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BLICK NACH UNTEN

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Wer noch nie geflogen ist, neigt zu der Ansicht, daß das Faszinierendste am Fliegen der Blick nach unten ist — der Blick auf die Welt tief unten mit ihren winzigkleinen Häuschen und ameisenhaften Autos. In Wirklichkeit aber fällt dem routinierten Flugzeugpassagier nichts weniger ein, als sich den Hals zu verrenken, um dreitausend oder achttausend Meter unter sich die unterschiedlichen Feld- und Hügelarrangements in Braun und Grün an sich vorbeiziehen zu lassen. Selbst wenn der Flugkapitän über den Lautsprecher ansagt, daß nun zur linken Hand der Rheinfall zu sehen ist, löst das in der Regel bei den Passagieren nur wenig Anteilnahme aus.

Zum Unterschied von der Eisenbahn zieht am Flugzeug keine Landschaft vorbei, und wer von seinem Sitzplatz aus durch die relativ kleinen kreisrunden Scheiben sieht, kann weder Telegraphenmasten noch Bahnschranken, weder idyllische Häuser noch donnernde Gegenzüge sehen. In der Regel sieht er blauen Himmel, weil, wenn irgend möglich, über den Wolken geflogen wird. Und wenn auf seiner Seite die Sonne steht, zieht er den Vorhang zu.

Wer keinen Fensterplatz hat, sieht fast gar nichts — es sei denn, die Maschine läge in deutlichem Winkel zur Erde. Aber in diesem Fall haben nur wenige Leute das Bedürfnis, ihr gestörtes Gleichgewicht durch die Beobachtung der schwankenden Erde noch mehr zu stören.

Wer am Fenster sitzt, hat es etwas leichter, aber nur Seen, hohe beschneite Berge und Meeresküsten können damit rechnen, von Flugpassagieren mit einiger Aufmerksamkeit betrachtet zu werden.

Städte werden grundsätzlich ignoriert. Aus mehreren tausend Meter Höhe sieht ein Ort wie der andere aus — und dann: eine Stadt, in der nicht einmal zwischengelandet wird, ist ja gar keine richtige Stadt. Mit solch einem Häuserhaufen kann man einem alten Flieger nicht imponieren.

Flugzeugpassagiere sind nämlich in der überwiegenden Mehrzahl Routiniers und ihnen bedeutet ein Flug im Prinzip das gleiche wie eine Bahnfahrt oder audi eine Fahrt mit der U-Bahn. Daher lesen sie Zeitung, essen, kramen in ihren Aktentaschen oder dösen vor sich hin. Darum verteilen die Stewardessen ja auch vor Beginn jedes Fluges Zeitungen und darum ist Vorsorge getroffen, daß es während des Fluges wenn schon keine Hauptmahlzeit, so doch einen Imbiß gibt. Das nimmt mit Tischchenauf- und -abmontieren, mit Kaffee- nachfüllen, Servieren und Abservieren doch wieder etliche Zeit in Anspruch und bewahrt die Passagiere davor, aus lauter Langeweile zum Fenster hinaussehen zu müssen.

In einigen Staaten ist das Photographieren vom Flugzeug aus strengstens verboten. Das ist eine Vorsichtsmaßnahme aus der Urzeit der Luftfahrt und dem Mittelalter der Spionage. Aber auch dort, wo das Photographieren vom Flugzeug aus nieht verboten ist, zeigen nur wenige Passa giere ein Interesse daran, Aufnahmen zu machen. Man kann mit einiger Sicherheit annehmen: wer im Flugzeug photographiert, tut das zum ersten und zum letzten Mal, denn die Bilder sind in der Regel enttäuschend und langweilig — wie eben der Blick aus dem Flugzeugfenster.

Ein einziges Mal habe ich zwanzig Minuten lang fasziniert aus dem Flugzeug gestarrt. Das war auf einem Flug von Frankfurt nach Genf, als wir knapp vor Sonnenuntergang in der Nähe der Schweizer und Französischen Alpen kamen. Es war Spätherbst, auf allen Gipfeln lag Schnee — und alle Täler bis etwa tausend Meter Seehöhe waren wie ertrunken in Wolken und Nebel. Es sah aus, als hätte eine schmutzige Sintflut das ganze Flachland überflutet.

Aus dieser trüben unbewegten und überall fast genau gleich hoch stehenden Nebel- und Wolkenbrühe aber ragten gleißend die Berge heraus, alle Westabhänge rötlich beleuchtet von der sinkenden Sonne. Am Horizont ging der strahlendblaue Spätnachmittagshimmel in eine Vielfalt von Pastellfarben über — zartrosa, lavendelblau, reseda, feine Wolkenstreifchen erschienen hellbeige oder olivgrau —, und weithin wurden diese Nuancen noch getönt durch das etwas wässerige Blutorangerot der untergehenden Sonne.

Aber schon nach etwa einer Viertelstunde war alles vorbei

— die Sonne versank und das Flugzeug ging nieder Richtung Genf und tauchte wagemutig in die scheußliche Brühe, die nun an den Fenstern in Form von düstergrauen Wolkenfetzen und Nebelsdiwaden vorüberschwamm. Dann kam die Landung und es war abendlich kalt, regnerisch und höchst unfreundlich.

Im allgemeinen sind Wolken noch das Reizvollste am Blick durch das Flugzeugfenster. Um sie zu sehen, muß man sich oft gar nicht zur Scheibe beugen, sondern sie kommen dicht an die Maschine heran — schneeweiße sonnendurch- leuchtete Wattebäusche oder regengraue verschlissene Nebelfetzen.

Mitunter steigt das Flugzeug durch zwei oder drei verschiedene Wolkenschichten, ehe es seine normale Flughöhe erreicht hat. In diesem Fall ist der Blick hinunter zuweilen recht hübsch: da liegen dann etwa — vom Fluggast aus gesehen — zuoberst ein paar weiße Watteknäuel, dann einige hellgraue Streifen und schließlich in Bodennähe ein paar dunkle Wolken — und an einigen ganz wenigen Stellen kann man durch all das hindurch ein Stückchen See schimmern sehen.

Dann gibt es die Berge, die aber nur „gut wirken“, wenn sie schneebedeckt sind. Freilich, auch hier gibt es ein Problem: fliegt man relativ hoch über ihnen oder in großer Entfernung, dann sind keine wildromantischen Details zu erkennen — und fliegt man so nahe, daß diese Details zu erkennen sind, dann hat man das unbehagliche Gefühl, den Bergzacken näher zu sein als es gut ist

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