Niemals lachend, niemals traurig...

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Vor 1700 Jahren wurde Martin von tours, einer der volkstümlichsten Heiligen, geboren. sein erster Biograf malt ein klischeehaftes Bild von ihm.

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Vor 1700 Jahren wurde Martin von tours, einer der volkstümlichsten Heiligen, geboren. sein erster Biograf malt ein klischeehaftes Bild von ihm.

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Spätestens gegen Ende Oktober, wenn Rilke wieder einmal recht behält ("Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. / Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben "), und der Herbst schon fortgeschritten ist und an die bald einmal fällige Martinigans erinnert, läuft selbst eingefleischten Atheisten das Wasser im Mund zusammen. Die kommt aber erst am 11. November zu Sanct Martini auf den Tisch. Wenn an diesem Abend zu Ehren des heiligen Bischofs von Tours der Laternenumzug stattfindet (ein Brauch, der sich in einigen Gegenden bis heute erhalten hat), gehen sogar jene auf die Straße, die mit der Kirche wenig am Hut haben und über den beliebten Heiligen kaum Bescheid wissen.

Solche Unkenntnis hat ihren Grund auch darin, dass die Quellenlage nicht sehr ergiebig ist. Es gilt dies zumindest für die erste erhaltene Lebensbeschreibung. Die verdanken wir dem in Aquitanien, in der Gegend zwischen den Pyrenäen und der Garonne geborenen Rechtsanwalt Sulpicius Severus, der gegen Ende des vierten Jahrhunderts eine Vita Martini verfasste, in der sich Belobigung und Bewunderung des geistlichen Lehrmeisters gegenseitig bedingen.

O wahrhaft seliger Mann, an dem kein Falsch war! Keinen hat er gerichtet, keinen verurteilt, keinem Böses mit Bösem vergolten! Ja eine solche Geduld hatte er angesichts aller ihm zugefügten Ungerechtigkeiten, dass er sich auch von den untersten Klerikern ohne Wehr beleidigen ließ. Niemand sah ihn jemals zornig, niemand aufgeregt, niemand traurig, niemand lachend; immer blieb er gleich. Himmlische Freude trug er auf seinem Gesicht; er erschien als einer außerhalb der Natur des Menschen.

Martin bleibt in dieser Schilderung völlig profillos. Die Darstellung ist frisiert, die Gestalt stilisiert, die Persönlichkeit idealisiert. Es handelt sich um einen typischen, also um einen stereotypen Text, der wie ein serienmäßig fabrizierter Heiligenschein zu Aberhunderten anderer Christenmenschen passen würde, die im liturgischen Kalender ihren Platz behaupten.

Im Lauf der Jahrhunderte haben die Geschichtsforschenden dann doch einiges herausgefunden, das uns ermöglicht, das Leben dieses volkstümlichen Heiligen in etwa zu rekonstruieren.

Der Mann mit dem halben Mantel

Geboren wird Martin um 316 in der römischen Provinz Pannonien, dem heutigen Ungarn, als Sohn eines römischen Offiziers. Als sein Vater nach Pavia versetzt wird, lässt sich Martin dort unter die Taufbewerber einreihen. Im Alter von 15 Jahren tritt er auf Wunsch seines Erzeugers bei einer römischen Reiterabteilung in Gallien in den Heeresdienst; man hatte damals offenbar nichts einzuwenden gegen Kindersoldaten. 351 empfängt er von Hilarius, dem späteren Bischof von Poitiers, die Taufe. Vier Jahre später gelangt er zu der Einsicht, dass Jesusnachfolge und Waffendienst miteinander unvereinbar seien und scheidet aus dem Militär aus. Bislang ist noch kein Papst auf den Gedanken verfallen, ihn zum Schutzpatron derer zu ernennen, die aus Gewissensgründen den Wehrdienst verweigern.

Nach dem Austritt aus dem Heer lebt Martin zunächst auf der bei Genua gelegenen Insel Gallinara als Einsiedler. Anschließend zieht er nach Poitiers und gründet an dem nicht weit entfernten Ort Ligugé eine Siedlung für Einsiedler, die sich später zu einem berühmten Kloster mausert. Um 372 wird Martin Bischof von Tours und errichtet auch in Marmoutier ein Kloster, das sich schnell zu einem in ganz Gallien bekannten geistlichen Zentrum entwickelt. Als Vorsteher dieser Diözese pflegt er weiterhin eine monastische Lebensweise.

Dargestellt wird der heilige Martin zumeist als Soldat, hoch zu Ross, mit Helm und Schwert und Mantel und einem Bettelmann zu seinen Füßen. Denn einem solchen soll er einst, als er noch ungetauft den Göttern opferte, vor dem Stadttor zu Amiens die Hälfte seines Mantels geschenkt haben. Warum aber nicht das ganze Kleidungsstück? Militärhistoriker belehren uns, dass ein römischer Soldat damals seinen Mantel zur Hälfte aus eigener Tasche bezahlen musste; der Rest wurde aus der kaiserlichen Schatulle zugeschossen. Martin hat demnach nur den Teil seiner Chlamys weggegeben, über den er frei verfügen konnte.

Nachdem Basel 1529 sich zur Reformation bekannt hatte, wussten die Neugläubigen nichts Gescheiteres zu tun, als den Bettler von der Martin-Skulptur an der Münsterfassade wegzumeißeln und den beliebten Heiligen in einen kommunen Kämpen zu verwandeln.

Martins Mantelhälfte indessen, die capa, wie man auf Lateinisch sagte, wurde in einer eigens dafür gebauten Capella aufbewahrt, zu deren Betreuung man einen Capellanus bestellte. Ohne diese Reliquie gäbe es heute weder Kapellen noch Kapläne.

Weniger den zahlreichen über ihn zirkulierenden Legenden, als vielmehr Martins Sterbetag im November 397 ist es zu verdanken, dass sich zu seinen Ehren allerlei Brauchtum entwickelte, das in dem weiten Feld von Frömmigkeit und Fröhlichkeit anzusiedeln ist. Vom Mittelalter bis in die beginnende Neuzeit hinein haben die kirchlichen Autoritäten den Christenmenschen von Sankt Martini bis Weihnachten, will sagen vom 11. November ab Beginn der Geisterstunde bis zum 24. Dezember um Mitternacht ein strenges Fasten verordnet.

Der Gedenktag des Heiligen fiel demnach auf den Tag vor Beginn der vorweihnachtlichen Fastenzeit. Die beinhaltete neben dem Verzicht auf Fleisch auch die Enthaltung von allen Nahrungsmitteln, die von Warmblütern stammen. Untersagt waren also auch Eierspeisen, tierische Fette, Butter, Milch, Quark, Fleischbrühe Heutzutage geben sich wohl die wenigsten Veganer und Veganerinnen Rechenschaft darüber, dass sie aufgrund ihrer Essgewohnheiten mit der mittelalterlichen römischen Kirche fast bis zum Katholischwerden verbunden sind.

Martinigans, Maroni und Vino Novello

Dazu kam die sogenannte Fastenruhe. Das bedeutete, dass nicht nur lärmige Festivitäten, sondern auch jede Art von Rechtsgeschäften aufs Strengste untersagt waren. Von daher versteht es sich von selbst, dass der Martinstag zu einem wichtigen Zinstermin wurde. An dem besagten Datum fanden damals der übliche Gesindewechsel und der letzte große Jahrmarkt statt. Dass es dabei recht feuchtfröhlich zuging, lag in der Natur der Sache -und an der Jahreszeit.

Die Gänse hatten den Sommer über Fett angesetzt, der neue Wein hatte die richtige Gärung gerade erreicht -und damit ist endlich das Geheimnis gelüftet, wie der heilige Martin zur Gans und die Weinbauern zu ihrem Patron kamen. Tatsächlich fällt ja sein Festtag in etwa mit dem Datum zusammen, an welchem der Beaujolais primeur heute mittels Tankwagen in sämtliche europäische Hauptstädte gekarrt wird. In Italien hingegen ist es Brauch, dass man sich am Abend des 11. November im vertrauten Kreis zusammensetzt und vom Vino Novello kostet; dazu gibt es jede Menge gerösteter Maroni.

Dass beim Gansessen zu Martini immer schon eine ausgelassene Stimmung herrschte, dokumentieren ein paar Verse aus einer Handschrift aus der Zeit um 1400, welche man damals wohl zum Auftakt des Gelages anstimmte: Martein lieber herre nu lass uns fröleich sein / heint [heut'] zu deinen eren und durch den willen dein. / dy genns solt du uns meren und auch küelen wein, / gesoten und gepraten sy müessen all herein.

Während die Gänse aus sehr profanen Gründen ihre Federn lassen müssen, scheint den in manchen Gegenden noch üblichen Fackel-und Laternenumzügen am Abend des Festes eine frömmere Ursache zugrunde zu liegen.

Ein handgeschriebenes aus dem 11. Jahrhundert stammendes Missale aus Monte Cassino jedenfalls sah für die Messe am Martinstag einen Evangelientext vor, in dem es unter anderem heißt: "Legt euren Gürtel nicht ab und lasst eure Lampen brennen" (Lk 12,35). Was die Vermutung nahelegt, dass die zu Ehren des Heiligen veranstalteten Laternenumzüge einen liturgischen Ursprung haben.

Nicht nur streng papsttreue Christenmenschen haben seit jeher dahin gewirkt, dass Geistliches und Weltliches nicht gegeneinander ausgespielt werden. Dafür sorgte schon vor Zeiten ein gewisser Melchior de Fabris mit einer Martinspredigt, in der er die Blicke der Zuhörerschaft auf das Evangelium lenkte, ohne dabei die Gans aus dem Auge zu verlieren.

Der Titel seines Sermons mag uns Heutigen einigermaßen kurios erscheinen: Von der Martins Gans. Ein schöne nützliche Predig / darinnen zuo sehen ein feyne außlegung deß H. Evangelij: Unnd ein hailsame anmanung / wie und was gestalt wir S. Martins Gans essen / und unser leben in ein andern gang richten sollen / Gedruckt im Closter zuo Thierhaupten 1595.

Der Autor, Angehöriger des Minoritenordens und Fundamentaltheologe, ist als Buchautor - nicht zuletzt über Heilige - bekannt. Er lebt in der Nähe von Basel

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