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Der Bibliothekar des Vatikans

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Wer sich einige Zeit in Rom aufhält und die italienische Sprache beherrscht, dem fällt auf, daß der Volksmund sehr häufig die Redewendung gebraucht: „Fleißig wie Mercati ... Anspruchs- lo wie Mercati... Ein Frühaufsteher wie Mercati...“ Erkundigt man sich, was es mit diesen geflügelten Worten für eine Bewandtnis hat, vernimmt man die erstaunte Gegenfrage: „Was, Sie haben noch nie vom .Kardinal ohne Purpur' gehört?“

Gemeint ist der 91jährige Bibliothekar und Archivar des Vatikans, Kardinal Giovanni Mercati. Obwohl der großgewachsene bärtige Gelehrte selten über die Tiberbrücke in die Stadt kommt — jeder Tag wird ihm zu kurz —, weiß die Bevölkerung über seine Lebensweise genau Bescheid. Seine Tageseinteilung läuft seit Jahrzehnten wie ein Uhrwerk ab.

Giovanni Mercati ist wie der Heilige Vater ein Frühaufsteher. Punkt 4 Uhr erhebt er sich in der Torre Borgia von seinem Lager. Um 5 Uhr liest er die hl. Messe, meditiert noch eine halbe Stunde, dann nimmt er das Frühstück ein. Anschließend wandert er mit großen Schritten auf der Terrasse seines Heimes auf und ab und rezitiert im Unisono der jubelnden Vögel das Brevier. Häufige Kniefälle unterbrechen seine Wanderung. „Mercati hält im Gebet seine Glieder gelenkig", spricht man ihm nicht zu Unrecht nach.

Um 7 Uhr betritt Giovanni Mercati sein Arbeitsreich, die Vatikanische Bibliothek. Er ist ihr Präfekt, Hüter, Vermehrer und Schatzsucher. Die Vatikanische Bibliothek zählt wegen des Seltenheitswertes ihrer Codices, Manuskripte, Inkunabeln und den mehr als 600.000 gedruckten Bänden zu den kostbarsten Bibliotheken der Welt. Unter Papst Martin V. im Jahre 1417 begonnen, von Papst Nikolaus V. und Papst Sixtus V. vervollständigt, stellt sie heute für jeden Wissenschaftler eine unerschöpfliche Fundgrube dar. Ihr angeschlossen ist in weiteren 25 Zimmern das bis ins 4. Jahrhundert auf Papst Damasus I. zurückreichende Archiv untergebracht. Es enthält eine Menge der wichtigsten Urkunden, besonders aus dem Mittelalter, die päpstlichen Regesten, sämtliche Bullen von Innocenz III. an sowie die Korrespondenz mit Nuntien und fremden Höfen.

Umhäuft von antiken Pergamentrollen und Schweinslederbänden, vertieft sich hier Mercati in seine wissenschaftlichen Forschungen. Wegen seiner geschwächten, überanstrengten Augen muß er dabei eine starke Lupe zu Hilfe nehmen. Ohne Unterbrechung arbeitet er von 7 Uhr bis 13 Uhr. Erst nach dem schlichten Mittagmahl in seinem Heim in der Torre Borgia gönnt er sich eine Ruhepause. Um 15 Uhr ist er wieder in der Bibliothek, wo er nun bis 20 Uhr bleibt. Sein tägliches Arbeitspensum beträgt runde elf Stunden.

Den Rest des Abends verbringt Mercati auf der Terrasse seines Heimes. Eine Tasse Bohnenkaffee hat ihn aufgemuntert, nun nimmt er Kontakt mit der Außenwelt auf. Der „Osservatore Romano“, das Organ des Vatikans, unterrichtet ihn über das politische Geschehen der Gegenwart. Während des Lesens ißt er einige Früchte. Das Körbchen wird täglich gefüllt. Obst ist die Hauptnahrung des greisen Kardinals.

Rund um die Torre Borgia ist es still geworden in der Natur. Fern im Westen verdämmert das letzte Tageslicht. Noch einmal sinkt der 91jährige Gelehrte in die Knie und dankt unter freiem Himmel dem Schöpfer für den Reichtum dieses Tages. Das Herz des Bibliothekars hängt diesmal an einer alten Majuskelhandschrift, die er im Archiv entdeckte und von der niemand etwas wußte. Wird er die Uebersetzung vollenden dürfen? Demütig bittet er noch um eine Fristverlängerung: „Aber, Herr, nur Dein Wille geschehe ..."

Seit 70 Jahren lebt Giovanni Mercati anspruchslos wie ein Mönch der strengen Ob servanz. Nur einmal im Jahr sieht er von der genau geregelten Tageseinteilung ab — wenn er Exerzitien hält. Es ist der einzige ,,Urlaub“, den er sich gönnt. An der unbegrenzten Quelle aller Kraft schöpft der betagte Bibliothekar neue innerliche Stärke, die ihn auch die Bürde des Alters leichter tragen läßt.

Die Schweizergarde nennt ihn den Spartaner des Vatikans. Die spartanische Lebensweise ging Mercati schon um 1890 in Fleisch und Blut über, als er noch in Mailand in der Ambrosiana arbeitete. Als er zum erstenmal diese von Erzbischof Federico Borromeo im Jahre 1609 gegründete Bibliothek betrat, überwältigte ihn beim Anblick der 8400 berühmten Handschriften und 400.000 Drückbände ein heiliger Schauer. Heißhungrig verschlangen seine Augen ein Palimpsest des 5. Jahrhunderts mit den übersetzten Paulinischen Briefen. In der Ambrosiana. aus der von je höchste gelehrte Würdenträger der Kirche hervorgegangen, verschwor sich Giovanni Mercati restlos der Wissenschaft.

Von Mailand nach Rom berufen, behielt Giovanni Mercati seine persönliche Anspruchslosigkeit bei. Er ging auch nicht von ihr ab, als Papst Pius XL, der ebenfalls der Ambrosiana angehört hatte, seinem ehemaligen Arbeitsgefährten im Jahre 193 5 den roten Kardinalshut verlieh. Achille Ratti war als Erzbischof von Mailand Kardinal geworden. Er scheute sich aber

-Irr t -ms . put e 0gv 'iftoU TiU . U .P t 70W nie zii sagen, er hätte den Kardinalshut lieber unter demselben Titel wie Mercati, als Anerkennung der höchsten Gelehrsamkeit eines Priesters, empfangen. Eine seltene Auszeichnung, die auch Baronio, Mai und Hergenröther zuteil wurde.

Nach der Investitur fiel Giovanni Mercati, als dem Aeltesten der neuernannten Kardinale, die Aufgabe zu, die üblichen Dankesworte auszudrücken. Ueberraschend fügte er noch einige Sätze an. Er dankte nochmals persönlich dem Heiligen Vater für die Ehrung, die in seinem Fall der Wissenschaft zuteil wurde. Seit je zähle es zur Tradition der katholischen Kirche, die Kultur zu fördern, somit auch die Freiheit des Geistes, die die Voraussetzung jeder wahren Kultur ist. Freiheit des Geistes sei doppelt notwendig und heilig in einer Zeit, in der einzelne Menschen, entgegen dem göttlichen Gebot, Persönlichkeitskult beanspruchen, Gewalt an Stelle des Rechtes setzen und ihre Mitmenschen nach Willkür unterdrücken. Unter dem Patronat der Kirche habe die Wissenschaft gerade jetzt eine ernste Aufgabe zu erfüllen.

Giovanni Mercatis Worte wurden außerhalb des Vatikans gehört und verstanden. In allen Ländern, wo der politische Despotismus an der Macht war, stimmten mutige Gelehrte in seinen Kampfruf für die Freiheit des Geistes ein.

Giovanni Mercatis Ansehen als Gelehrter basiert auf mehr als 3000 wissenschaftlichen Abhandlungen. Als Kenner des klassischen Altertums sowie als Byzantologe ist er weltberühmt. Als Historiker kennt er wie kein anderer die lateinische und griechische Literatur. Er ist ein unübertrefflicher Meister im Entziffern schwieriger Palimpseste, das sind über tausend Jahre alte Handschriften, deren ursprünglicher Text beseitigt und durch jüngeren ersetzt wurde. Die Chronisten Wollten auf diese Weise rares Schreibmaterial sparen, vernichteten aber dabei sehr wertvolle Aufzeichnungen. Hilfsmittel zum Wiedererkennen der älteren verwischten Schrift sind die Differentialfarbenphotographie und das Fluoreszenzverfahren. Während andere Spezialisten lange an der Materie herumrätseln und im Dunkeln tappen, gelingt es dem 91jährigen Mercati, oft nur mit Hilfe seiner Lupe, einen ausradierten Text in Unziale des 6. oder 7. Jahrhunderts zu entziffern.

Giovanni Mercati gilt als einer der größten lebenden Interpreten der humanistischen Geschichte. Vor elf Jahren, anläßlich seines 80. Geburtstages, wurden seine wissenschaft- liehen Abhandlungen, die er in verschiedenen Sprachen geschrieben, gesammelt herausgegeben. Sie umfassen sechs dicke Bände. Das Lebenswerk eines Menschen, der sich morgens mit dem ersten Vogellaut zur Arbeit erhebt, bewußt auf leibliche Bequemlichkeit verzichtet, um mit desto höherer geistiger Potenz der Wissenschaft zu dienen. Deshalb das geflügelte Wort der römischen Bevölkerung: „Ein Frühaufsteher wie Mercati... Fleißig wie Mercati... Anspruchslos wie Mercati .. .

Der „Kardinal ohne Purpur“, wie ihn auch die Römer nennen, kleidet, sich wie ein einfacher Landgeistlicher. Nur an hohen kirchlichen Festtagen oder, wenn der Heilige Vater in Erscheinung tritt, trägt er den Purpurmantel. Mercati bewohnt noch immer dasselbe Heim in der Torre Borgia, wo er vor Jahrzehnten einzog. In der Bibliothek lehnt er jede Bedienung ab. Der Ein undneunzigjährige sucht sich selbst aus den Regalen die erforderlichen Arbeitsunterlagen. Er, liebt es auch nicht, wenn in der Anrede seine Kardinalswürde betont wird.

In Villa Gaida, einer kleinen Ortschaft in der Provinz Reggio Emilia, erblickte Giovanni Mercati das Licht der Welt. Das Dorf ist stolz auf ihn und seine beiden Brüder Angelo und Silvio. Alle drei Mercatis studierten. Obwohl im Aussehen sehr verschieden, kennzeichnete sie derselbe legendäre Arbeitseifer, dieselbe Weltanschauung und tiefe Religiosität. Auch Angelo wurde Priester. Als hervorragender Gelehrter wurde er wie Giovanni in den Vatikan berufen. So kam es, daß lange Zeit zwei Mercatis hinter der Bronzetür lebten; Angelo Mercati als Präfekt des Archivs. Es war ein prächtiges Arbeiten, ein gegenseitig ergänzendes Schaffen. Im Vatikan kursierte über das unzertrennliche Brüderpaar ein Scherzwort: „Die Mercatis essen keinen Apfel ungeteilt."

Monsignore Angelo Mercati starb im Jahre 1955. Der Tod ereilte ihn am Schreibtisch. Als wollte er nur einen Moment ausruhen, legte der Archivar sein Haupt auf die Arme — und verschied. Als Giovanni Mercati angesichts des toten Bruders die Hände zum Gebet faltete, liefen Tränen über seine Wangen. Schluchzend strich er ihm bei der Aufbahrung über das silberne Haar. Noch nie hatte man den damals 88jährigen Kardinal so erschüttert gesehen.

Sein anderer Bruder, Silvio, nun auch schon nahe an die Achtzig, bärtig wie Giovanni Mercati, ist Professor für byzantinische Literatur an der Römischen Universität. Er. zählt JJJ, den Origįttąlep,:c er Tib. stadt. Ėi typischer Bücherwurm, verbringt er šeini' Freizeit in den Antiquariaten. Auch er lebt wie ein Spartaner, trägt nur selbstangefertigte Sandalen und ist ein leidenschaftlicher Verfechter der Naturheilkunde.

Seit dem Tod Angelo Mercatis kommt sehr häufig aus Villa Gaida eine Schwester den Kardinal besuchen. Eine einfache Landfrau, die die Atmosphäre des Heimatdorfes in die Torre Borgia mitbringt. Während der Wintermonate führt sie dem Bruder die Wirtschaft. Dann unterhalten sich die Geschwister im Dialekt Reggio Emilias, und der alte Kardinal läßt sich alle Neuigkeiten berichten. Trotz seines weltumfassenden Wissens ist sein Herz im Dörfchen Villa Gaida verwurzelt geblieben.

Auch die vielen Jahre, die Giovanni Mercati in Mailand verbrachte, haben sich unauslösch- bar in seiner Erinnerung eingeprägt. Dort nannte man ihn den „geistigen Sohn“ des großen Orientalisten Anton Ceriani, der damals als Direktor der Biblioteca verstand. Ceriani war es gewesen, der den Jüngling zu sich in die Ambrosiana berief und ihn sofort als fähigen Nachfolger erkannte. Ceriani wurde ihm ein Vorbild, dem er nacheiferte. Von ihm lernte er, daß in den frühen Morgenstunden die geistige Arbeit am fruchtbarsten ist. Ceriani stand um 4 Uhr auf und war um 7 Uhr, wenn die übrigen Mitarbeiter in der Bibliothek eintrafen, bereits von einem Berg Inkunabeln, Codices und Palimpseste umgeben. Er war von einem solchen wissenschaftlichen Eifer besessen, daß er sich oft mittags mit einem Trinkei und einem Stück Brot zufriedengab, um nur ja nicht die Arbeit unterbrechen zu müssen. „Eine gesunde Lebensweise erfordert nicht viel Nahrung“, war sein Prinzip. „Wichtig ist, daß der Körper nicht durch das viele Sitzen zu Schaden kommt. Vor und nach der Arbeit marschierten Ceriani und sein „geistiger Sohn" im militärischen Eilschritt eine Stunde ins Grüne und atmeten tief die frische Luft ein.

Diese Eilmärsche hat Giovanni Mercati auch in Rom bis vor einigen Jahren beibehalten. Bei argem Schlechtwetter im Spätherbst oder in den Wintermonaten legte er die gewohnten Kilometer vor Anbruch des Tages in den langen Fluren des Vatikans zurück. Aus der Zeit des Pontifikates Pius XI. berichtet eine Anekdote, daß Mercati einmal in zwei Paar dicken Socken statt in Schuhen marschierte, um niemand die Ruhe zu stören. In diesem Aufzug begegnete er dem Heiligen Vater, der ebenfalls auf einem ausgedehnten Frühspaziergang innerhalb des Vatikans begriffen war. Unerwartet standen sich die beiden ehemaligen Arbeitsgefährten gegenüber. „Sind die Zeiten so schlecht geworden“, soll Pius XL humorvoll gefragt haben, „daß sich die Eminenzen keine Schuhe mehr leisten können?" Mercati, den von Mailand her eine herzliche Freundschaft mit Achille Ratti verband, überwand seine Verlegenheit und meinte: „Die meisten Eminenzen haben nicht einmal Strümpfe an." Das stimmte. Es war erst 3.30 Uhr. Der Pontifex und der gelehrte Kardinal setzten die unterbrochene Wanderung gemeinsam fort und waren im Nu in ein hochwissenschaftliches

Gespräch vertieft — wie einst in der Ambrosiana.

Wie sehr Giovanni Mercati auf seine Zeit bedacht ist, geht aus einem Vorfall hervor, der sich vor drei Jahren zutrug. Einem .namhaften Journalisten war es gelungen, unbemerkt bis zu dem Gelehrten vorzudringen. „Was wollen Sie von mir?“ schreckte Mercati von der Arbeit auf. Dem Journalisten war es um ein Interview zu tun. „Die Ehre, Eminenz kennenlernen zu dürfen“, erklärte er mit devotem Lächeln. Mercati, der, wie bereits erwähnt, jeden Persönlichkeitskult haßt, faßte sich kurz und bündig: „Ich heiße Giovanni Mercati und habe keine Ehren zu vergeben, noch weniger Zeit zu verschenken, da ich 88 Jahre alt bin. Nun wissen Sie alles. Gehen Sie, bitte.“ Er nahm die Lupe wieder auf und vertiefte sich in ein griechisches Palimpsest.

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