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Kleines Land am Meer

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Wie ein Rennpferd vor dem Start, so wippt das Flugzeug der „Niederländischen Luftfahrtgesellschaft nervös am Platz, während der Pilot die Motoren dröhnend laufen läßt. Dann plötzlich ein sanfter Stoß und das Flugzeug schießt über das Rollfeld, wieder ein kaum spürbarer Stoß und es hebt sich in die Luft. Wien wird bald ganz klein, verschwindet schließlich. Nach einer halben Stunde schon taucht Linz auf, dann Passau, München. Gleichmäßig und ruhig zieht das Flugzeug seine Bahn. Warum so viele Mitteleuropäer eigentlich noch eine Abneigung gegen das Fliegen haben? Stabiler und ruhiger könnte kein Zug fahren. Nach zwei Stunden kommt der „Rhein-Main-Airport“, wie der Frankfurter Lufthafen amtlich heißt. Nach einer Stunde Aufenthalt geht es wieder weiter, in die Abenddämmerung hinein. Plötzlich hat sich das Land unter dem Flugzeug verwandelt. Aber nicht nur das Land. Auch die Atmosphäre der Luft ist anders geworden. Die Sonne scheint rötlich-wäßrig, der Himmel wirkt graublau. Eine eigentümliche Farbenmisdnmg, Wie sie schon auf den Bildern von Ruysdael, Brueghel und Jan van Goyen zu bemerken ist.

Das Land unter dem Flugzeug wird durchzogen von Flüssen, Flußarmen und Kanälen jeder Größe. Neben jedem Feld zieht sich ein schmaler Kanal. Wasser und überall Wasser. Und auf den Flüssen und Kanälen ein Schiff und ein Frachtkahn neben dem andern, langsam dahingleitend. Bald geht das Flugzeug herunter, landet mit kaum merklichem Stoß auf einem Flugplatz und rollt, rollt endlos. Ein Flugplatz von riesigen Ausmaßen. Schließlich dreht es und bleibt stehen. „Schiphol“ steht auf einem großen Gebäude. Wir sind auf dem zentralen Flugplatz Hollands, modernst aufgebaut nach dem zweiten Weltkrieg, der ihn vollständig zerstört hat.

Dann beginnt die Fahrt mit dem Auto in die Abenddämmerung, über wundervolle Straßen, an Wiesen vorbei, auf denen noch Kühe weiden und die alle von jenen dünnen Kanälen begrenzt werden, die man schon vom Flugzeug sah. „Entwässerungskanäle, nicht Bewässerungskanäle“, sagt mein holländischer Freund neben mir. Dann wieder kommen endlose Blumenfelder; Treibhäuser, die sich kilometerlang erstrecken. Bauernhäuser liegen breit und sicher da. In der Ferne dämmern die Konturen von Städten. Und immer wieder Kanäle. Das Auto gleitet über Brücken mit seltsamen Kränen. „Klappbrücken“, erklärt mein Begleiter, „die hochgezogen werden, wenn ein Schiff kommt. So können auch große Schiffe weit ins Land fahren.“ Windmühlen tauchen auf, ein ganzes Rudel. „Das sind keine Mühlen“, erklärt wieder der Holländer, „sondern Pumpen, die das Wasser aus den kleinen Kanälen in die mittleren und aus diesen in die großen heben müssen. Das Land, über das wir hier fahren“, setzt er fort, „liegt — wie 38 Prozent des ganzen Landes überhaupt — unter dem Meeresspiegel und muß deshalb ständig entwässert werden. Vor 100 Jahren war hier noch ein See. Der Flughafen war damals ein Schiffshafen, der Name .Schiphol' erinnert heute noch daran.“ Das Auto surrt weiter, an dem Fuße eines Dammes, anscheinend eines Eisenbahndammes, der parallel dazu verläuft. Plötzlich ein eigenartiges Bild: ein Schiff taucht lautlos auf, gleitet ruhig vorbei. „Oben fließt ein Kanal“, sagt mein Begleiter, „einer der vielen, großen, die dieses Land durchziehen. 8000 Kilometer lang sind unsere Wasserstraßen. 75 Prozent aller Lastentransporte gehen über diese Kanäle. Das ist viel billiger als mit der Eisenbahn.“ Das Auto biegt in die ersten Straßen von Haag ein, stille Patrizierhäuser, kleine Palais, nicht von Aristokraten, sondern von „grand bourgeois“, huschen Vorüber, dann kommt ein typisch modernes holländisches Wohnviertel, lange, lange Straßen mit einstöckigen Häusern, jedes mit einem kleinen Vorgarten, jedes mit einem eigenen Eingang, jedes mit einer großen Glasveranda, hinter der die „gute Stube“ ist. Bald ist die Stadt vorüber, eine kurze Allee, dann die ersten Häuser von Scheveningen und dann endlich — das Meer. Dumpf und doch mit gebändigtem Schall rollen die Wogen pausenlos gegen den Strand. Wasser, soweit das Auge reicht.

Wasser, Wasser auch der Eindruck der nächsten Tage. Immer wieder Kanäle, Flüsse, Häfen, Grachten, Meeresarme, Dämme, Deiche, Schiffe, Werften, Lagerhäuser. Alles im Zeichen des Wassers. Jm Zeichen des Wassers, das durch das Land zum Meer fließt und im Zeichen des Wassers, das vom Meer gegen das Land rollt. Ein kleines Land, abgerungen dem Wasser und reich geworden durch das Wasser. Abgerungen durch die Zähigkeit der Bauern, die mit unendlicher Mühe um jeden Fußbreit Boden kämpfen, reich geworden durch die Initiativkraft der Kaufleute, die aus jeder Situation, auch der schlechtesten, einen Gewinn herauszuschlagen vermochten. Reich und stark geworden — obwohl es von Natur aus viel ärmer und viel kleiner ist als Österreich — durch den immensen Fleiß beider Klassen. Und Herr aller Situationen geworden, weil beide — obwohl sie strengste Individualisten sind — doch die Uberzeugung besitzen, daß gewisse Aufgaben nur durch die gemeinsame Kraft der daran Interessierten gelöst werden könne, durch den freiwilligen Zusammenschluß zu einer „Korporation“, zu einer „Kompanie“ im Dienste einer „res publica“. So entstand durch den Zusammenschluß der niederländischen Generalstaaten im Kampf gegen die Spanier der holländische Staat; so entstand durch den Zusammenschluß einiger Kaufleute zur „Ost-Indischen Handelskompanie“ die Grundlage des inzwischen verlorengegangenen indonesischen Kolonialreiches im riesigen Ausmaß von 19 Millionen Quadratkilometer; so entstanden die „Kompanien“ zur Betreibung der Windmühlen, die das Wasser aus einem Kanal in den andern pumpen müssen; so entstanden in neuerer Zeit die Wohnbauvereinigungen — natürlich rein private Korporationen —, denen Holland die Schaffung der besten, modernen Wohnhauspolitik verdankt; so entstand in allerletzter Zeit die „KLM“, die holländische Luftfahrtgesellschaft. Sie ist das typische Beispiel dafür, wie in Holland die Idee eines einzelnen einige wenige Interessenten ergreift, die sich zu einer „Kompanie“ zusammenschließen; wie dann durch ihre kaufmännische Tüchtigkeit ein florierendes Unternehmen entsteht, das schließlich für das Land ein „politicum“ wird: ein junger Leutnant, namens Plesman — heute Generaldirektor der KLM — hatte 1919 die Idee, mit den wertlosen Kampfflugzeugen etwas Nützliches anzufangen. Einige Kaufleute sind begeistert von seiner Idee, ein Fluglinie Amsterdam — London einzurichten, kaufen alte Kampfflugzeuge, bauen sie um und richten einen regelmäßigen Flugdienst nach London ein. Jedes Flugzeug faßt nur vier Personen und fliegt 120 Kilometer in der Stunde, aber die Idee schlägt so ein, daß die Gesellschaft bald täglich fliegen muß und sogar Post mitnimmt. So entstand nicht nur die älteste, sondern auch einzige rein private Fluggesellschaft, die heute zu einer der größten der Welt — sie besitzt 87 Maschinen — angewachsen ist und für die Heimat einen unentbehrlichen wirtschaftlichen und auch politischen Bestandteil bildet. Denn sie bringt nicht nur Geld ins Land — fünfzehnmal in der Woche fliegen ihre Maschinen nach New York, jeden Tag in 24 Stunden nach Batavia, regelmäßig nach Südafrika und Südamerika —, sie ist auch eines der wichtigsten Verbindungstaue des Mutterlandes mit seinen Interessen in der Welt: so v/ird durch sie das bisher so abseits gelegene Kolonialreich in Südamerika der Heimat politisch und wirtschaftlich nahegebracht; so wird durch sie die bereits ganz gelöste Verbindung zu den Buren in Südafrika zumindest kulturell und wirtschaftlich neu geknüpft; so ist durch sie neben dem dünnen Band, das juridisch Indonesien mit dem einstigen Mutterland verknüpft, ein sehr reales und starkes Stahlband zwischen beiden Ländern gelegt, denn Indonesien, einst unendlich weit, ist heute in einem Tag zu erreichen, ist Holland näher als früher. Und durch diese Verbindung tropft ein ständiger wirtschaftlicher, kultureller und politischer Einfluß in die einstige Kolonie.

Der Verlust dieses Kolonialreiches war eine Katastrophe für das Land. Eine von den vielen, die schon über dieses Land hereinbrachen, die es aber alle bewunderungswürdig überwand. Mag es sich dabei um Sturzfluten gehandelt haben, die durch die Natur oder durch die Politik hervorgerufen wurden: 5800 Quadratkilometer hat das Meer im Lauf der Zeit dem Land entrissen, 6000 Quadratkilometer hat der Mensch dem Meer entrissen. Spanische, französische, englische, deutsche Heere haben es überflutet und vernichtet, es stand immer wieder auf, zu einem besseren und neueren Leben. Zu größerer Macht und Reichtum. Vielleicht wird auch der verlorene Krieg in Indonesien — verloren nicht mit den Waffen, sondern durch die Ungunst der Zeit — wettgemacht durch eine zähe und kluge Politik, die zwar nicht eine Rückkehr, aber in irgendeiner Form eine sehr enge Verbindung dieser ehemaligen Kolonie mit dem Mutterland herbeiführen wird.

Kleines Land am Meer, abgewonnen dem Wasser, das zum Meer fließt, abgewonnen dem Meer, das das Land zerstören will, arm von Natur aus, reich durch die Zähigkeit und den Fleiß seiner Bewohner, es ist eines der wenigen Länder, die ruhig in die Zukunft blicken können.

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