Manchmal, vor allem, wenn sie vor dem Moloch Zukunft steht, denkt auch die Politik nicht nur an anstehende Regionalwahlkämpfe und ähnliche Wichtigkeiten. Also sprach 2008 Jan Peter Balkenende, damals noch Premierminister der Niederlande und sonst eher als mausgrauer Pragmatiker verrufen: "Wir müssen uns trauen, in großen Dimensionen zu denken, denn die Fragen, vor denen wir stehen, sind auch groß.“ Das Thema, das Balkenende berührte, war nicht etwa Immigration oder die einbrechende Volkswirtschaft sondern: Wasser. Genauer gesagt, das Leben auf dem Wasser. Es war die Zeit, in der ein Projekt durch die internationalen Medien ging, das unter dem Namen "Tulpeninsel“ bekannt wurde: eine künstliche Insel aus vor der Küste aufgeschüttetem Sand, PR-wirksam in der Form einer Tulpe, die Küs-tenschutz sowie Energiegewinnung dienen und die dazu noch die dichte Besiedlung des Ballungsraums entzerren könnte.
Der Tulpeninsel-Flop
Die Tulpeninsel hätte ganz im Sinne des Ex-Premiers als Symbol niederländischer Wasserexpertise stehen können. Vielleicht spricht es für diese Expertise, dass gelegentlich auch vermeintliche innovative Meilensteine abgeblasen werden. Von der Tulpeninsel jedenfalls ist heute nicht mehr ernsthaft die Rede, nicht nur, seit aus Dubai immer wieder Berichte auftauchen, wonach die Palmeninseln langsam versinken. Noch entscheidender ist, dass das Konzept dem steigenden Meeresspiegel im Zuge des Klimawandels keine Rechnung. Was bringt eine künstliche Insel, wenn diese am Ende selbst vor Überflutung geschützt werden muss? Wie also soll sich die Menschheit vor dem globalen Klimawandel schützen, vor allem in den Metropolen der Küstenregionen? Viele unter ihnen werden nach den Prognosen des Weltklima-beirates der UNO zumindest teilweise im Meer versinken: Bei einem Anstieg des Meeresspiegels um einen Meter würden weltweit 150.000 Quadratkilometer Landfläche dauerhaft überschwemmt werden, davon 62.000 Quadratkilometer küstenna-her Gebiete. 180 Millionen Menschen wären betroffen. Und was, um bei einem aktuellen Beispiel zu bleiben, macht dann Malé, die Hauptstadt der Malediven, die jetzt schon von Dämmen gegen das Meer geschützt werden muss? Als die maledivische Regierung 2010 einen Regierungsrat unter Wasser abhielt, war das nicht nur als Amusement gemeint. Was also wird aus der Menschheit, wenn der Klimawandel so weitergeht? Die trotzige Antwort einiger Forscher und Ingenieure lautet: Wir warten nicht auf das Meer, wir ziehen aufs Meer.
Das ist genau das Szenario, mit dem sich Architekten und Stadtplaner in den Niederlanden derzeit beschäftigen, das von den Konsequenzen der Erderwärmung empfindlich getroffen sein wird. "Adaption statt Mitigation“ - so das fasst ein gebräuchlicher Slogan zusammen, und übertragen auf den Anstieg des Meeresspiegels und größere Niederschlagsmengen ergibt sich daraus ein spektakuläres Konzept: Wohnen in schwimmenden Häusern, die mit dem jeweiligen Pegel steigen und sinken. Das ist vielleicht sogar viel revolutionärer, als sich das Ex-Premier Balkenende noch 2008 vorgestellt hatte.
Und damit zu einem bereits verwirklichten - und viel beachtetem Beispiel: die 55 "Waterwoningen“ im Amsterdamer Stadtteil Ijburg, elegante dreigeschossige Kästen zwischen 100 und 156 Quadratmetern Wohnfläche, lichtgeflutet dank großzügiger Fensterfronten. Sie alle treiben dank eines Fundaments aus Betonhohlkörpern und Kunststoffschaum auf der Ij. Auch in Utrecht, Almere, Den Haag sind floating villas geplant. In Rotterdam gibt es gar ein städtebauliches Programm, das verschiedene Projekte koordiniert und als Höhepunkt ein schwimmendes Viertel im Hafen anstrebt.
Innovative Brillianz
All diese Projekte zeugen von einer innovativen Brillianz, die zugleich in einer Kultur des Pragmatismus wurzelt. Denn gerade weil das Wasser den Niederlanden schon immer potentiell und manchmal auch sehr real Probleme bereitet, finden sich am oder auf dem Wasser oft genug auch deren Lösung. In Amsterdam stehen Teile des Zentrums auf künstlich angelegten Inseln, darunter auch der Bahnhof. Und die knapp 3000 Hausboote Amsterdams stehen keineswegs nur, wie Touristen das gerne verklären, für den freien Geist ihrer Bewohner, sondern auch für die Wohnungsnot in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Der Idee, dass oben schwimmen muss, wer sich dem Klimawandel anpassen will, hat sich inzwischen ein interdisziplinäres Netzwerk verschrieben. Dazu gehören auf Wasserbau spezialisierte Architekten wie Koen Olthuis sowie die Büros Van Bueren und Rohmer, Stadtplaner und für den wissenschaftlichen Hintergrund die Experten der renommierten Technischen Universität Delft. Zudem verabschiedete die Regierung bereits 2007 eine nationale Strategie hinsichtlich der Klimawandel-Folgen.
Was sich in den Niederlanden schon in sehr konkreter Planung und Umsetzung in einfache Wohnbauprojekte befindet, hat in den USA den Charakter eines Zivilisationsexperiments angenommen. Es geht dabei um schwimmende Stadtstaaten, welche nicht nur neuen Lebensraum, sondern auch neue Gesellschaftsformen schaffen sollen. Betrieben wird es von Patri Friedman, dem Enkel des liberalen Wirtschaftsnobelpreisträgers Milton Friedman.
Friedmans Plan sieht die Konstruktion mobiler Inseln vor, der "Seasteadings“ oder "Meereshöfe“, die durch ihre Wabenstruktur zu einer beliebigen Größe kombiniert werden können und von jeder Außenversorgung unabhängig sein sollen - auch durch die Nutzung von kleinen Wind- und Wellenkraftwerken, sowie Sonnenenergiekollektoren. Nach Ansicht ihres Erfinders Friedman, der früher als Google-Ingenieur in Silicon Valley gearbeitet hat, sollen es "Mikrozivilisationen“ sein, die auch in vollkommener politischer Autonomie leben. Verwendet werden dabei unter anderem abgerüstete Ölplattformen, die, zu Siedlungen umgebaut, wieder in Betrieb gehen sollen.
Zivilisations-Experimente
Die "Seasteadings“ sollen "Experimentalräume für neue Systeme des Zusammenlebens werden“, heißt es in den Satzungen des "Seasteading-Instituts“. Einzige reale Gesetzesgrundlage für die Meeresstadtstaaten ist das internationale Seerecht. "Es gibt viele Leute, die denken, das alles wäre nicht möglich“, sagt Patri Friedman und, "das ist gut, denn so werden sie uns nicht aufhalten, bis es für sie zu spät ist.“
Tatsächlich sollte nach Investitionen von über 900.000 Dollar, die Friedmans Projekt bisher gekostet hat, im kommenden Jahr die erste "Seasteading“ aus der San Francisco Bay aufs offene Meer geschleppt werden.
Wesentlich weniger weit fortgeschritten sind Projekte, die ein Leben unter dem Meeresspiegel ermöglichen sollen. Die Glaskuppel, unter der Kapitän Nemo aus Jules Vernes Phantasie seine Besucher "20.000 Meilen unter dem Meer“ empfängt, ist nach Ansicht von Physikern noch schwerer zu bewerkstelligen als eine bewohnte Basis auf dem Mond.
Tatsächlich ist auch das Leben in geringerer Wassertiefe eine derzeit ungelöste Herausforderung. Der Satz des US-Unterwasserforschers und Unternehmer Phil Nyutten, "Wir können es uns einfach nicht leisten auf drei Viertel des Planeten als Siedlungsraum zu verzichten“, ist derzeit jedenfalls ein unerfüllbares Programm. Nyutten arbeitet zwar an Plänen für eine experimentelle Tauchsiedlung in 60 Metern Tiefe, die 100 Familien Unterkunft geben soll, doch die Probleme beginnen bei den dafür notwendigen Druckausgleichsys-temen und reichen bis zu den hohen Kosten für korrosions- und druckbeständiges Material.
Lediglich in der Planungsphase befinden sich drei Unterwasserhotelprojekte. Das bekannteste unter ihnen, das Poseidon-Ressort, das nahe Fidschi errichtet werden soll, (Bild links unten) sollte bereits 2006 in Betrieb gehen. Doch bis heute hat sein Erfinder, der Eigentümer des Unterwassertechnik-Konzerns Deep Ocean Technology, nicht das notwendige Kapital beisammen, um mit den Bauarbeiten beginnen zu können.
Immerhin erhält man auf Anfrage bei den Betriebern bereits den Preis eines Zimmers genannt: 30.000 Dollar pro Woche -Vorzugspreis. Die Unterwasserzivilisation, wie Jules Verne sie sich vorstellte, soviel lässt sich also jetzt schon sagen, wird es zunächst nur für betuchte Unterseeliebhaber geben.
Wasserwelten - tops und flops
TOP: Jules Verne
Sein Roman "20.000 Meilen unter dem Meer“ hat nicht nur Millionenauflage erreicht. Kapitän Nemo und seine Nautilus wurden zur modernen Sage - und sind nun beinah bekannter als ihr Schöpfer.
FLOP: Waterworld
Eine Art Klimawandel-Odyssee mit Mutanten, Piraten, viel schwimmendem Schrott, die 175 Millionen Dollar kos-tete und mit dem tanzenden Wolf Kevin Costner auch dessen Kassenglück verschlang.
TOP: James Bond
Der Spion, der mich liebte: Curd Jürgens spielt den Bösewicht Stromberg, der die Menschheit ausrotten und die Meere mit edlem Gezücht besiedeln will. Roger Moores darstellerische Bestleistung.
TOP: Findet Nemo
Marlin, ein ängstlicher Fisch sucht den von Menschen entführten Sohnfisch mit Hilfe einer an Amnesie leidenden Doktorfischdame. Ein Millionenerfolg, wohl auch wegen der vegetarischen Haie.
Meereszivilisationen
Dubai:
Hydropolis Hotel
Das erste mehrräumige Unterwasserhotel der Welt vor Dubai sollte dem Golfstaat eine weitere Attraktion für den Tourismus schaffen. Hydropolis sollte in einer Tiefe von 20 Meter unter dem Meeresspiegel liegen und über 220 Zimmer verfügen. Baukosten: 520 Millionen Euro veranschlagt. Seit 2009 ruht das Projekt - oder ist überhaupt entschlafen.
Seasteading:
Plattform-Zivilisationen
Nach den Plänen von Patri Friedman sollen Ölplattformen zu kleinen zusammenschließbaren Schwimmmodule umkonstruiert werden. Auf hoher See sollen sie dann nicht nur nachhaltiges Leben, sondern auch neue Gesellschaftsformen testen. Erinnert an die Utopisten. Reale Kosten: 900 Millionen Dollar. Geplanter Start: 2014/15.
Poseidon:
Fidschi-Atoll für Superreiche
Fidschi war eigentlich niemals ein billiger Fleck Erde - außer für seine Ureinwohner. Nun soll es noch exklusiver werden. Ein US-Unternehmer hat 2001 das Projekt Poseidon gestartet - eine Unterwasserbleibe in einem lauschigen Atoll, das 30.000 Dollar pro Woche kostet - pro Zimmer wohlgemerkt. Baubeginn wegen Finanzierungslücken ungewiss.