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Europator

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HINTER DÄMMEN UND DEICHEN, wo sie vor den Anstürmen des brüllenden Wasserwolfs zwar auch nur bedingt sicher waren, kauerten die Hütten der Heringsfischer zusammen. So war es anfangs überall in Holland, an allen Flüssen und Flußmündungen nahe dem Meer. Und niemand wußte, niemand konnte auch nur ahnen, welche dieser Ansiedlungen bald wieder vom Wasser verschlungen werden sollten,

eiche, allen Gefahren trotzend, sich :reinst zu stolzen Hafenstädten aus- wachsen würden.

Rotterdam hat es geschafft. Das kleine Nest an der Rotte wurde eine Weltstadt. In scharfem Konkurrenzkampf gegen Amsterdam, wie einst gegen Schiedam, Zaandam und so viele andere besiedelten Dämme, und später, auf internationalem Niveau, gegen Hamburg und Antwerpen, entwickelte sich Rotterdam zum größten Hafen des Kontinents, zum zweitgrößten der Welt.

Amsterdam ist die nationale Hauptstadt des Landes, Rotterdam die internationale. Sein internationales Gepräge erhielt Rotterdam vom Meer. Welchen Umständen aber verdankt die Stadt ihren fabelhaften Aufstieg?

Nächst dem zähen Fleiß und der Tatkraft ihrer Menschen, der alten Kaufmannsgeschlechter und der energischen Stadtverwaltungen, ist da in erster Linie die ideale geographische Lage an der offenen Mündung von Rhein und Maas entscheidend gewesen. Bereits im 14. Jahrhundert gab es einen lebhaften Schiffahrtsverkehr auf England, das Ostseegebiet und Ost- und Westindien.

Zwei Faktoren wurden dann um 1870 ausschlaggebend für die weitere Entwicklung: erstens die Industrialisierung Westdeutschlands und die damit einsetzende freie Rheinschiffahrt, und zweitens der Bau des neuen Ausganges zur ’ Nordsee, den Rotterdam durch das Genie eines Pieter Caland schon um jene Zeit erwarb, des „Nieuwe Waterweg“. Dieser schleusen-, brücken- und sandfreie Kanal, Hollands belebtester und modernster Wasserweg überhaupt, der Rotterdam mit Hoek van Holland („Ecke Hollands") verbindet (30 Kilometer lang), umgeht die versandete Maasmündung und gewährleistete bis vor kurzem Seeschiffen größten Tiefganges die Fahrt in die Binnenhäfen.

Durch seine Lage also war Rotterdam vorbestimmt, der große Umschlag- und Verteilungsplatz,- die Vorhalle des dichtbevölkerten und stark industrialisierten Rhein- und Ruhrgebietes zu weiden. Nun ist ein Transithafen in hohem Maße von seinem Hinterland abhängig und somit äußerst verwundbar.

DIE KRISE DER DREISSIGER JAHRE bekam Rotterdam peinlichst zu spüren. Als es dann unter Einfluß der Konjunkturbesserung wieder vor- wärtsging, brach bald der zweite Weltkrieg auch über Rotterdam herein. Innenstadt und Hafenwerke würden weitgehend zerstört. Die Existenzgrundlage des Hafens schien vernichtet durch den schrecklichen Zustand, in dem sich das zertrümmerte Hinterland befand.

Unter diesen Umständen zeigten die Rotterdamer, daß sie die würdigen Nachkommen eines alten Geschlechts von Seefischern und Seefahrern waren, das im Kampf mit den widrigen Elementen stark und widerstandsfähig wurde. Es klang fast wie eine Herausforderung an das Schicksal, als sie nach dem Krieg ihrem Wappen einen neuen Spruch einverleibten, der da lautete: „Stärker durch Kampf.“

DAS BEKANNTE STÄDTISCHE KRIEGSDENKMAL des berühmten Zadkine zeigt eine menschliche Gestalt, die mit der Gebärde des Entsetzens, gleichsam um Gnade flehend, die Hände in Verzweiflung emporhebt. Eine für Rotterdam keineswegs zutreffende Gebärde. Zadkine ist gebürtiger Russe und französischer Staatsbürger. Ein holländischer Künstler hätte einen echten und rechten Rotterdamer dargestellt, der sich gegen das Schicksal aufbäumt und die Faust in die Höhe reckt. Nicht Rache heischend allerdings, vielmehr zu Widerstand aufrufend, zu Ausdauer im Mißgeschick mahnend: Bleibe fest, trotz alledem! Lakonisch schrieb uns damals ein Rotterdamer: „Wir haben schon einmal aus der alten Stadt eine neue hervorgezaubert, wir tun es einfach noch einmal.“

Der Wiederaufbau gelang in kürzester Zeit. Die ini Frühjahr 1950 organisierte Ausstellung „Rotterdam — ahoi!“ zeigte völlig neue, verjüngte, modernisierte Hafenanlagen. Zeigte aber weit mehr, wies bereits in die Zukunft. Rotterdam hatte Not und Unglück erfahren und darüber doch nie den Wunderglauben verloren. Es glaubte an das deutsche Wirtschaftswunder, als viele noch skeptisch bangten. Und wußte: wenn im Hinterland die Wirtschaft blüht, wird von der Fülle ein Teil auch über den Zaun in Nachbars Gärtlein schneien. Rotterdam war dennoch, als Ein- und Ausfallstor der Niederlande, weitblickend genug, nun auch für seinen Inlandsverkehr eine breitere Grundlage zu schaffen. Heute hat dieser den Durchgangstransport schon überflügelt.

HIER ABER SETZEN DIE NEUEN AUFGABEN und Probleme für Rotterdam ein. Durch die atemraubend schnelle Entwicklung der modernen

Technik und der Wirtschaft entstehen stets größere Transport-, Umschlag- und Lagerungsbedürfnisse und entsprechende Schwierigkeiten, so daß die Hafenverwaltung fortwährend darauf bedacht sein muß, die Anpassung der Hafenbetriebe an die neuen Verhältnisse vorzubereiten und auszuführen. Diese Aufgaben nun lassen sich an Ort und Stelle nicht mehr bewältigen. Rotterdam muß heraus aus der Enge, es muß nach Westen wandern, muß ans Meer heran.

Schon einmal hat Rotterdam den Sprung versucht, als es damals Hoek van Holland annektierte. Es war nicht lautere Liebe zum Meer, was die Stadt dazu veranlaßte. Sie fürchtete vielmehr, der Vorhafen könne sich selbständig machen. Da adoptierte sie kurzerhand den strebsamen Burschen und ließ ihn einfach nicht stark und groß werden, indem sie die Schiffe nach den eigenen Häfen lotste.

Heute liegen die Dinge anders. Raumnot und die technische Entwicklung unseres Zeitalters zwingen, wie gesagt, Rotterdam, den großen Wurf zu wagen.

Die Insel Rozenburg, südlich von Hoek van Holland gelegen, bietet einzigartige Expansionsmöglichkeiten. 1550 Hektar Acker- und Weideland sollen in ein modernes Hafen- und Industriegelände verwandelt werden, das den stolzen Namen Europoort — Europator — erhalten soll.

Die Europoort wird in erster Linie für die Anfuhr und Lagerung von Erdöl bestimmt. Hier werden auch Supertanker und die modernsten Mammuttanker von 100.000 Tonnen ihren Anlegeplatz finden, welchen phantastischen Tiefgang sie auch immer in späteren Jahren noch gewinnen werden. Europoort wird nämlich nicht mehr auf den „Nieuwe Waterweg“ angewiesen sein, sondern einen eigenen, meerarmgleichen Ausgang zur See erhalten. Darüber hinaus will man auch die sehr großen Erz- und Kohlentransporte hier abfertigen können. Hochofenbetriebe mit Stahlfabriken und Walzwerken sollen die Schwerindustrie vorantreiben.

Am 13. September 1958 wurde auf ein Zeichen Ihrer Majestät Königin Juliana mit dem Graben des Hafenbeckens begonnen. Die erste Stufe umfaßte in der Hauptsache die Bagger- und Aufspülungsarbeiten, den Bau der neuen Wasserwehre und Deiche, der Kais, Straßen, Uferbefestigungen usw. Ein Teil des Hafens wurde im Eiltempo bereits weiter ausgebaut. Die zustän digen Behörden sind sich darüber klar, daß der Europoortplan in kurzer Frist verwirklicht werden muß. Die Zeit drängt. Das westdeutsche Industriegebiet schreit um Öl, den kraftspendenden Saft, mehr und immer mehr Öl. Eine Vorbedingung für die Ausführung der Rotterdam-Rhein-Pipeline war, daß die Stadt den Hafen für die größten Tanker rechtzeitig zur Verfügung stellen könnte. Dasselbe gilt übrigens auch von der Wahl Rotterdams als Verteilungszentrum für die mit sehr großen Schiffen aus Amerika herbeizuschaffenden Kohlen und Erze.

Rotterdam wird es auch diesmal schaffen. Die Königin von Maas und

Rhein will ihre Krone nicht leichtfertig abtreten. In fünf Jahren hofft Rotterdam die ungeheure Aufgabe restlos geleistet zu haben.

EUROPOORT WIRD gewiß schon in nächster Zeit interessierte ausländische Gäste heranlocken. Wer die stattlichen „alten" Hafenanlagen von Rotterdam zur Genüge besichtigt hat, nicht durchs Autofenster, versteht sich, sondern vom Wassertaxi oder Spidoboot aus, versäume nicht, der Insel Rozenburg einen Besuch abzustatten. Stehend auf einem der Deiche, überblickt man die gewaltigen Arbeiten: den Bau der Kanäle, Kais, Straßen und Neubauten, einen Wald von Baggern, Stahlkonstruktionen, Kränen, Gestängen und Drähten, ein imposantes Panorama. Hier ist alles Gegenwart und Zukunft. Das Hämmern und Bohren und Rattern klingt weit übers Land, das Lied der Arbeit übertönt das Rauschen des Meeres. Ein Volk baut an seiner Zukunft. Eine neue Welt aus Eisen, Stahl und Beton, aus Menschenfleiß und Menschenschweiß wird aus der Wüste hervor-

poort tragen, das Tor Westeuropas, die Pforte zur Welt.

Hinter dem Zuschauer aber flimmern die Wiesen im Sonnenschein, da weidet das Vieh und zieht ein Pflug seine Furchen durch die Äcker. Wie lange noch wird es dauern, bis der unersättliche Moloch der Industrie auch hier zugreifen wird?

Vom Westen her treibt der Seewind die Wolken heran, die Meereswogen schäumen.

Vor Europoort, in der äußersten Westecke der Insel, auf einer hohen Dünenspitze, überlegt man, müßte, als ein Symbol der Freiheit und des Freihandels, die Statue stehen, übergroß, leuchtend in der Sonne und von der

Brandung und den Südweststürmen umbraust, einen jungen See- und Fahrensmann darstellend, der, breitbeinig und aufrecht, den Blick nach Westen, die Fahne schwenkt und über Nordsee und Atlantik hinübergrüßt nach Amerikas Ostküste: einen Gruß des europäischen Freiheitskämpfers an die amerikanische Freiheitsmagd, Grüße hinüber und herüber der einen und einigen, der freien Welt.

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