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MAXIMILIAN VON CHAPULTEPEC

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Mitten im vielströmigen Verkehrsfluß der hektischen Millionenstadt Mexiko ist plötzlich ein Stocken vor weißem Marmor, ein knapper Bogen von Fahrweg und Gefährt um Bauwerk und Graben — wie um eine Insel —, ehe es zum Anprall kommt. Hier steht der „Palacio de Bellas Artes“. Und unbeobachtet geschieht hier, im Zentrum, vor aller Augen, sein merkliches Einsinken nun schon seit Jahrzehnten. Auch wer um die ursprüngliche Erhöhung von Mexikos Oper zu beherrschender Pracht (nach Pariser Vorbild) weiß, muß die Natürlichkeit des Vorgangs billigen, wie der lastende Bau mitsamt Bühnenhaus, Sälen, Garderoben und Foyers von den gewichtigen Karrara-Marmor-Blöcken hinter dem schwerelosen Vorbau in den lockeren Schwemmgrund hinabgezogen wird. Denn der Ubergang von der „Auffahrt“ — auf dem einstigen Niveau — zum abgeglittenen Hauptbau ist bruchlos geblieben und fugenlos angeebnet. In der Stadt der erschütterten Kathedralen und der aufgeworfenen Trottoirs will dergleichen nichts besagen. Auf vulkanischem Boden hat sie Hernän Cort6z in vier unglaublichen Jahren über den Trümmern der aztekischen Haupt- und Wunderstadt Tenoch-titlan und den aufgefüllten Kanälen und Buchten des längst verflossenen Texcocosees errichtet. Aber den doppelbödigen Ursprung und den unterschwelligen Aufwuchs der Stadt nehmen ihre Bewohner noch immer so gleichmütig wie alle Unruhe von Natur und Schicksal hin.

„Esta es la vida“ heißt auch das Bild im Palacio de Bellas -Artoes, ><das mit tmiVenv<Eindrin6l*ch£ei!t,- diese“,m?6iksoische. EigehtümSdhkeit 'Gätsf£MJs&ä8@n< d* Oper ist in dem Marmorbau auch ein Museum mexikanischer Maler eingerichtet. Nur selten verlieren sich aber die Betrachter der ungleich aufwendigeren und repräsentativeren' Orozcos, Riveras, Tamayos und Siqueiros in den stillen Seitensaal vor das naive Gemälde. In einem grünen Zimmer zeigt es eine ansehnliche Gesellschaft, die sich dort eben aus undurchschaubaren Gründen versammelte. Einige tafeln, andere bechern, spielen, oder sie starren nur vor sich hin. Jedoch die meisten sind noch in Bewegung. Dann aber stechen sie zu. Oder sie werden selber gestochen. So rinnt selbst aus dem Hingesunkenen noch rot das Blut, verfärbt ihre Hemden oder tropft auf den sauber geschrubbten Boden. Dort aber hat der unbekannte Maler auch die Erklärung für das unfaßliche Geschehen mit steifen Lettern hingesetzt: ESTA ES LA VIDA!

So ist das Leben, und einer mordet den anderen: der Azteke den Besiegten, der Spanier den Azteken, der Aufsässige den Bekehrer, der Fremdherr den Indio und der Revolutionär den Unterdrücker. Wo aber Blut floß, hat es den Boden mit dunkler Erfahrung durchtränkt. Nun entwächst ihm die Gewißheit ohne Schrecken. Der zerbrechliche Tod ist als bunter König und Bischof aus Ton zu Kinderspielzeug geworden. Ja, im friedlichen Land der Tarasken knabbern sogar die Fischerkinder vom Patzcuarosee alljährlich zu Allerheiligen an dem Knochenmann: er ist zu Zuckerwerk oder Bäckereien geworden. Denn so ist das mit dem Tod hierzulande. Esta es la vida ...

Das weiß jeder hier. Es ist das unausgesprochene Geheimnis Mexikos. Freilich erblicken die Anreisenden, irregeleitet vom vielstämmigen Gleichmut der Indios, bereitwillig jene legendäre „stumme Resignation“ urhaft weiterwirkend in deren ruhigen Augen, wo hinter dem dunklen Tierblick in Wahrheit nur stete Bereitschaft ist: zum Leben wie zum Tod.

Das sichtlichste Opfer dieser gefährlichen Täuschung wuchs erst im tragischen Beharren zu geschichtlicher Bedeutung. Seltsam enthüllend zeigt ein anderes Bild seine letzte Größe, indem es in entgegengesetzter Absicht die Dramatik dieses Untergangs monumentalisiert. Ungleich „gezielter“ als das naive Bild in den „Bellas Artes“ arbeitet es mit nicht minder drastischen Mitteln. Es ist Jose demente Orozcos berühmtes „Juärez“-Wandgemälde. Und es befindet sich in Maximilians mexikanisch-kaiserlicher Residenz Chapultepec.

Auf eine wunderliche, spürbar gegenwärtige Weise ist das einstige Schloß und heutige Nationalmuseum im Bannkreis der modernen Weltstadt noch immer kaiserlich, residentiell und europäisch geblieben. Die seltsame Ausklammerung beginnt bereits im Zentrum der Stadt, auf dem Weg nach Chapultepec. Dort, wo die ab „Bellas Artes“ gebührend verbreiterte Avenida des revolutionären Juärez zum unwirklichen Boulevard der einstigen Kaiserin hinzielt. Um ihrem Kaiser den täglichen Ritt in die Stadt zum Amtssitz im Cortez-Palast zu verschönern, verwandelte die belgische Königstochter die staubige Landstraße nach Mexiko in einen Boulevard von europäischer Anlage und französischer Eleganz. Aus zartblättrigem Baumwuchs, grünem Rasenbelag, hochlehnigen Steinbänken und buschgesäumten Seitenalleen, Geh- und Reitwegen, Rund- und Sternplätzen erstand die schnurgerade Avenue, die sich in vergessenen Villen, kolonialem Mauerwerk und stehengebliebenen Wegmarken am Rand noch da und dort diskret im originalen Bild rekonstruiert. Indessen ist hinter den himmelhoch aufgewachsenen Bäumen eine neue Spiegelwelt kühner Architekten erstanden, die weitaus die leichtblättrige zartverzweigte Vegetation mit ihren zweckvollen Träumen aus Glas und Beton, Neon und Marmor überragt. Und der pariserischeste Boulevard amerikanischer Prägung entwuchs dem mexikanischen Boden des freiheitsbedürftigen Kontinents als kaiserliche Illusion einer europäischen Prinzessin. So wurde der heutige „Paseo de la Reforma“ zur weiterwirkenden Bekundung von Willen und Vorstellung seiner unglücklichen Planerin, die ihre Welt im Zusammenbruch an der Wirklichkeit um sechzig vergebliche Jahre, geistig umnachtet, überlebte.

Sinnfälliger — wenn nicht gar „sinnvoller“ in seiner historischen Symbolik — vollzog sich Maximilians Sturz in die Realität. Mit frappierendem Instinkt suchte Orozco den simultanen Ausdruck für die geschichtliche und geistige Exposition, den dramatischen und anankisohen Ablauf der Maximilian-Tragödie, im überhöhten Modestil damaliger mexikanisch-kommunistischer Historienwandbilder. Was der — trotz Diego Rivera — genialste aller mexikanischen „muralistas“ fand, war die Klarlegung von Maximilians mexikanischem Abenteuer: die verblüffende Natur der Wahrheit dahinter.

Diese zeigt den Maximilian auf Chapultepec in rührend intimen Bezeugungen: Schriftstücken, Schmucksachen, Souvenirs, Gegenständen des persönlichen Gebrauchs oder in den Belegen dokumentarischen Charakters: Edikten, Urkunden und sonstigen Repräsentationen in Staat und Gala. Amt und Gesellschaft. Und das Schemenhafte formt .sich im nationalen Museum Chapultepec auf vergilbtem Papier, in verblassenden Schriftzügen, hinter Glas und Rahmen, unter brüchigem Brokat und spröd gewordenem Leder, aus blätternder Malerei und blinder gewordenem Glanz in enthüllender Kontur zum Bild des Kaisers von Chapultepec.

Der aztekische „Heusohreckenhügel“, dessen verlorene Weiher und mythische Wälder, der Überlieferung nach, schon lange vor Montezuma von den Herrn und Göttern des Landes beansprucht worden war, bot einen natürlichen Schauplatz für die erträumte Wirklichkeit im verwirklichten Traum. Hier fand der Habsburgerprinz in der Entrückung den Rückhalt. In abgesicherter Entfernung vom Regierungspalast im bedrückenden Zentrum der Stadt (und der alsbald sich überstürzenden Ereignisse) ließ er sich den vizeköniglichen Sommersitz zur Residenz nach dem Vorbild seines unvergessenen Miramare verwandeln. Nun hatte er wieder den freien Blick, zwar nicht übers endlose Meer, aber doch überfeine.unbegrenzte- Weite .hinweg.,zu,sjnnen. Hier,.ließen i'sfojbfalle Möglichkeiten* bis-zum erträumten Gelingen durchplanen, alle zerdachten Folgen bis ins letzte Detail absichern, während alle Bedenken sich wieder mit der anrollenden Brandung, wie damals in Miramare, wie von selbst zerschellten, verschäumten, verebbten...

Als in der Stadt unten, zu seinen Füßen, die Sturmflut in zornigem Anstieg schon alles mit sich riß, als selbst die letzten noch gebliebenen rettenden Brücken zurück im immer wilderen Strudel verschwanden, da dekretierte und manifestierte der alleingelassene Kaiser im fremden Land noch immer in Memoranden, Erlässen, Verfügungen und Entwürfen sein untergegangenes Reich, dessen künftige Festigung er zugleich in dringlichen und geheimen Botschaften nach Europa von seinen längst entglittenen Freunden vergeblich erflehte. Bedroht von der erblassenden Furcht des verlorenen Anspruchs, gewürdigt von dem Fluch der Lächerlichkeit des entkleideten Scheins, gelähmt von der Pein bloßgelegter Ohnmacht, verharrt er im selbstgewählten Geschick und erfüllt sich in seinem Schicksal.In letzter Behauptung von Würde und Bestimmung gleicht er dem ehrenvollen Admiral, der salutierend mit seinem Flaggschiff versinkt.

o und nicht anders enthüllt das Juärez-Bild von Chapultepec Maximilian. Mit grausamer Nacktheit zeigt es den Kaiser von Mexiko im überlangen, ausgemergelten, weißbandagierten Leichnam als gestrandetes Wrack seines Anspruchs, als einbalsamierter Torso seiner eigenen Würde, den noch die verzweifelten Lemuren der Reaktion (und sogar höchstpersönlich Napoleon III.) abstützen, wenn schon der Sieger mit überdimensioniertem Indianerblick unbewegt über den erledigten Gegner direkt in die Zukunft hinwegblickt. Um nichts dramatischer und kaum minder beiläufig hat sich wohl auch die erste und letzte Begegnung des Juärez mit Maximilian im stickigen Hinterzimmer Quere-taros vollzogen, wo man den Einbalsamierten wochenlang gegen Entree besichtigen konnte, um den Ärzten die Mumi-fizierungskosten einzubringen, die ihnen das Juärez-Regime nur zum Teil ersetzen wollte. Aber unter dem trüben Glas des Schubfensters im aufgebockten Sarg hat ein erloschener Traum in halbgeöffneten Augen so wenig Beweiskraft wie für den posthumen Schilderer, selbst wenn nicht schon damals das schwarze Auge einer heiligen Ursula vom nahegelegenen Kloster das ursprüngliche habsburgische Blau ersetzt hätte. Esta es la vida ...

Aber war da nicht noch ein anderes Bild? In Chapultepec zeigt man's den Schulkindern zu den gegebenen nationalen Anlässen, und in Queretaro findet es sich wieder in der aufgelassenen Kapelle, die Franz Joseph von Österreich seinem Bruder Ferdinand Max im dürftigen Zentralfriedhofstil an der Stätte des Sterbens erbaute. Sie ist nur eine bescheidene Filiale der umfassenden mexikanisch-nationalmusealen Unternehmen. Aber diese Sammlung reicht weit über die schmucklosen Wände hinaus, und jedes Schaustück setzt sich an Ort und Stelle fort, lebt draußen noch immer im Sonnenlicht weiter. Auf den Stufen des einstigen Altars die drei Steinplatten mit den drei eingemeißelten Namen: Mejia, Miramon, Maximilian. Hier fiel der Kaiser mit seinen Generalen, von denen er sich nicht trennen wollte. „Getreu bis zum Tod!“ Jenseits des pförtnerischen Andenkentisches, der Perlenschnüre, Steinschnitzereien und Ansichtskarten: die helle Stadt im dunklen Türbogen. Die drei Klöster, La Cruz, La Teresitas und La Capuchinas: die drei letzten Stationen des traumblinden Ganges von Miramare bis zum Cerro de las campanas, dem „Glockenhügel“ am Rand von Queretaro. Und hier somit der Ort des letzten Erwachens. Die rechte Stelle, just, zum Abschiednehmen...

Es stimmt alles. Genauso, wie das Bild es zeigt, eine Reproduktion der legendären „Originalaufnahme von der Erschießung des Kaisers Maximilian“ von Mexiko. Drüben die blauen Höhen, so seltsam entrückt und ständig ferne, wie alle Berge in diesem Land. Davor der Aquädukt des Marquis del Valle, dessen Statue auf dem verwunschenen Stadtplatz die Schützen des Juärez füsilierten, als dort noch der Kaiser unter den traumhaft verschlungenen Bäumen umherging. Später trafen sie ihn besser. Sind es die gleichen, die nun ihre Gewehre in Anschlag bringen? Sie richten sie auf den schlanken Mann, der in aufgerichteter Haltung am rechten Bildrand steht. Den mittleren Ehrenplatz hat er dem getreuen Miramon überlassen, die Golduhr dem Exekutionskommandanten übergeben, damit die Leute gut zielen und nicht sein Bild im Tod fälschen. Denn nun ist alles einfach und mit der Würde zu durchstehen, die das authentische Bild klarstellt. Im Licht der aufgebrochenen Sonne umfaßt der weitgeöffnete Blick noch einmal das Gleichnis der Welt in der unverwandelten Stadt, deren dunkelgekleidete Bewohner betroffen die Szene wie ein regloser antikischer Chor umrahmen. „Er war ein Opfer der Umstände“, sagen sie noch heute. Denn erst im erfüllten Leben zeigt sich das innerste Wesen des Menschen vom Zufall befreit und bewahrt sein gültiges Bild nach dem Tod. Nun, da Maximilian Schicksal, Bestimmung und Leben überwunden hatte, starb er, „jeder Zoll ein König“.

Esta es la vida. Drei Bilder in Mexiko haben es dreifach enthüllt. Sofern sich Leben in Bilder oder in Worte fassen läßt...

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