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Im Land Lampedusas

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Es ist sicher die verkehrteste Art, an einem unbekannten Ort, besonders aber auf Sizilien, anzukommen: wenn man in der Abenddämmerung in Rom das Flugzeug besteigt und, Uber dichten Wolkenbänken fliegend, die der Mond in eine irreale Schneelandschaft verwandelt, eine Stunde später irgendwo in der Dunkelheit landet. Dann fährt man eine gute halbe Stunde in einem schnellen Bus auf einer geraden Straße die Küste entlang. Man ahnt die Nähe des Meeres und meint den Geruch von Thymian und Lavendel zu spüren, aber der Scheinwerfer reißt nur Reklametafeln, Weg-welser und Verkehrszeichen aus der Dunkelheit. Am Ziel angekommen, kann man sich lebhaft das Gefühl einer Katze vorstellen, die in einem zugebundenen Sack bei Nacht und Nebel von einem Haus in ein anderes, unbekanntes, transportiert und dort losgelassen wird.

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Es ist sicher die verkehrteste Art, an einem unbekannten Ort, besonders aber auf Sizilien, anzukommen: wenn man in der Abenddämmerung in Rom das Flugzeug besteigt und, Uber dichten Wolkenbänken fliegend, die der Mond in eine irreale Schneelandschaft verwandelt, eine Stunde später irgendwo in der Dunkelheit landet. Dann fährt man eine gute halbe Stunde in einem schnellen Bus auf einer geraden Straße die Küste entlang. Man ahnt die Nähe des Meeres und meint den Geruch von Thymian und Lavendel zu spüren, aber der Scheinwerfer reißt nur Reklametafeln, Weg-welser und Verkehrszeichen aus der Dunkelheit. Am Ziel angekommen, kann man sich lebhaft das Gefühl einer Katze vorstellen, die in einem zugebundenen Sack bei Nacht und Nebel von einem Haus in ein anderes, unbekanntes, transportiert und dort losgelassen wird.

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Die ersten Tage isft wenig Zeit, sich die Stadt anzuschauen: Die Veranstalter der Sechsten Internationalen Muisikwoche von Palermo haben von 10 Uhr in der Früh bis 1 oder 2 Uhr in der Nacht für Vollbeschäftigung gesorgt. So bietet sich vorerst nur die Gelegenheit, sich im Hotel, ein wenig umzusehen. Wir warten darauf vorbereitet: Hier hat Wagner mit seiner Familie geweilt, und in dier Tat, man ist in der Direktion des „Hotel des Palrnes“ wahlinformiert und zeigt voller Stolz den Salon im 1. Stock, etwa 10 X 10 Meter, mit zwei anstoßenden Zimmern, wo der „Maestro Ricoardo Wagnär“ von November 1881 bis 13. Jänner 1882 den letzten Akt „Parsifal“ tastrumenitiert hat. Einige Wochen wohnte er auch in einer Villa auf dem Weg nach Monreal und trat am 19. März 1882 die Rückreise über Venedig an. Der große Salon mit riesigem rundem Marmontiisch — wie für König Artus' Tafelrunde —, mit enormen goldgefaßten Spiegeln an allen vier Wänden, an denen vier große mit roter Seide bespannte Chaiselonguen stehen, ist in unverändertem Zustand erhalten, ebenso ein Nebenraum, wo nur die Badewanne ausgetauscht, dagegen das Doppel Waschbecken erhalten ist. Besonders schöne Plafonds zeichnen diese Zimmer aus, wie überhaupt der Stil des Hotels, dessen Empfangs- und Gesellschaftsräume Dimensionen wie das Kunsthistorische Museum haben, den Charakter des Fin-de-siecle auch heute noch bewahrt.

Wir sind also in Palermo, in dem ehemaligen Panonmuis, der Hauptstadt der autonomen Region Sizilien, einer Stadt von ganz besonderer Art. Kaum irgendwo ist die Überlagerung und Durchdringung verschiedenartigster Kulturen so zu spüren wie in einigen ihrer Baudenkmäler. Die Kathedrale von Palermo zum Beispiel, von dem Normannenkönig Wilhelm II. errichtet, steht an der Stelle einer byzantinischen Basilika, die im 10. Jahrhundert in eine Moschee verwandelt worden war. Hier befinden sich die sechs Königsgräber der Hohenstaufen, auch das Rogers II., der in dem dicht bei der Kathedrale liegenden Palazzo dei Normianmii in den Jahren 1132 bis 1140 die mit den prächtigsten Mosaiken geschmückte Capella Palatina errichten ließ. Die kunstvoll geschnitzte Stalaktitendecke stammt von einem arabischen Meister, das mächtige Bild des Pantokrator wird in seiner Strenge nur noch von dem im Dom von Cefalü übertroffen, oder man muß weiter nach Osten reisen, um Ähnliches zu sehen, etwa in die ältesten Sobore Rußlands. Ein anderes Beispiel ist San Giovanni degli Eremiti. Beim Anblick der fünf raten Kuppeln meint man sich ins Morgenland versetzt, und in der Tat grenzt an die Kirche die Mauer einer Moschee. Der verträumte kleine Kreuzgang in arabisch-normannischem Stil ist 1132 von Ruiggiiero II. begonnen und 1180 vollendet worden.

Etwa 300 Meter über der Stadt liegt Monreale, dessen Dom um die gleiche Zeit vollendet wurde und der die prächtigsten und vielleicht auch ausgedehntesten Fresken besitzt. Sie bedecken eine Fläche von 630 Quadratmetern, Van besonderer Schönheit ist der geräumige säiulen-geschmückte Kreuzgang des ehemaligen Benediiktinerklosters. Von hier hat man audh die von Goethe so genau geschilderte Aussicht über die Stadt. Uberhaupt kann man sich dem Autor der „Italienischen Reise“ als Führer anvertrauen. Aber für die herrlichen Mosaiken wtiie überhaupt für alles Arabisch-Normannische hatte er kein Auge. Er rühmt lediglich den herrlichen Weg zum Kloster hinauf, das er als eine „respektable Anlage“ bezeichnet und weiter: „Die Mönche ließen uns ihre Sammlungen sehen. Von Altertümern und natürlichen Sachen verwahren sie manches Schöne. Besonders fiel uns auf eine Medaille mit dem Bild einer jungen Göttin, das Entzücken erregen mußte.“

Goethe fand mehr Gefallen an dem gegenüberliegenden Monte Pellegrino mit der Grotte der heiligen Rosalia, der Sdhutzpafcro-nin von Palermo. „Vielleicht hat die ganze Christenheit keinen heiligen Ort aufzuweisen, der auf so unschuldige und gefühlvolle Art verziert und verehrt wäre.“ — Aber diese reizende Schilderung mag man in der Italienischen Reise unter dem Datum vom 6. April 1787 selbst nachlesen. („Alsdann begab ich mich wieder zum Altäre, kniete nieder, und suchte das schöne Bild der Heiligen noch deutlicher gewahr zu werden. Ich überließ mich ganz der reizenden Illusion der Gestalt und des Ortes... Genug, Ich konnte mich nur mit Schwierigkeit von diesem Ort lasreißen und kam erst in später Nacht in Palermo an.“ Der Eselspfad, auf dem Goethe bis zum Gipfel des Monte Pellegrino gelangte, wird noch heute gezeigt. Für die Überfahrt von Neapel nach Palermo brauchte Goethe volle vier Tage, vom 29. März bis Montag, 2. April. Er notiert „Endlich gelangten wir, mit Not und Anstrengung, nachmittags um 3 Uhr, in den Hafen, wo uns ein höchst erfreulicher Anblick entgegentrat ... Die Stadt gegen Norden gekehrt, am Fuß hoher Berge liegend; über ihr der Tageszeit gemäß die Sonne herüberscheinend. Monte Pellegrino rechts, seine zierlichen Formen im vollkommensten Licht, links das weit hingestreckte Ufer mit Buchten, Landzungen und Vorgebirgen. Anstatt ungeduldig ans Ufer zu eilen, blieben wir auf dem Verdeck, bis man uns wegtrieb. Wo hätten wir einen gleichen Standpunkt, einen so glücklichen Anblick, so bald wieder hoffen können ... Mit keinem Wort ist die dunstige Klarheit auszudrücken, die um die Küsten schwebte. Die Reinheit der Kontore, die Weichheit des Ganzen, das Auseinanderweichen der Töne, die Harmonie von Himmel, Meer und Erde. Wer es gesehen hat, der hat es auf sein ganzes Leben.“ Dies ist die richtige Art, in Palermo anzureisen.

Die Conoa d'Oro, die goldene Muschel, wurde oft beschrieben und gerühmt. Sie hat ihren Namen von den sich an ihren Küsten ausdehnenden Orangen- und Zitronenhainen, die zur Zeit der reifen Früchte den Strand mit einem goldgelbem Saum umgeben. „Immier wieder ergreift das Gefühl, mit dem wir fremde Früchte, die wir von Kind auf kennen, im Lande ihres Ursprungs wachsen und reifen sehen. Darin liegt eine Ahnung von Paradiesgärten — wir dringen zu den Inseln der Gewürze, den Quellen des Reichtums vor • • • Wir werden im Ursprung erquickt“, so schrieb 150 Jahre später ein anderer deutscher Dichter.

Die Insel selbst ist ein Juwel, an dessen Fassung alle, die1, es besaßen, mitgeformt haben. In Pflanzen, Tieren und Gesteinen, in Panoramen und Perspektiven, in der Erscheinung und in den Gesichtern der Menschen drückt sich „die äthiopische Vermählung“ aus, der „Hauch der Wüsten und Oasen, der Bannkreis der großen Sonnenmiacht“. Trinaoria, die Dreischenklige, Wie Sizilien im Altertum hieß, führt ein Gargonenhaupt im Wappen, aus dem gleich den Speichen eines Sonnenbades drei abgewinkelte geflügelte menschliche Beine wachsen. Seit der frühesten historischen Zeit, dem dritten Jahrtausend vor Christus, hat sie oft, und nicht immer kampflos, die Besitzer gewechselt. Nacheinander siedelten hier die lybisch-iberischan Sikuler und hierauf Phönizier, die sich hauptsächlich im westlichen Teil des Landes zwischen dem 11. und 9. Jahrhundert niederließen und Palermo gründeten. Es folgten Griechen, Römer, Ostgoten, Araber, Normannen, Hohenstaufen.., Und viele haben ihre Spuren hinterlassen. Dieses „Amerika des Altertums“ bat unter anderem die besterhaltenen und größten griechischen Tempel: die von Solunt und Selinunt, Segesta und Agrigent (die wenigen Tage gestatten uns nur, den westlichen Teil der Insel kennenzulernen).

Stets von Fremden überrannt und regiert, hat Sizilien zwar kaum das entwickelt, was man als eine Eigenkultur bezeichnen könnte, doch gibt es ein sehr starkes regionales Selbstbewußtsein, dem man auf Schritt und Tritt begegnet. Es mag der administrativen Nützlichkeit entsprechen, ist aber doch bezeichnend, daß es in der „autonomen Region“ zweierlei Postkästen gibt: auf den einen steht „Sicilia“, auf den anderen „Continente“ — womit Mailand ebenso gemeint ist wie Stockholm oder Prag.

Im Hinblick auf seine zwar nicht geringe Ausdehnung, wohl aber wenn man die dünne Oberschicht in Betracht zieht, hat Sizilien unverhältnismäßig viele Dichter und Schriftsteller hervorgebracht. (An Musikern eigentlich nur Bellini): Aus Catania stammt Giovanni Verga, aus Palermo Natalia Ginzburgr, in Syrakus wurden Vitaliano Brancati und EUo Vittorini geboren, der bekannteste Sizilianer ist Voigt Piran-dello aus Girgenti. In letzter Zeit hat Giuseppe Tomasi di Lampedusa seiner Heimat in einem vielgelese-nen Roman ein Denkmal gesetzt. Lampedusa wurde 1896 in Palermo geboren und ist 1957 in Rom gestorben. Er entstammt einer der ältesten und reichsten Adelsfamilien der Insel. Erst zwei Jahre vor seinem Tod, im Alter von etwa 58 Jahren, begann er zu schreiben (in seiner Jugend hatte er nur einige literarische Essays veröffentlicht: einen über Paul Valery und einen über Charles Peguy). Der Meisterroman „II Gattopardo“ ist erst ein Jahr nach Lampedusas Tod erschienen, wurde bald darnach in mehrere Sprachen übertragen und erzielte seither eine Millionenauflage. Es gibt, wie man weiß, nicht nur einen Film gleichen Namens, sondern auch eine Oper „II Gattopardo“ von Angelo Musco auf einen Text Squar-zinas, die 1967 in Palermo (freilich bisher nur dort) aufgeführt wurde. Der am letzten Tag des alten Jahres verstorbene Komponist war Leiter des Teatro Massimo von Palermo. — Giuseppe Tomasi di Lampedusa besaß einen Stadtpalast in Palermo und ein Landhaus, eine Villa, in Santa Margherita. Sie wurde, zusammen mit mehreren sizilianischen Dörfern, vor einem Jahr bis auf die Grundmauern zerstört *

Übrigens sind fast alle Villen in und um Palermo, im ganzen etwa 200, in einem beklagenswerten Zustand. Bin jüngerer Cousin Lampedusas, Gioacchino Lanza-Tomasi, der auch als Musikologe tätig ist, hat dieser verfallenen Herrlichkeit ein großes schönes illustriertes Buch gewidmet. (Nur etwa ein halbes Dutzend dieser schönen Villen wird noch bewohnt.) Während die erwähnten Denkmäler allererster Ordnung, wie die Kathedrale von Palermo, der Normannenpalast mit der Kapelle Rogers IL, die gesamte Anlage von Monreale, der Dom von Cefalü und andere, in bestem Zustand sind, scheinen die unzähligen Barockpaläste der Stadt, leider auch viele Kirchen, die nicht mehr benützt werden, sowie viele Bauwerke des 18. Jahrhunderts, die andernorts zu den größten Kostbarkeiten gerechnet würden, dem Verfall preisgegeben. Etwas von der Fragilität und Vergänglichkeit der menschlichen Existenz, die in Lampedusas Buch auf so faszinierende Weise dargestellt ist, hat ihre Parallele in dem Verfall kostbarer Bauten und Kunstdenkmäler. Natürlich scheitert ihre Erhaltung und Restauration am Finanziellen. Aber es mag da auch jene Lethargie mitspielen, die Lampedusa in seinem berühmten Buch immer wieder schildert. Zu einem Abgesandten des neuen liberalen Staates, der den alten Fürsten aufsucht, um ihm das Amt und die Würde eines Senators anzutragen (dies ereignet sich unmittelbar nach der Vereinigung Siziliens mit dem Königreich Sardinien und der Bildung einer neuen Regierung in Turin), sagt Don Fabrizio: „In Sizilien ist es nicht von Wichtigkeit, ob man übel oder ob man gut tut: Die Sünde, die wir Sizilianer nie verzeihen, ist einfach die, überhaupt etwas zu tun. Wir sind alt, sehr alt. Es sind Zumindestens 25 Jahrhunderte, daß wir auf den Schultern das Gewicht hervorragender, ganz verschiedenartiger Kulturen tragen: alle sind sie von außen gekommen, keine ist bei uns von selbst gekeimt, in keiner haben wir den Ton angegeben; wir sind Weiße, wie Sie es sind, und ebenso weiß wie die Königin von England; und doch sind wir seit zweitausendfünfhundert Jahren eine Kolonie. Ich sage das nicht, um mich zu beklagen; es ist unsere Schuld. Aber einerlei — wir sind müde und leer.“

Und an einer anderen Steile heißt es: Die Sizilianer wollen schlafen und hassen jeden, der sie aufstört. „Ich sagte: die Sizilianer; ich hätte hinzufügen müssen: Sizilien, die Umwelt, die sizilianische Landschaft. Das sind die Kräfte, die zugleich — und vielleicht mehr als alle Fremdherrschaften und Schändungen — unseren Geist gebildet haben: Diese Landschaft, die keine Mitte kennt zwischen üppiger Weiche und vermaledeiter Wüste; die niemals eng ist, nie nur bescheidene Erde, ohne Spannung, wie ein Land sein müßte, das vernünftigen Wesen zum Aufenthalt dienen soll... Dieses Land, das wenige Meilen voneinander entfernt die Hölle um Randazzo hat und die Schönheit der Bucht von Taormina; dieses Klima, das uns sechs Fiebermonate von 40 Grad auferlegt ... sechsmal dreißig Tage Sonne senkrecht auf den Kopf; dieser unser Sommer ebensolang und schrecklich wie der russische Winter, und man kämpft gegen ihn an mit geringerem Erfolg; sie wissen es noch nicht — aber bei uns kann man sagen, es regne Feuer wie auf die verfluchten Städte der Bibel, wenn ein Sizilianer in nur einem jener Monate ernstlich arbeiten wollte, würde er die Energie verbrauchen, die für drei ausreichen muß.“

Jetzt, Im Jänner, zeigt auch das Landesinneire ein freundlicheres Gesicht. Wir konnten es ein wenig kennenlernen auf einer Fahrt im Wagen von Palermo nach Agrigento, zu der ein Cousin Lampedusas einlud, der in seinem Herzogtum Palma zu tun hatte. An der Küste prangen die Orangen- und Zitronenbäume mit ihren reifen Früchten, ein grüner Wiesenteppich aus Rosmarin und Wolfsmilch, Thymian und Lavendel bedeckt das Land, in dem man immer wieder neben Zypressen, Pinien und Pappeln auch Laubmischwald, Kiefern, Maulbeer-, Feigen- und Ölbäume sieht. Die Öde des einsamen Hirtenlandes kann man nur erahnen. Eine auf einem Hügel gelegene Ruine einer arabischen Festung gibt davon eine Vorstellung.

Selbst um die unvergleichlich schönen Tempel von Agrigento ist Leben. Sie sind nicht nur das Ziel der jetzt spärlich verkehrenden Touristenautobusse, sondern auch der ortsansässigen Brautpaare, die sich gerne vor dem guterhaltenen Con-cordia-Tempel (er war einige Zeit auch als Kirche verwendet worden) photographieren lassen. An diesem schönen, sonnigen Jännernachmittag ist eine kleine Gesellschaft um zwei Brautpaare geschart. Die beiden weiß gekleideten Bräute, offensichtlich Zwillinge, halten sich ständig an der Hand und kümmern sich wenig um die übrigen Teilnehmer an diesem Hochzeitsausflug: ein heiter-komisches Bild vor diesen ehrwürdigen Ruinen ... Auch in Palermo habe man den Eindruck, daß hochzeitliche Hochsaison ist: aus vielen barocken Kirohenportalen quellen die Brautpaare und Hochzeitsgesellschaften hervor und begeben sich dann zur Villa Giulia oder vor die dekorative Fassade des Palazzino Chinese, der auf dem Weg nach dem Seebad Palermos, Mon-dello, inmitten eines ausgedehnten prächtigen Parkes liegt, um sich photographieren zu lassen. Auch die großen ruhigen Gesellschaftsräume unseres Hotels haben sie für zwei Tage erobert und mit fröhlichem Lärm erfüllt.

Am nächsten Abend: zu Besuch bei Lanza-Tomasi in einer Villa in Mon-dello. Man betrachtet schöne Bildbände, eine reichhaltige Musikbibliothek und, in einem Buch über die „Leoparden“, einen Stammbaum von Giuseppe Tomiasi di Lampedusa, der bis auf Tiberius zurückreicht Gegen zehn Uhr treffen die Gäste ein, und alsbald wird trotz der späten Stunde nochmals ausgiebig getafelt. Man spricht über Lokales, Musik und bildende Kunst Es sind im ganzen zehn Personen: schöne und kultivierte Frauen, vielseitig interessierte Männer, alle im Alter zwischen Fünfundzwanzig' und Vierzig. Mein Italienisch ist mangelhaft, aber die höflichen Sizialianer sprechen guit und gern Französisch. Von der in den Büchern Vittoirinis herrschenden elegischen Grumdsitimmung ist •nichts zu spüren. („Sizilien ist eine Welt, groß und schön, aber gekränkt, sehr gekränkt!“) Doch hört man immer wieder, daß auoh eingeborene Sizilianer sich mit dem Gedanken tragen, weiter in den Norden zu übersiedeln. Um zwei Uhr ist allgemeiner Aufbruch, das scheint hier die übliche Stunde zu sein, künstlerische Darbietungen und Gesellschaften zu beschließen ...

Ein anderes Bild. Inmitten einer Berglandschaft von kaum beschreüb-barer Einsamkeit liegt der berühmte Tempel von Segesta. Den Ort, die Stadt, gibt es nicht mehr. Sie wurde während eines Streites zwischen Segesta und Selinunt, ebenso wie das letztere, vollkommen zerstört. Nur der Tempel — wahrscheinlich um ein Heiligtum angeordnete Säulenreihen <** steht noch. Er verbindet sich mit der: Landschaft'1 zu einer Einheit von wilder Kraft und Harmonie. Der Zug der Wolken und das Gleichgewicht der Berge scheinen durch das Heiligtum beherrscht: ein Symbol von Macht und Ordnung inmitten einer unerbittlichen Naturlandschaft. „Der Geist“, notierte Ernst Jünger nach seinem Besuch Segestas, „fühlt sich durch die Betrachtung gesichert und beruhigt.“ Ein Wiener Raunzer (der Feuilletonist und Theaiterkritiker Ludwig Hevesi, 1843 bis 1910) sah es freilich anders: „Die Ruinen eines Tempels, der nicht fertig geworden ist; das ist wie ein Invalider, der mutiert. Ein seltsames Gemisch von grüner Jugend und Leibeslöslichkeit. Ein dorischer Tempel ohne Kanellierung der Säulen ... Die Stadt ging zugrunde, ehe es zum Kanellieren kam.“

Jedenfalls: Wer immer nach Sizilien fährt und ein Gefühl für die Natur, Sinn für Geschichte und Freude an Kunstwerken aus zwei Jahrtausenden hat — er wird auf seine Rechnung kommen. Im Jahr 1672 schrieb Jouvin de Rochefort: „Nach Italien reisen, ohne Sizilien zu sehen, heißt, das Tor eines großen Palastes betrachten, ohne die Schönheiten seines Innern in Augenschein zu nehmen.“ Und Goethe, der uns die Gestaltung der Landschaft mit der Genauigkeit eines Erdkundigen und mit den Augen eines Malers die Bauwerke, Bräuche und Sitten beschrieben hat, der wie ein reisender Kaufmann die Feldfrüchte, die Pflanzen und die Bewässerung prüfte, sagt resümierend: „Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele. Hier ist der Schlüssel zu allem.“

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