Anzahl von solchen „Rätseln“, welche in unserer Zeit als solche überhaupt nicht mehr empfunden werden, weil der Blick für das Gleichnishafte vieler Darstellungen verlorengegangen ist. Zur ersten Gruppe der offenbaren Rätsel gehören ungewohnte Szenen aus der Heilsgeschichte oder Legende, dann auch die Darstellungen von Tieren und Fabelwesen an Kirchenbauten. Zur zweiten Gruppe der versteckten Rätsel gehören vor allem einzelne Formen der Bauplastik, welche von unserer Zeit nur als „Ornamente“ gewertet werden, während sie ursprünglich in erster Linie symbolischen Sinn hatten; dazu gehören aber auch bildliche Darstellungen, welche auf den ersten Blick bekannt erscheinen, während sie in Wirklichkeit etwas ganz anderes aussagen sollen.

Wenn man sich darum bemüht, unserer Zeit wieder einen Zugang zum Verständnis dieser Darstellungen zu vermitteln, muß man sich unwillkürlich die Frage stellen, ob und wie denn die ersten Beschauer dieser Kunstwerke sie verstehen konnten. Die Beantwortung dieser Frage wird zugleich auch eine Antwort auf die Frage bilden, wie unsere Zeit sie verstehen kann.

Der mittelalterliche Mensch war es gewohnt, alle Erscheinungen der Welt vor allem in ihrer religiösen Bedeutung zu sehen. Mensch und Tier und Pflanze, ja auch die verschiedenen Gesteinsarten, besonders die Edelsteine, hatten für ihn neben ihrem unproblematischen Daseinszweck ihre ganz bestimmte Heilsbedeutung, über welche die Menschen durchwegs mindestens gleich gut unterrichtet waren wie über die natürliche Funktion dieser Wesen, die trst sehr unvollkommen erforscht war. So kam es, daß diese natürlichen Gegenstände zu Symbolen, und Vorbildern heiliger Personen oder Begriffe wurden, ähnlich wie die natürlichen Ereignisse der Geschichte zu Vorbildern der Heilsgeschichte wurden. Dieses gleichnishafte Denken befähigte daher die Menschen, cHe gleichnishaften Darstellungen der sakralen Kunst zu begreifen.

Nur aus einem derartigen Weltbild konnte ein Kunstwerk wie der Verduner Altar in Klosterneuburg entstehen, um nur ein uns naheliegendes und in der Osternummer der „Furche“ besprochenes großes Kunstwerk des Mittelalters zu nennen. Das Verständnis für die Heilsgeschichte und ihre bildliche und symbolisdie Darstellung war nicht bloß in kulturellen Mittelpunkten verbreitet, wie Klosterneuburg einer war, sondern es erstreckte sich bis in die mtlegensten Täler. Als Beispiel dafür möchte ich die St. - Nikolaus-Kirche bei Matrei in Osttirol anführen, also in einem Gebiet, das von den damaligen Verkehrswegen weit entfernt war und das doch in der genannten Kirche Bilderzyklen von höchstem künstlerischem und ikono-graphischem Werte besitzt. Die Kirche hat in ihrem Chorturm zwei übereinanderliegende Chöre, die in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts ausgemalt wurden. Die Gewölbe des tiefliegenden Unterchores tragen die Darstellung der Ersdiaffung des Menschen und des Sündenfalles — das „De profundis“ der Menschheit. Am Eingangsbogen des Oberchores erscheint Gott Vater, der in seinen Händen die Jakobsleiter hält, während der Patriarch links schlafend, rechts opfernd dargestellt ist: Gott selbst reicht dem gefallenen Menschen die hilfreiche Hand zum AufstiegAn den Wänden des Oberchores stehen die Propheten und die Heiligen um den Altar als die Boten Gottes und die Helfer für die Mensdiheit. Darüber aber, erhaben über die irdischen Elemente, welche in den vier Zwickeln dargestellt sind, ersdieint im Kuppelgewölbe das himimlische Jerusalem, in seiner Mitte Christus selbst, der die Himmelsstadt als Sonne erleuchtet. Das gesamte Programm dieser Malereien bietet eine kurzgefaßte Enzyklopädie der gesamten Heilsgeschichte von der Erschaffung bis zur Vollendung — von der Genesis bis zur Apokalypse.

Bemerkenswert ai diesen Bildern ist ihr ikonographischer Zusammenhang mit Darstellungen in den Kirchen Roms und Ostroms (auf letzteres hat kürzlich Professor Zaloziecky in der „Furche“ hingewiesen). Daß solche Darstellungen mit ihren hohen Anforderungen an die religiöse Bildung ihrer Beschauer sich selbst in entlegenen Alpentälern finden, ist ein Beweis dafür, daß auch das Verständnis für solche unserer Zeit vielfach als Rätsel erscheinenden Bilder durchwegs vorhanden war. Die Grundlage für dieses Verständnis mußte selbstverständlich die religiöse Unterweisung des Volkes in der Predigt schaffen, und hier war es vor allem die überwältigende Autorität des hl. Augustinus mit seiner geistreichen Alk-gorik, welche das symbolische Denken und das symbolische Darstellen förderte. Daß man aber doch auch für damalige Begriffe manchmal zu weit ging, zeigt uns das Beispiel des hl. Bernhard, der sich in sehr scharfen Worten gegen das Oberwuchern phantastischer Tiergestalten in den Kirchen wandte.

Wer die Sprache der mittelalterlichen Kunstwerke verstehen will, der muß neben dem rem wissenschaftlichen Rüstzeug der Forschung auch etwas von der religiösen Innigkeit des mittelalterlichen Menschen kennen und besitzen; er muß mit den oft kindlich-naiven und krausen Wegen der Alle-gorik vertraut sein und muß die theologische Literatur kennen, aus welcher die mittelalterlichen Prediger und Auftraggeber für Kunstwerke ihre Ideen geschöpft haben. Eine weitere unerschöpfliche Fundgrube für Darstellungen bot die Heiligenkgende. Es ist wahrscheinlich, daß eine der rätselhaften Darstellungen von Millstatt, die Frauenfigur am Südportal, welche ein halbmenschliches Ungeheuer am Zaume führt, sich aus der Legende als hl. Juliana erklären läßt. So wenigstens erklärt diese Figur einer der besten Kenner der Heiligenikonographie, P. J. Braun, in seinem Werke über „Tracht und Attribute der Heiligen in der deutschen Kunst“. Er verweist dabei auf eine ähnliche Darstellung der Heiligen am Wormser Dom, wo ihr Name beigeschrieben ist. Der Legende nach versuchte der Teufel die Heilige während ihrer Kerkerhaft in Gestalt eines Engels zum Abfall zu überreden; sie schlug ihn jedodi mit der Kette, an die sie gefesselt war, so jämmerlich zuschanden, daß er vor ihr zusammenbrach; daraufhin fesselte sie ihn mit derselben Kette und schleppte ihn auf ihrem Gang zum Martyrium hinter sich nach, bis sie ihn in eine am Wege liegende Latrine warf.

Es wurde oben gesagt, daß oft genug auch Darstellungen falsch verstanden werden: man glaubt, ihre Bedeutung zu kennen, übersieht aber irgendeine ikonographische Kleinigkeit, welche den Sinn der Darstellung weitgehend abändert.

Ein Beispiel dafür ist der Mittelschrein des Pacher-Altars in St. W o 1 f g a n g. Obwohl in diesem Fäll die Fadiliteratur (V. Strohmer in seiner im Angelsachsenverlag erschienenen Monographie über den St. Wolfganger Altar) den richtigen Sadi-vcrhalt festgestellt hat, werden doch weitaus die meisten Beschauer meinen, es handle sich um die Marienkrönung, durch welche das Marienleben nach der Himmelfahrt Mariens seinen glorreichen Abschluß fand. In Wirklichkeit handelt es sich aber bei dieser „Chronung“ Mariens, wie sie Abt Benedikt von Mondsee bei Michael Pacher bestellte, um ihre „Krönung“ oder Weihe zur Würde der Gottesmutter in dem Augenblick, in weldiem Christus Mensch wurde.

Man beachte nur die Darstellung selbst: Maria kniet vor einer gekrönten göttlichen Gestalt, welche in der Linken die Weltkugel hält, während sie die Rechte zum Segen erhoben hat — es ist die allgemein gebräuchliche Darstellung Gott Vaters. Über Maria schwebt die Heiliiggeisttaube. Der Thron hinter ihr aber, an der linken Seite Gott Vaters — erst nach der Himmelfahrt erhält der Gottessohn den Ehrenplatz „zur Rechten des Vaters“ —, dieser Thron ist leer; es ist der Augenblick dargestellt, in dem die zweite göttliche Person „descendit de coelis et incarnatus est“. So erst wird die ganze Darstellung verständlich und sinnvoll: die zweite göttliche Person hat ihren himmlischen Thron verlassen, um im Leibe der demütig vor dem Throne knienden Jungfrau die menschliche Natur anzunehmen.

Es ist nicht nur für den Laien, sondern auch für den Fachmann zuweilen schwer, in die Geheimnisse der mittelalterlichen Kunst einzudringen. Denn wir sind vom Weltbild des hohen Mittelalters nicht nur durch die Saecula der Zeitgeschichte, sondern mehr noch durch die Säkularisation unserer gesamten Lebenshaltung getrennt. Den naiven Glauben an einen geheimnisvollen Zusammenhang aller geschichtlichen Ereignisse und aller Kreaturen mit der Heilsgeschichte hat die Menschheit gründlich verloren, — dafür versteht sie es um so besser, die geheimsten Kräfte der Schöpfung zum Unheil der ganzen Welt zu entfesseln.

Wenn die Kunstwissenschaft den Zugang zum Verständnis der mittelalterlichen Kunst wieder freilegen will, so kann sie dieses Ziel nur dann, erreichen, wenn sie die einzelnen Kunstwerke aus jenem Geiste heraus zu verstehen versucht, aus dem sie geboren sind. Diese Erkenntnis ist ein Teil des Vermächtnisses, das der große Wiener Kunsthistoriker Dvorak seiner heute noch lebenden Schule hinterlassen hat. Nur so werden wir imstande sein, das vor uns aufgeschlagene Buch jener großen gläubigen Kunst auch wirklich lesen zu können,' wie es der hl. Augustinus einmal ausspricht: „Wer eine Handschrift in einem Prachtkodex sieht und nicht lesen kann, der kann zwar die kunstvolle Hand des Schreibers und die Pracht der Miniaturen bestaunen; allein diese Zeichen dringen nur bis zu seinen bewundernden Augen vor, nicht aber bis zum begreifenden Verstände. Nur wer zugleich seine Augen und seinen Verstand in der Kunst des Lesens geschult hat, ist imstande, das Gesamtkunstwerk wirklich zu begreifen.“

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