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STURM UND DRANG

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Von 1490 bis 1540. Fünf Dezennien, in denen sich im bayrisch-österreichischen Alpenland ein Stil ausprägt, der, wenn auch nicht stilbildend, weiterwirkend in Malered, Plastik und Graphik, ein so eigenwilliges Gesicht trägt, daß man schon seit mehr als 70 Jahren für ihn den allerdings geographisch einengenden Begriff der Kunst der Donauschule gebraucht. Eine Zeit des Aufbruchs, der Gärung — vor allem in Mitteleuropa —, in der vor dem Hintergrund allgemeiner geistiger Umwälzungen, die seit geraumer Zeit das Abendland erschüttern, die Axt an Bestehendes angelegt wird, Neues unter Angst, Qual und größter Erregung heraufsteigt. Das Besondere, das hier geschieht, ist leichter und in seiner Einmaligkeit besser zu begreifen, stellt man es vor oder gegen das künstlerische Geschehen der Zeit, wie es sich in Italien, dem noch lange nährenden Quellboden europäischer Kunst, vollzieht.

In Italien malt zwischen 1483 und 1494 Lionardo die „Madonna in der Felsengrotte“ und beendet 1497 sein Fresko „Das Abendmahl“ im Refektorium des Klosters Santa Maria della Grazie in Mailand, zwei Hauptwerke einer Malerei, in die antike Formanschauung ebenso eingeflossen ist wie neues Naturgefühl. Zwischen 1490 und 1540 sterben Piero della Franceska, Ghirlandajo, Mantegna, Botticelli und Giorgione, Giovanni Bellini, Lionardo, Raflael, Andrea Sansovino, Cor-reggio, Francois Clouet, und 1541 vollendet Michelangelo das „Jüngste Gericht“ der Sixtina und Greco wird geboren.

In dieser Zeit entstehen der Ursulazyklus von Carpaccio, die Mona Lisa, die „Anna Selbdritt“, die Hauptwerke Hieronymus Boschs, der Isenheimer Altar, die Erasmus-Bildnisse von Holbein dem Jüngeren, die Pesaro-Madonna und das Bildnis Karl V. von Tizian sowie die englischen Bildnisse Holbeins, der 1543 stirbt.

Eine ungeheure Spannweite der Kunstentwicklung, die, in Italien getragen von den durchwirkenden Tiefenschichten der Antike, den harmonischen Übergang aus Gotik und Spätgotik zur Kunst der Renaissance ermöglichte und in einer sublimen Erscheinung wie Correggio das Barock und sogar das Rokoko vorwegnahm. Eine Seitenlinie führte in den Manierismus — eine jener „Stilbildungen aus Unvermögen“ (Berenson), die immer wieder durch die Kunstgeschichte geistern.

Politisch vollzieht sich ähnlich Bedeutendes. 1486 wird Maximilian I. zum deutschen König gewählt; deutscher Kaiser ist er von 1493 bis 1519, seinem Todesjahr. Dieser „letzte Ritter“ lebt der Restauration einer Zeit, die es nicht mehr gibt. Der „Theuerdank“, sein „Weißkunig“, die Turniersucht seines Hofes sind allegorisch-romantische Flucht aus einer Welt, die in den Angeln erschüttert ist. Kolumbus entdeckt' 1492 und 1493 Kuba, Haiti, Portoriko und Jamaika, Vasco da Gama den Seeweg um Südafrika nach Indien. 1498 betritt Kolumbus südamerikanisches Festland. Vespucci landet am Amazonas, Cabral in Brasilien. Die Städte, die mit ihrem Bürgertum immer mehr an Bedeutung gewannen (Brügge nimmt zum Beispiel König Maximilian 1488 gefangen), verbünden sich mit den Rittern und Fürsten. Der Handel blüht mit der Entdeckung der Seewege; die Fugger steigen auf; der Sklavenhandel beginnt, und die Kaiser und Fürsten werden den Handelshäusern zinspflichtig, die bereits ihre

Monopole errichten. So bringen 1514 die Fugger sogar den Ablaßhandel in ihre Hände. Während sich Deutschland, Frankreich und Italien zerfleischen, belagern die Türken zum ersten Male Wien.

Und überall stehen die Bauern auf. Zuerst 1493 im Elsaß im Zeichen des Bundschuhs, dann unter Josz Fritz in Speyer, später im Breisgau, 1517 am Oberrhein. Suchen diese Unterdrückten und Entrechteten vorerst Hilfe in einem starken zentralistischen Kaisertum, so wollen sie nun ihr Recht, ihr soziales Recht, auf Grund religiöser Forderungen. 1517 verschickt Luther seine Thesen von Wittenberg aus, und die Reformation beginnt. In Thüringen entsteht die „Wiedertäuferbewegung“ Münzers mit ihren Sozialrevolutionären Tendenzen; die Bilderstürmer unter Karlstadt beginnen in Wittenberg ihr Werk, und 1524 bricht der große Bauernkrieg los, der Luther schließlich auf der Seite der Fürsten sieht und mit der gnadenlosen Vernichtung der Aufständischen endet, wie auch das „Königreich Zion“ der Wiedertäufer in Münster binnen einem Jahr in Blut und Tränen endet. Von nun an kämpfen die Fürsten mit dem Kaiser unter der ihren eigennützigen Zwecken dienenden Fahne der Religion, über den schmerzverkrümmten Leibern der Bauern hinweg, deren Abgaben in Deutschland 66 Prozent des Rohertrages betragen.

Diese Zeit steht aber auch unter dem Signum des Koper-nikus, der die Erde als Mittelpunkt der Welt entthront, während der deutsche Arzt und Mystiker Agrippa von Nettesheim — gegen die Scholastik auftretend — die Allbeseelung der Natur verkündet, der der Humanist Conrad Celtis — von Friedrich III. als erster Deutscher zum Dichter gekrönt — sein Lob singt.

Dieser Aufruhr der Epoche prägt und formt das Gesicht der Kunst der Donauschule. Schon bei Pacher, dem großen spätgotischen Meister, der den Anschluß an das Maß der neuen Wissenschaft der Perspektive bei Mantegna suchte und 1498 stirbt, ist ihre Unruhe angekündigt. Im „Kirchenväteraltar“ spreizen sich seine Figuren preziös in einem gefährdeten Gleichgewicht in übersteigerten Raumkonstruktionen und sprengen ein kaum gewonnenes Maß, dem Dürer, seitdem er ihm in Italien auf die Spur gekommen war, sein Leben lang nachgehen wird. Beide, Dürer und Pacher, wirken auf Altdorfer ein. Der eine durch die große, die leidenschaftliche Erregung der Zeit atmende „Apokalypse“, deren Vorstellungskraft für fast alle Künstler faszinierend und vorbildlich wirkte, der andere durch seine die Objektivierung suchenden Raumdarstellungen, die bei dem Regensburger Altdorfer subjektiv gesteigerte Umformung erfahren.

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Tädoch, was bei Dürer barockes aber gebändigtes Lineament bleibt, in dem der übermächtige Ausdruck sein Gleichgewicht sucht und'ffieist auch findet, wird bei den Meistern der Donauschule, ?t*im“ jungen Cranach dem Älteren, bei Altdorfer, bei Wolf Huber und ihren Schulen und beim Meister der Historiä zu einer so subjektiven Übersteigerung, daß das Bildgefüge zu zerbrechen droht. Im Verein mit der dämonischen Dramatisierung der Natur, ihrer expressiven Weitung in unendliche Bildräume, ergibt sich ein romantischer Expressionismus, dessen Formauflösung nur durch die quirlende Zeichnung, die Arabesken, die die Figuren und Formen beschreiben, gehalten wird. Aus einem trächtigen Urgrund steigt barbarische Kunst wieder auf: Die leidenschaftlichen Wirbel des Book of Keils, der Kunst der Völkerwanderungszeit, ihre abstrakte Ornamentik, liegen hinter den sich blähenden, bauschenden, flatternden Gewandfalten der Personen, beleben die rasenden Wirbel der Wolken, das vitale Wuchern der Vegetation. Nordische Wildheit bricht gegen Maß und Süße des Südens aus. Kosmisch erfühlte Ordnung stürmt gegen die Ratio an.

Die Leiber der Märtyrer und Henkersknechte sind wie unter einem übermächtigen Druck verzerrt, die Gesichter Fratzen oder das Individuelle bis zur Häßlichkeit betonend. Folter und Folterknechte dominieren; mit wollüstig ausgemaltem Schauder werden die Bluttropfen und die Wunden gezählt, alles der umfassenden Gewalt kosmischen Sturmes hingegeben.

Dabei ist es kein Zufall, daß zum Beispiel die Händewaschung Pilati bei Altdorfer in einem Kircheninnenraum stattfindet, Christus in den Darstellungen immer mehr Leib und Antlitz eines gemeinen Bauern bekommt, Heilige und Folterer die Gesichter und Fratzen des Volkes und seiner tatsächlichen Schinder und Henkersknechte. Denn diese Kunst ist in ihrer Zeit leidenschaftlich engagiert; sie stürmt und klagt an, zeigt auf und erschüttert. Die Martyrien und die Passion werden in brutale Gegenwärtigkeit übertragen und sind Mittel zu geistigem und sozialem Protest. Der übermächtige Leib Christi des Isenheimer Altares ist der eines geschundenen Bauern in seiner tiefsten Not und Erniedrigung, nicht der 'hoheitsvolle Olympier, den die italienische Kunst bildet und in der Christus selbst in Seinem Schmerz von übermenschlicher Schönheit oder Gewalt bleibt. Diese Kunst der Donauschule ist bereits psychologisch mit einer bohrenden, auf dem Schmerz beharrenden Insistenz. Selbst in ihren heidnischen, weltlichen, ja antikirchlichen Themen lebt nicht die unschuldige Sinnenfreude südlicher Renaissance, sondern eine dämonisch bürgerliche Vertracktheit, die die dem Antiken selbstverständliche Nacktheit in ihrer jeweiligen individuellen Unvollkommehheit mit dem Schauder der Angst, der Sünde oder der Dekadenz umgibt.

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Sieht man von den großartigen Leistungen Altdorfers, in farbiger Hinsicht im Sebastian-Altar, dem Meister von Pulkau und von Wolf Huber — dessen Ziegler-Bildnds allerdings maßlos überschätzt wird — ab, so prägt sich die Donauschule am reinsten und stärksten in der Graphik aus. Die Landschaftszeichnungen Hubers vor allem, mit ihren durch die Strichlagen kosmisch geweiteten Räumen, weisen auf eine von der Natur her pantheistische Ergriffenheit, die erst in van Gogh spät und aus dem gleichen Stamm eine Entsprechung finden. In den Zeichnungen feiert das versteckte Lineament der Bilder seine reine und geistige Auferstehung; der Mensch tritt zurück, und die Landschaft dominiert in der brausenden Unschuld oder Stille der Schöpfungstage.

In der Plastik der Zeit gibt der geheimnisvolle Meister I. P. die entscheidende Dominante. Sein Werk, Akribie und Großzügigkeit mit Beseeltheit vereinigend, von einem handwerklichen Können getragen, auf das die Maler verzichten oder verzichten müssen, um ihrem Protest Ausdruck zu geben, steht auf dem einsamen Gipfel seines Raumes und seiner Epoche.

Aber auch hier wirkt die von tief unten kommende Dämonie. Sie wird sichtbar in den Gliederpuppen, im verrutschten Feigenblatt Adams, im Tod, der dem Ritter die Hand reicht, in Dingen, in denen wie in den Bildern der Donauschule blitzartig klar wird, wie sehr und wie weit Kräfte geistiger und schicksalsmäßiger Art — wenn sie nicht überwunden werden können — das Gesicht eines Volkes und seiner Kunst bestimmen. Die Beispiele der der Donauschule zugeordneten Architektur entsprechen weniger einem eigenen Stil als einem „Flamboyant“ spätgotischer und frührenaissancehafter Prägung. Hier ist noch ein weites und, wie im Kunstgewerbe, offenes Feld für die Forschung, das nur die Graphiken auf den Harnischen der Zeit überzeugend füllen. Den Bogen von der Donauschule in die deutsche Romantik, in den „Sturm und Drang“ zu spannen, erscheint in dieser Ausstellung beinahe selbstverständlich; er reicht aber noch weiter nach vor in den deutschen Expressionismus unseres Jahrhunderts, in die Bereitschaft, das Irrationale, chthonische Kräfte, oft aus einem lauteren Protest, gegen den Geist und die Ratio

zu stellen. Insgesamt repräsentiert sie sich im Verhältnis zur großen Entwicklung der Kunst ihrer Zeit als ein die Grenzen der Kunst übersteigender Protest, in dem nordisches Pathos, menschliche Anklage und Stammeseigentümlichkeiten, gepaart mit Form- und Handwerkszerfall, eine eigenartige Symbiose eingehen. Für fünf Dezennien entsteht eine faszinierende Kunst der europäischen Provinz, die notwendigerweise die Folklore abgleiten muß. Eine herrliche und erschütternde Ausstellung, die zum Bedenken und Nachdenken anregen müßte und deren Folgerungen für uns äußerst weitreichend sind.

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