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Man weiß, daß sein Vater Pietro hieß. Doch wann und wo er geboren wurde, ist ungewiß. Zwei Länder, zwei Städte nennen ihn den Ihren: Italien und Jugoslawien, Venedig und Köper. Und nahm man bisher an, daß er entweder 1455 oder 1456 zur Welt kam, so neigt man nun nach den Argumenten Pignattis eher dazu, sein Geburtsdatum um das Jahr 1465 festzulegen, zehn Jahre später. Ein erstaunliches Datum, das bedeutet, daß die großartige „Ankunft in Köln“ aus dem St.-Ursula-Zyklus von ihm mit 25 Jahren vollendet wurde.

A Is Carpaccio zur Welt kommt, haben die Türken bereits Athen und die Polen Marienburg erobert. In Deutschland regiert als Kaiser Maximilian I., Leonardo da Vinci ist der Schüler Verrocchios und Piero della Francesca hat die Fresken in Arezzo vollendet. Rogier van der Weyden ist tot, Franęois Villon verschollen, Pico della Mirandola eben erst geboren. In

Florenz gelangt bald Lorenzo Medici „il Magnifico“ an die Macht, Gutenberg stirbt und Venedig entwickelt sich zum bedeutendsten Druckort und Buchhandelsplatz. Schon leben Amerigo Vespucci und Erasmus von Rotterdam, die Kapverdischen Inseln, dann die Liberiaküste werden entdeckt und der Äquator überquert. Die Welt ist nach der Unruhe, die sie um die Jahrhundertwende ergriffen hatte, in vollem Aufbruch auf eine neue Epoche zu. Aus Flandern war die präzise Technik der Ölmalerei nach Italien gekommen — ihre großen Meister, Hubert und Jan van Eyck, waren bereits 1426, respektive 1441, gestorben. Der einzige italienische Maler, der durch sie entscheidend beeinflußt wurde, Antonello da Messina, verband ihre Liebe zum Detail mit südlicher Formanschauung und folgte ihrer realistischen und unemotionellen Haltung in seinen großartigen Meisterwerken. 1475 bis 1476 ist er in Venedig und malt das Altarbild von

5. Cassiano (das man nur mehr aus Kopien und den Fragmenten in Wien kennt) und wirkt umwälzend auf die venezianischen Künstler ein. Besonders auf Giovanni Bellini und — Carpaccio, der von der lichtvollen abstrakten Geometrie des Südländers zutiefst beeindruckt wird. ,

Schon das erste bekannte Bild des zur jugendlichen Meisterschaft schnell Heranreifenden, der „Salvator Mundi mit den vier Aposteln“ (um sein fünfzehntes Lebensjahr gemalt!) zeigt im Aufbau und im Detail den Einfluß des genialen Meisters. Auch über Alvise Vivarini und Giovanni Bellini nimmt Carpaccio Elemente des Messinaten auf, Wirkungen Mantegnas sind festzustellen und — darf man seinen Augen trauen — sogar solche Cosme Turas und Pieros. Dies alles aber verschmilzt zu einem so bedeutenden Werk eigener Prägung, daß die bisher größte Ausstellung seiner Arbeiten im Dogenpalast (15. Juni bis

6. Oktober 1963) für viele zu einer Neuentdeckung seiner vollkommen originalen und zauberhaften Größe wird.

Kam er nun aus der Fremde oder wurde er in ihren wasser- umspülten Mauern geboren, es gilt gleichviel - Venedig, diese einzigartige Vermählung des Himmels mit dem Meer und des Meeres mit einer Stadt, formte seinen Genius, und sein Genius spiegelte sie ergriffen und liebevoll wieder. In seinen Bildern ist ihre Luminosität, der Zauber des Lichtes über der Lagune - rosa, grau, gelblich - und ihre Architektur und ihre Menschen sind der Zeit und Vergänglichkeit entrückt, wie ein angehaltener Atem ewig gegenwärtig. Und noch mehr als das. Die meerumspannende Größe Venedigs eint sich in ihnen in einem weiteren Rätsel: orientalische Architektur aus Candia und Jerusalem taucht in seinen Bildern so topographisch genau wiedergegeben auf, daß man mutmaßt, er müsse dort gewesen sein oder zumindest die Zeichnungen des „Peregrinatio" oder Gentile Bellinis, der am Hofe Mohammeds II. war, benutzt haben. Keine andere Stadt hatte einem ihrer Künstler diese Weite zu bieten, die schnellen Galeeren der Republik verbanden den vorderen Orient mit dem Abendland, das immer wieder emsig gespannte Netz ihres Handels reichte bis in die Fernen der Tatarei nach China.

Auch sonst wurde Carpaccio zum typisch venezianischen Maler. Sein Hauptwerk stempelt ihn zum Maler der „Scuole“, einer einzigartigen venezianischen Einrichtung von Brüderschaften zu wohltätigem Zweck, deren Sitze von Künstlern auf das Großartigste ausgestattet wurden, wie etwa fast hundert Jahre später die Scuola San Rocco von Tintoretto. Carpaccio hat nicht weniger als vier (San Orsola, degli Albanesi, San Giorgio degli Schiavoni, San Stefano) mit Bildern ausgestattet, wobei zwei der Bilderzyklen (San Orsola und San Giorgio degli Schiavoni) noch vollständig in Venedig erhalten sind, während die anderen ihren Weg in alle Welt fanden.

Der erste Zyklus, den Carpaccio malte und mit 25 Jahren durch ein so bedeutendes Meisterwerk wie die „Ankunft in Köln“ einleitete, war der der Legende der heiligen Ursula. Sie erschien bereits 1263—1273 in der „Legenda Aurea“ des späteren Eizbischofs von Genua, Jacobus de Voragine, und kam in einer italienischen Übersetzung aus dem Lateinischen von Nicolo Manerbi 1475 in Venedig heraus. Sie erzählt, daß der König von England, Conone, für seinen Sohn Ereo die Tochter des Königs der Bretagne, namens Orsola, erwählte und Gesandte an dessen Hof schickte. Orsola willigte ein unter der Bedingung, daß Ereo sich mit ihr nach Rom begebe und dort taufen lasse. Ereo kam in die Bretagne, traf seine Verlobte und reiste mit ihr nach Rom, wo er sie heiratete und beide den Papst Cyriacus trafen. Mit ihm und ihrem Gefolge von elf tausend Jungfrauen brachen sie wieder gegen Norden auf, um die noch heidnischen Völker zu bekehren, wurden aber bei Köln durch die Hunnen in einem furchtbaren Gemetzel dem Märtyrertod anheimgegeben.

Ein Biy dieses mit sanfter Gewalt die Seele bewegenden Zyklus hat Gabriele d’Annunzio zu lyrischen Huldigungen veranlaßt („Ah, in che pūro e poetico sonno pose la vergine Orsola sul suo letto immacolato .. .“) und wird immer wieder reproduziert. Es ist „Der Traum der heiligen Ursula“, der ihr bei ihrem ersten Aufenthalt in Köln auf der Reise nach Rom das Martyrium verheißt. Von erhöhtem Standpunkt blicken wir in ein Frührenaissancegemach. Links liegt, den Kopf in die Hand gestützt, Orsola in einem Baldachinbett und rechts tritt mit dem erhellenden Lichteinfall gemessenen Schrittes ein Engel ein, die Palme des Märtyrertums in der Hand, still und feierlich. Das Zimmer hat alle Atmosphäre der Wirklichkeit, eines Raumes, in dem mit liebevoller Anteilnahme am Leben, jedes Detail existent ist — von den Statuen über den Türen bis zur Sanduhr auf dem Tisch, dem Schreibzeug, Büchern und Kerzenleuchtern, dem Weihwasserbecken und dem schläfrigen, echt venezianischen weißen Hündchen am Fuße des Bettes. Und doch liegt eine eigenartige Stimmung über dem Bild. Es ist Nacht und doch ist die Helligkeit nicht die der Nacht. Das Licht ist wirklich und unwirklich zugleich. Es ist das Licht eines Traumes, einer Vision, in der alle Wirklichkeit fragwürdig und voll tiefer Bedeutung erscheint. Überlang streckt sich die heilige Ursula aus, der Engel wirkt gegen sie klein, und die scheinbare Perspektive dient nur zur imaginären Verfestigrung der Realität. Was wir hier erleben, ist Wirklichkeit und Legende zugleich, entrückt nicht in die Stimmung des Märchens, sondern in eine verzauberte Welt, deren Magie — im Kopf der heiligen Ursula, in seiner schlichten Naivität — etwas von der Unschuld des „gabelou“ Henri Rousseau besitzt.

Darin liegt eine der eigenartigsten Erscheinungen des Phänomens Carpaccio — die Verbindung von manchmal naivem Realismus mit sehr bewußten Formulierungen, die Aufbau und Raum betreffen, ein Zwiespalt, der in der Luminosität der Figuren Carpaccios eine Entrücktheit schafft, die nicht von dieser Welt ist. Wahrscheinlich ist es das Licht, das diese merkwürdige Ab- gehobenheit von der mit aller Genauigkeit geschilderten Wirklichkeit trägt, ein Licht, das zutiefst venezianisch ist und in

Giorgione seine Vertiefung ins Sinnliche erfuhr, ein Licht, nicht greifbar und schwebend, das um jede Figur und zwischen jeder Figur zu weben scheint. Dazu kommt, daß sich, nicht nur im Orsola-Zyklus, die Gestalten nie in die Tiefe bewegen, sie stehen wie auf einem Schachbrett, für sich und in Gruppen, als Stationen eines wohl wirklichen und doch imaginären Raumes, ohne daß ihnen — durch sehr subtile Mittel des Malers — die räumliche Verbindung fehlt. Aber noch ephemer, zeitbedingt, sind sie nicht durch eine umfassende Atmosphäre geeint. Das Nahe erscheint in gelassener Stilisierung fern und das Ferne durch die Akribie des Details nah, wir sehen beides gleichzeitig in derselben Intensität, eine vollkommene unillusionistische Haltung, die sich nur illusionistischer Mittel bedient, um das Wunderbare der Wirklichkeit und der Legende deutlich zu machen. Veranlagung, Zeit und Erbe zugleich sind hier wirksam und treffen sich in einer merkwürdigen Vereipigung subtilen Bewußtseins.

Wohl eines der großartigsten Bilder dieser mit hervorragendem Geschmack arrangierten Ausstellung (wann werden wir davon lernen!) ist der aus dem Zyklus der „Scuola di San Giorgio“ stammende „Hl. Augustin im Studierzimmer“. Früher als Hl. Hieronymus bezeichnet, überzeugt die neue Interpretation von Helen I. Roberts, daß es sich um jenen Augenblick handle, in dem der heilige Augustinus, an den heiligen Hieronymus schreibend, in seinem Zimmer von einer Lichterscheinung und der Stimme seines Bruders überrascht wird und vernimmt, daß jener gestorben und in den Himmel aufgenommen ist. Das auf Rot-Grün = Grau gestimmte Bild ist vielleicht der Gipfel des Schaffens Carpaccios überhaupt. Rechts sitzt der Heilige am Tisch — der in Augenhöhe steht — aufgęschreckt, die Feder gezückt. Zwei Drittel des Bildes gehören dem Raum seines Studierzimmers, in dem wieder einer jener possierlichen, wolligen venezianischen Hunde auf der relativen Leere der Fläche der stark gegliederten anderen Hälfte des Bildes als genialer Akzent liebevoll die Waage hält. Die Schatten des Raumes stechen in spitzen Winkeln auf den Boden ein, und wie bedeutungsvoll ist dieser Raum, der sich in strenger Perspektive noch in eine Nebenkammer zu öffnen scheint. Die Szene repräsentiert, wie schon Ruskin bemerkte, alle Künste. Bücher und Manuskripte sind gegenwärtig, Musikbeispiele, weltlich und geistlich, eine Er- löserstatue, ein Himmelsglobus, eine Muschel, venezianische Flaschen, antike Statuen, Siegel, Medaillen, Gemmen: Symbole und Andeutungen des humanistischen, christlich orientierten Bewußtseins Carpaccios. Aus diesem und seinen anderen Bildern, wie etwa dem „Ritterbildnis“ aus der Sammlung Thyssen, mit seinen symbolischen Anspielungen, müssen wir auf einen wachen, lebendigen Geist schließen, der Naivität mit intellektueller, ja manieristischer Spekulation verband, wie dies die Tafel mit dem gestorbenen Christus beweist. Was aber Carpaccio verstand, was er tat, war Bewußtsein mit Wirklichkeit zu einen, und daraus eine Übernatur herzustellen, deren Genauigkeit immer nur wieder auf ein Höheres der Realität hinweist.

Man hat schon richtig bemerkt, daß er niemals in seinen Erzählungen die Dramatik betont, das Geschehen erscheint wie suspendiert, aufgehoben, entrückt. Die Objektivität, die Carpaccio seinen Details zukommen ließ, eine Objektivität, die von höchster Eindringlichkeit und Liebe zeugt, einer Liebe, die den Blick nicht verwirrt, kennzeichnet auch das verhaltene Drama seiner Kompositionen. Ob es der feierliche rot-weiße Zug der Bischöfe der Ursula-Legende ist oder die rot-grüne Erregung der Steinigung des heiligen Stephanus, alles Äußerliche scheint zurückgenommen zugunsten einer inneren schwebenden Wahrheit, die nicht mehr von dieser Welt ist. Daß er ein hervorragender Zeichner war, versteht sich am Rande. Einige seiner in Venedig ausgestellten Zeichnungen gehören zu den Spitzenleistungen europäischer Graphik — ob es sich nun um die sphärisch-plastisch sich wölbenden (Cėzanne!) Mönchsköpfe, die Kompositionen oder die Studien nach einem Ritter handelt. Die Mostra Vittore Carpaccio entstaubt einen großen Maler, der bisher nur den Cognoscenti gehörte, und führt ihn sowohl als einmalige wie auch als bindende Erscheinung in jenes Kunstgespräch ein, das immer mehr und mehr um die Wurzeln des Abendlandes und um seine Tradition kreisen muß.

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