6727281-1965_36_28.jpg
Digital In Arbeit

Das Ende der Maffia?

Werbung
Werbung
Werbung

ZWEI SCHÜSSE PRALLTEN HART gegen die abbröckelnden Randsteine des Marktes. Der dritte jedoch erreichte sein Ziel: ein Markthändler brach stöhnend zusammen. Die Panik ergriff die Menge, und binnen Minuten war der große Marktplatz Palermos menschenleer. Bis die Stadtpolizei ankam, lag nur der Tote neben seinem jämmerlichen Stand; niemand sah etwas, keiner wußte etwas, da ja ohnedies jeder wußte: die Markt-Maffla hatte wieder erbarmungslos durchgegriffen. Wer nicht zahlt, muß sterben.

Der Weg zum Hauptmarkt von Palermo führt durch enge, schluchtenähnliche Gassen. Je näher man zu ihm kommt, desto stärker riecht es nach Fisch und faulenden Frutti di mare: Tang, Mollusken, Garnelan. Bald hat man die endlosen Reihen von Ständen vor sich, auf denen sich in malerischer Unordnung Thunfische, Schollen, Hummer, Langusten und Berge von Kraken auftürmen. Unter hängenden Bananendolden ragen Türme von Orangen, Zitronen, Trauben und Früchte, die man im Norden nicht einmal dem Namen nach kennt.

Inmitten dieser malerischen Marktlandschaft herrscht — wie in ganz Sizilien — die Maffia. Der große Hauptmarkt Palermos ist eine Domäne der „Markt-Maffla“. Sie bestimmt die Preise, erhebt ihren Tribut von den Kleinhändlern, und wehe dem, der sich gegen ihre Willkür wehrt. Beim zuständigen Polizeirevier, das nur einige hundert Meter entfernt liegt, behauptet man, daß wöchentlich drei bis vier Menschen eines nur allzu unnatürlichen Todes sterben; sie werden einfach niedergeschossen.

Wie man in Palermo erzählt, haben Maffla-Gruppen den Markt unter sich in Reviere (sogenannte „Cosche“) aufgeteilt, doch kommt es unter ihnen häufig zu Zusammenstößen: Dann wird das friedliche Markttreiben von Revolverschüssen und dem Knattern von Maschinenpistolen unterbrochen. Im Nu liegt der Markt verlassen da, und wenn nach einer halben Stunde die Polizei auf der Bildfläche erscheint, hat sie nur noch für den Abtransport der Leichen zu sorgen. Wie damals, als man den einfachen Marktständler erschoß, der die hohen „Gebühren“ nicht zahlen wollte — nicht zahlen konnte.

VON BERGEN UMGEBEN, in der Ebene Conca d'Oro, den ins Tyrrhe-nische Meer mündenden Golf von Palermo entlang, liegt Palermo, die Hauptstadt Siziliens. Neben prächtigen Kirchen und Schlössern aus der Normannenzeit stehen moderne Hochhäuser aus Glas und Beton. In den breiten Hauptstraßen herrscht ein reger Verkehr. Zwischen Straßenkreuzern schlängeln sich kleine Fiat-600-Wagen hindurch und schwarz-grüne Taxis, die einmal bessere Tage gesehen haben. Nicht ohne Erfolg konkurrieren mit ihnen altmodische Pferdedroschken, deren Kutscher auch einen Taxameter am Sitz haben.

Unweit des feudal ausgestatteten Hotels Villa Igea, wo eine internationale Konferenz die andere jagt, erstreckt sich die Piazza Acquasanta, die ein Zentrum des süditalienischen Elends ist. Durch enge, krumme Straßen mit holprigem Kopfsteinpflaster, vom Abfall vieler Tage geziert, gelangt man auf diese Piazza. Kinder und Halbwüchsige in abgetragenen Kleidern gehen hier ziellos auf und ab, dazwischen kümmerliche Obstläden. Solche Viertel gibt es in Palermo mehr als genug. Die hektische und korrupte Grundstückspekulation und das unaufhörliche Anziehen der Miete für Bruchbuden haben in den letzten Jahren fast hunderttausend Einwohner von Palermo in die Vorstädte getrieben, wo Wasserleitung, Kanalisation, Verkehrsmittel und Schulen praktisch nicht vorhanden sind.

Auch in der Stadtmitte sind hun-dertzwanzigtausend Einwohner im „größten Slum der Welt“ zusammengepfercht. Allerdings stehen für den Wohnungsbau in diesem Bezirk mehr als 30 Milliarden Lire zur Verfügung, aber sie liegen schon drei Jahre brach, da die rivalisierenden Gruppen in der Stadtverwaltung sich nicht über ihre Verteilung einigen können.

Neben den streitenden Parteien der Stadtverwaltung hat auch die Maffia ihre Hand im Bauspiel. Als „Bau-Maffla“ ist sie in Palermo und anderen Teilen der autonomen Inselregion eine fast alltägliche Erscheinung.

WENN EINE BAUFIRMA einen Auftrag übernimmt, zum Beispiel den Bau einer Fabrik, so erscheint prompt in ihrem Büro ein gutgekleideter Herr und gibt dem Firmeninhaber in ausgesucht höflichen Redewendungen zu verstehen, daß unliebsame Zwischenfälle beim Bau nur vermieden werden können, wenn die Firma an diesen oder jenen Herrn die und die Summe zahlt. Ist der eingeschüchterte Chef zu zahlen bereit, so geht alles in Ordnung. Wenn er sich jedoch weigert, die geforderte Summe zu entrichten, fliegt der ganze Bau eines schönen Tages in die Luft; bei der Untersuchung stellt sich heraus, daß eine beträchtliche Menge Dynamit in das Fundament mit eingebaut wurde.

Nicht minder „aufmerksam“ ist die sogenannte „Damm-Maffia“. Sie macht sich die Wasserschwierigkeiten in Süditalien zunutze, in dessen größtem Teil der Wasserverbrauch pro Kopf der Bevölkerung nur 60 Kubikmeter im Jahr beträgt gegenüber 600 Kubikmeter in Mailand zum Beispiel. Lange Menschenschlangen vor den öffentlichen Hydranten sind ein alltägliches Bild. Der Boden verdorrt und wird unter der glühenden Sonne rissig. Da es keine Bewässerung gibt, trocknen die Weinberge aus. Wird jedoch der Bau von Dämmen und Bewässerungsanlagen angeregt, tritt die Maffia in Aktion. Die „Arbeitsweise“ der Damm-Maffia ist dann ähnlich wie die ihrer Kollegen vom „Bau“: Wer nicht zahlt, kann eines Tages seine Wasseranlage vollkommen zerstört wiederfinden.

NEBEN IHRER TERRORTÄTIGKEIT wird die Maffia von einem Schleier des Geheimnisses umgeben; viel wird von ihr gesprochen, noch mehr über sie geschrieben, niemand kann sich Klarheit über sie verschaffen. Die Maffla-Bewegungen weisen alle eine Reihe von Besonderheiten auf. Sie sind nie — trotz aller falschen Romantik — eine echte Sozialbewegung mit festumrissenen Zielen und Programmen. Auf sie treffen vielmehr alle möglichen innerhalb der Gesellschaft vorhandenen Tendenzen zu: die Verteidigung der gesamten Gesellschaft gegen die Bedrohung ihrer traditionellen Lebensform, die Bestrebungen der verschiedenen Klassen sowie die persönlichen Zielsetzungen einzelner energischer Mitglieder.

Ob die von den Armen der Bewegung gegebene Färbung, der soziale Protest, das Gesamtbild bestimmt (wie in Kalabrien) oder der Ehrgeiz des ansässigen Bürgertums (wie in Sizilien) oder die reine Kriminalität (wie in der amerikanischen Maffia), hängt von den verschiedenen Umständen ab.

Das Wort „Maffia“ selbst steht für verschiedene Sachverhalte. Erstens bedeutet es eine allgemeine Haltung gegenüber dem Staat und seinem Gesetz, die nicht notwendigerweise verbrecherischer ist als die ganz ähnliche Haltung etwa von Schuljungen gegenüber ihrem Lehrer. Ein „Mafioso“ appelliert bei seinen Privatstreitigkeiten nie an den Staat oder das Gesetz; er verschafft sich immer Recht und Sicherheit, indem er einen Ruf von Härte und Mut gewann und Meinungsverschiedenheiten durch Kampf bereinigt. Für einen „Mafioso“ gibt es keine Verpflichtung außer derjenigen des Ehrenkodexes oder der „omerta“

(Mannhaftigkeit), deren oberstes Gesetz jede Denunziation bei den Behörden verbietet.

IN DEN HÄNDEN EINER „KLASSE“ — im nichtmarxistischen Sinne — von Dorfgeschäftsleuten liegt die Maffia und übt so einen überaus weitgehenden Einfluß aus, den sie nie erreicht hätte, wenn sie lediglich eine Organisation von „hartgesottenen Burschen“ wäre, deren Horizont nicht über den Gemeindemarkstein hinausgeht.

Die meisten „gabelotti“ (Zwischenführer) sind mit der Hauptstadt Palermo verbunden, wo die „Größen der Maffia“ ihre Pacht in Empfang nehmen; hier leben auch die Rechtsanwälte, die größere Besitzwechsel erledigen, und ebenso gibt es hier Gerichte, die man für sich (für die Maffia) geneigt stimmen muß, sowie die Kaufleute, die traditionell mit Getreide und Vieh, mit Orangen und Zitronen handeln und oft Mittelsmänner der „Markt-Maffla“ sind.

Die echte Blütezeit der Maffia ist heute bereits vorbei. Vor allem wurden die Gerichte und Polizeistellen von den korrupten, maffla-verwandten und -ergebenen Staatsdienern gesäubert. Aber selbst die Bewegung fällt, besonders seit 1945, unaufhaltsam auseinander. Ihre innere Zerrissenheit zerstört die alte legendäre Größe dieser gefürchtetsten aller Geheim- und Terrororganisationen der Gegenwart.

Das innere Zerwürfnis nimmt zwei Fronten an: die Rivalität zwischen denen, die „drinnen“ (die alte Garde), und denen, die „draußen“ (die Jungen) sind, in einem Land, in dem viele arbeitslos und die Gelegenheiten für lohnende „Geschäfte“ rar sind; zweitens die Spannung zwischen der alten Generation analphabetischer und engstirniger „gabelotti“ und ihren gesellschaftlich nach oben gekommenen Söhnen und Töchtern.

DIE JUNGEN, DIE BÜRGERLICHE BERUFE ergriffen, und di« Mädchen, die in die „bessere“, das heißt Nicht-Maffia-Gesellschaft hineinheirateten, sprengten den Faml-lienzusammenhalt der Maffia, auf dem ihre Stärke beruhte.

Heute können nur einige „Regionalbosse“ ihr zweifelsohne zeitbegrenztes Unwesen treiben und höchstens armselige Marktverkäufer wegen einiger hundert Lire erschießen oder Bauunternehmern Angst durch ein Dynamitfeuerwerk einjagen. Ihre Tage wie die des ein» stigen „Ruhms des Geheimnisvollen“ sind bereits gezählt. Sie werden bald nur noch dazu dienen, alleinreisenden, älteren Amerikanerinnen einen angenehmen Schauer über den Rücken zu jagen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung