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Besuch an Hollands Westwall

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WER HEUTE, ZEHN JAHRE NACH der großen Überschwemmung, an Hollands Nordseeküste durch das damalige Katastrophengebiet reist, findet keine Spur mehr von den Verwüstungen, die Sturm und Meer in einer furchtbaren und beängstigenden Schreckensnacht, als die Springflut über Land und Menschen hereinbrach, anrichteten. Die Betroffenen denken heute nur noch daran zurück wie an einen bösen Traum, eine glücklich bestandene Gefahr. Damals aber war es für viele die Sintflut, der Weltuntergang. 2000 Menschen fanden dabei den Tod, Dörfer wurden zerstört, zahllos ertrank das Vieh, Äcker und Weiden wurden für lange Zeit vom Salzwasser verseucht.

Wenige Jahre zuvor hatten die Niederländer ihren bisher größten Sieg über den alten Erbfeind — das Meer — errungen, als sie den Abschlußdeich bauten und damit die Voraussetzung schufen für die teilweise Trockenlegung des Zuidersees. Mit einem Schlag wurde das Meer 85 Kilometer weit nach Norden zurückgedrängt, und ein Salzwassertümpel von 225.000 Hektar konnte in fruchtbare Ackererde verwandelt werden.

* !

DA SCHLUG DAS MEER ÜBER NACHT ZU. In einigen Stunden verschlang es mehr kostbaren Kulturboden, als der Mensch in langjähriger mühsamer Arbeit erworben hatte. Sollte das Tauziehen; der beiden Rivalen um den Lebensraum ewig so

weitergehen? Oder würden die Errungenschaften der modernen Technik es dem Menschen ermöglichen, den Kampf mit den Elementen endgültig zu seinen Gunsten zu entscheiden?

Die Sachverständigen waren sich darüber im klaren, daß man sich diesmal nicht mit einer Rückeroberung des verlorenen Bodens und der Wiederherstellung des alten „Status quo“ zufrieden geben dürfe.

Nach dem „Sieg“ im Norden war M an der Zeit, nun auch im Delta Ordnung zu schaffen. Die gewundene, vielfach zerrissene Küstenlinie gestattete es dem Meer — bei Flut —, hier weit ins Innere des Landes vorzudringen und bei Nacht und Unzeit den gefürchteten „Wasserwolf“ auf die schutzlosen Menschensiedlungen zu hetzen.

*

ES GALT, EINEN RIEGEL dem Meer vorzuschieben und mittels Sperrdämmen die Meeresarme des Deltas zu schließen, dem Meer seine Greifarme gleichfalls zu amputieren. Gelang dies, so hatte man den Feind wiederum viele Meilen, diesmal westwärts, zurückgedrängt.

Die Küstenlinie aber, vielmehr die Gesamtlänge der Deiche, würde um 700 Kilometer verkürzt sein werden. An Stelle des salzigen Meerdeltas würde ein großes Süßwasserreservior entstehen, das Landwirtschaft und Industrie mit dem benötigten Wasser versorgen könnte. Das isolierte und

daher etwas rückständige Inselreich würde um 15.000 Hektar Neuland vermehrt, in einen salzfreien und daher fruchtbaren Obst- und Gemüsegarten umgewandelt werden. Und vor allem: die ständige Bedrohung des Meeres hätte ein Ende.

Im Jahre 1954 genehmigte die holländische Regierung das Deltaprojekt, einen kühnen, imposanten 25-Jahres-Plan. Die Durchführung des gigantischen Unternehmens wird zwei bis drei Milliarden Gulden fordern, und erst im Jahre 1978 dürfte das Werk seine Vollendung finden.

Was man immer wieder als praktisch undurchführbar abgelehnt hatte, nunmehr würde man es versuchen. Vier der breiten Meeresarme werden abgeriegelt, ein unangreifbarer Schutzwall ersteht. Nur die Wasserwege nach Rotterdam und Antwerpen bleiben für die Schiffahrt geöffnet.

DER KAMPF GEGEN DIE GEZEITEN ist der Kampf mit der Zeit. Darum wurden die Arbeiten sofort und mit zusammengeballter Kraft an mehreren Stellen zugleich begonnen. Bereits 1961 gelang das Experiment: die Abriegelung des Veerse Gat. Es war die große Generalprobe, deren Verlauf die Sachverständigen aus aller Welt mit Interesse verfolgten.

Die Entfernung zwischen den Inseln Walcheren und Nordbeveland beträgt „nur.“ drei Kilometer. Von den Inseln aus wurde zuerst ein Damm see-einwärts gebaut.

Die entscheidende Frage aber lautete: Wie sollte die Rinne, durch die zweimal täglich die Flut ein und aus hastete, geschlossen werden können? Man mußte das Meer einfach überlisten. Sieben Caissons, das sind mächtige hohle Schwimmkästen, jede von der Größe eines kleineren Bahnhofs,

wurden in die Lücken eingelassen. Immer noch konnte das Meer, der ungestüme Dränger, durch die weitoffenen Tore frei ein- und ausfluten.

AN EINEM WINDSTILLEN TAG RASSELTEN die Falltüren der Kästen alle auf einmal herunter, und als das Meer bei einbrechender Flut den gewohnten Weg nehmen wollte, fand es den Zugang gesperrt. Da nützte alles

blindwütige Rütteln und Zerren des Geprellten nichts mehr.

Eine große Volksmenge hatte den Vorgang verfolgt. Spannung und Erwartung hatten in der Luft gelegen. Nun löste sich der Bann, und ein befreites Jauchzen machte sich Luft. Ein erster wichtiger Triumph im Kampf mit dem alten Widersacher war glücklich errungen. Der Sieg wurde gebührend auf den Inseln gefeiert. Abends spielte in den Dorfschenken das Schifferklavier zum Tanz auf. Zukunftsfreudig schwang jung und alt sich in seeländischer Nationaltracht im wiegenden Takt der alten Volkstänze, der dem wogenden Rhythmus des Meeresrauschens gleicht.

Später wurden die nützlichen Kästen, die nunmehr ihre Schuldigkeit getan hatten, in den Damm eingebaut. Sie sind nicht mehr zu sehen, wie so manches, das doch einmal im Mittelpunkt des Interesses stand.

Zur Zeit wird alle Kraft für den Bau .des Sperrdammes bei Helle-voetssluis, zwischen den Inseln Goeree und Voorne, aufgewendet. Dieser ist der einzige Damm, der wegen der Abfuhr der Wassermassen im Hinterland mit Schleusen versehen werden mußte. Eine neue gigantische Aufgabe. Ein Komplex von 17 Schleusen entsteht, jede nahezu 60 Meter breit, die Gesamtbreite beträgt demnach mehr als einen Kilometer. Und dieser Schleusengigant mußte gleichsam auf hoher See erbaut werden.

Doch wie bewältigte man diese bautechnische Schwierigkeit? An der Mün-

Pholo: Kykswalenlaal

dung des Havringvliet, in der Mitte des Meeresarmes, baute man zuerst einen Ringdamm. Der innerhalb dieses Ringes entstandene Raum wurde trockengelegt. In der Mulde, einer künstlichen Insel gleich, konnte man nun bald mit dem Bau der Schleusen beginnen. Was hier entsteht, ist ein Ungetüm von Schleusen, wahrhaftig eine Zwingburg — wie sie einem bezwungenen Riesen gebührt.

Erst 1968, wenn die Arbeiten an dieser Stelle ihren Abschluß finden,

wird dieses Monument der Wasserbaukunst sich in seiner imposanten Größe dem Auge des Zuschauers darbieten. *

DIESE FIEBERHAFTE GESCHÄFTIGKEIT, von der Höhe eines Dünenkammes aus betrachtet, nimmt sich höchst wunderlich aus. Man muß an ein Riesenspielzeug aus der Märchenwelt denken oder auch an einen wimmelnden, aufgescheuchten Ameisenhaufen, der einem Unwetter zufolge plötzlich von einer Wasserpfütze verschlungen zu werden droht. Doch es sind „Ameisen“ einer verwegenen und intelligenten Art, die in kleinen Schleppern emsig hin und her fahren, mit Kranen und Baggern umzugehen verstehen und sich untereinander mittels Schrillpfeifen und FahnensChwenken verständigen.

■• *

LEISE MURRT AUS DER FERNE DAS MEER. Man glaubt die spöttischen Worte zu vernehmen, die der Dichter Fontane diesem unheimlich drohenden Grollen unterlegt hat: „Tand, Tand ist das Gebilde Von Menschenhand! Das Meer, des Menschen Freund und Feind in einem, wartet auf seine Stunde. Eines Tages wird es brüllend erwachen und mit dem Nordwest im Bunde auch diese neuen Dämme prüfen und berennen und sie zu zerstören versuchen.“ „Das wird ihm nimmermehr gelingen“, behaupten die Sachverständigen selbstbewußt und unbeirrt. Hoffen wir, daß sie recht behalten.

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