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Das ist typisch hollandisch!

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Der Zug rast durch die Landschaft, der Zug Den Haag-Amsterdam. Das Land ist ganz flach, die Strecke schnurgerade, die elektrische Lokomotive in Stromlinienform holt hundert Kilometer heraus. Neun Minuten braucht der Zug von Haag nach Leiden. Kurz hinter der alten Universitätsstadt ein seltsames Bild: blühende Tulpen und Hyazinthenfelder. In einer Art, wie man sie nur in Holland findet. Lange Rechtecke, die Felder, immer mit der gleichen Blumenart bebaut, so dicht bebaut daß man keine grüne Blätter, noch Erde sieht, nur Farbflecke, rote, rosa, gelbe, violette, weiße, alle Schattierungen. Unmöglich für Maler, dies mit dem Pinsel festhalten zu können. Es käme ein einmaliger Kitsch heraus. Nur die Natur kann sich solches leisten. Manche Felder nur mehr grün: jene, bei denen man schon die Blumenköpfe entfernt hat. Dadurch steigt der Saft, den sonst die Blüte absorbiert, in die Zwiebel und läßt sie besonders groß werden. In sechs Wochen werden dann die Zwiebeln herausgenommen und exportiert. 83 Millionen Gulden bringt alljährlich der Blumenzwiebelexport herein. Denn hier, zwischen Leiden und Haarlem, wo diese berühmten Felder stehen, gibt es einen besonderen Boden. In jedem andern Boden gedeihen sie nur einmal in gleicher Pracht. Das zweite Jahr blühen sie schon schwächer, das dritte muß man neue anpflanzen: das Geheimnis, warum dieser Export nie abreißen kann. Bald ist der rasende Zug wieder aus der Tulpengegend heraus. „Das war jetzt typisch holländisch“, sagte mein Begleiter. Ich sollte dieses Wort noch unzählige Male während eines achttägigen Aufenthaltes hören. *

„Das ist eben typisch holländisch“, sagte auch Dr. A 1 b e r i n g, Generalsekretär der Katholischen Volkspartei, der größten Partei der Niederlande, auf meine • verwunderte Frage, wieso er—als Generalsekretär — nicht Minister oder zumin-destens Mitglied des Parlaments sei. „Das ist eine der Seltsamkeiten unseres politischen Lebens. Wir haben noch viele andere. So wird es sie wundern zu hören, daß die Minister einer Partei nicht gebunden sind, die Aufträge ihrer Partei durchzuführen. Sie sind frei in ihrer Politik. Auch die Abgeordneten müssen 6ich nicht an die Richtlinien der Partei halten. Wir überlassen es ihnen, zu entscheiden, was im gegebenen Moment das richtige ist.

Höchstens kann ihrien wiederfahren, daß sie in der nächsten Session unseres Parlaments nicht mehr aufgestellt werden. Auch Parteizeitungen haben wir keine. Die katholische Presse unterstützt zwar die Politik der Katholischen Volkspartei, aber sie können auch ebensooft Kritik an ihr üben. Was sie auch tun — und nicht zu wenig“, fügte er lächelnd hinzu.

„Das ist eben typisch holländisch“, sagte auch Msgr. Op den Coul, Leiter des katholischen Zentralbüros für Unterricht in Den Haag, als er seine Schilderung des holländischen Schulsystems beendete, dem ich etwas verwundert gelauscht hatte. Verwundert, denn es ist ganz anders als das österreichische, das staatliche und wenige, vom Staat genehmigte, Privatschulen kennt, die sich selbst erhalten müssen. Holland dagegen kennt fast nur Privatschulen, die aber, sowohl Gebäude wie Lehrerschaft, vom Staat erhalten werden; daneben nur ganz wenige reine „neutrale“ Staatsschulen, in die nur jene Eltern ihre Kinder senden, die sie nicht in eine konfessionelle Schule geben wollen. Denn die vom Staat erhaltenen Privatschulen sind durchwegs konfess'.o-nelle Schulen, katholische oder protestantische. Nur die konfessionellen Hochschulen, wie die katholische Universität Nijmegen oder die kalviniitische Universität Amsterdam, müssen ganz von den Religionsgenossensdiaften erhalten werden. „Dieses System“, fuhr Msgr. Op den Coul fort und nahm einen Schluck Kaffee — denn es war zehn Uhr vormittag, jene Zeit, um die herum jeder Holländer in jedem Büro eine Tasse Kaffee trinkt — „ist nur verständlich, wenn man die Geschichte der Niederlande kennt. Der Zentralpunkt unser Geschichte ist die Freiheit. Wir lieben über alles die Gewissensfreiheit, die niemals vergewaltigt werden darf. Es könnte deshalb Eltern niemals zugemutet werden, Kinder in Schulen zu geben, deren Besuch sie mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren könnten: also zum Beispiel katholische Kinder in protestantische oder protestantische in katholische oder beide in .neutrale'. Andererseits führte der Staat die Schulpflicht ein. Will er nun Schulpflicht und Gewissenfreiheit vereinen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als die konfessionellen Schulen zu erhalten. Natürlich hat er eine Art Aufsicht: aber nun über die Einhaltung der Lehrpläne, das ist auch schon alles.“ Ich schüttelte wieder etwas den Kopf. „Und funktioniert das System?“ frug ich ungläubig. „Ausgezeichnet“, erwiderte der Monsig-nore. „Ist niemand dagegen?“ frug ich weiter. „Niemand, auch die Sozialisten nicht“, sagte Monsignore und nahm noch einen Schluck Kaifee, um sich dann eine dicke Zigarre anzuzünden.

„Jetzt werden Sie etwas typisch Holländisches erleben“, sagte ein österreichischer Freund su mir, als wir am Sonntag in Den Haag in die Kirche gingen. Ich war neugierig und wartete. Die Kirche war voll, etwa 800 Personen befanden sich darin. Fast jeder saß, kaum einer stand. Die Predigt dauerte lange, nicht verwunderlich in einem ehemals fast rein protestantischen Land. Bis jetzt bemerkte ich nichts, was „typisch holländisch“ gewesen wäre. Doch dann kam es. Beim Offer-torium erschien ein Mann, schwarz angezogen, mit dem harten Gesicht eines Steuereinnehmers, einer ledernen Tasche vor sich, wie sie die Wiener Tramwayschaff-ner tragen. Und begann einzusammeln. Es war beileibe nicht unser „Klingelbeutel“. Denn er hob nicht freiwillige Gaben ein, sondern — die Preise für die Plätze, die eine bestimmte Höhe haben. An manchen Kirchenbesuchern ging er vorüber, das waren jene, die für ihre Sitze ein Abonnement bezahlt hatten. Das Gedächtnis des Mannes war bewunderswert: er wußte genau, wer „Abonnent“ und wer „Gast“ war. Kaum war er durch, kam eine neue Sammlung: kleine^ Büchsen, mit drei Schlitzen gleichzeitig, gingen von Hand zu Hand. Jeder gab in jeden Schlitz etwas. Es war eine Sammlung für die Armen, die Universität Nijmegen, die Erhaltung der Kirche. Kaum war diese Sammlung vorüber, kam eine dritte, eigentlich die fünfte. Wofür sie war, wußte ich nicht mehr. Aber auch hier gab jeder in beispielloser Disziplin und Gebefreudigkeit. „Es ist nicht sehr schön, dieses Sammlersystem in unsern Kirchen“ sagte zu mir ein Jesuitenpater. Ich verteidigte es. Wovon sollte die Kirche sonst leben? Es gibt in Holland keine Kirchensteuern, keine Beiträge, geschweige denn Staatszu Schüsse. Von diesen Sammlungen müssen die Geistlichen leben, müssen die Kirchen, Pfarrhäuser, müssen die Seminare, müssen die bischöflichen Kurien erhalten werden. Und die Holländer geben gern und — viel. Es ist eine der Stärken des holländischen Katholizismus, der seit hundert Jahren einen beispielhaften Aufstieg genommen hat.

Vor hundert Jahren, vor 1848, noch ausgeschlossen von allen Staatsämtern, mit Ausnahme der Offiziersstellen des Landheeres, welches deshalb eine gewisse katholische Tradition besaß, war den Katholiken eigentlich nur der Zugang zu Handel und Industrie möglich gewesen, weshalb bis heute noch viele Großunternehmungen in rein katholischen Händen sind und es auch einen katholischen Arbeitgeberverband gibt. Um die Mitte der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts war die neue Hierarchie geschaffen worden, mit Utrecht als Erzbistum und vier weiteren Bistümern. 90 Jahre nach Errichtung der neuen Bistumsorganisation war zum erstenmal ein holländischer Residential-bischof zum Kardinal ernannt worden: De Jong, Erzbischof von Utrecht, erhielt 1945 den Purpur, sicherlich auch für seine beispielhafte mutige Haltung gegenüber den Deutschen während des Krieges. Staatlicherseits war diese Haltung durch Verleihung des „Großoffiziers“ des niederländischen Löwenordens ausgezeichnet worden, wodurch der Träger den Rang eines Prinzen von Geblüt erhielt und gleich hinter der Königin, neben den niederländischen Prinzessinnen geht. Man ahnt, was dies für den Katholizismus in Holland für eine Ehrung bedeutet, wenn man überlegt, daß er vor einigen Jahrzehnten noch eine kleine Minderheit war, deren Mitglieder doch irgendwie als „second class“ galten.

„Es ist ja sehr schön, dieses Land“, sagte ein Österreicher zu mir, während wir mit dem Auto durch irgendein holländisches Städtchen fuhren. „Herrlich diese Wohnkultur hier, diese Sauberkeit, diese Ehrlichkeit. Alles. Was mir aber manchmal fehlt, ist ein ordentlicher Wald, eine richtige Wiese mit ganz gewöhnlichen Blumen. Alles ist hier wie ein Garten oder wie ein Park; wenn eine Kurve kommt, weiß ich schon, wie es um die Ecke ausehen wird.“ Mein Bekannter hätte nicht sagen sollen „wie ein Garten oder wie ein Park“, sondern „alles ist hier ein Park oder ein Garten“. Garten aber und Parks gibt's eigentlich nur in Städten. Und tatsächlich: Ganz Holland, zumindest ganz Holland zwischen Amsterdam und Rotterdam, ist auch eine einzige große Stadt. Die einzelnen Städte und Städtchen haben eine solche Ausdehnung angenommen, daß sie schon aneinanderwachsen. Sie haben eine solche Ausdehnung angenommen, dank einerseits des großen Menschenüberschusses — heute noch pro Jahr 400.000 — und andererseits dank der großzügigen Wohnungsfürsorge: für jede Familie ein ganzes Haus. Unvorstellbar für Österreicher. Aber ganz Holland ist nicht nur eine einzige Stadt, alles hat hier städtischen Charakter. Alle Häuser, mögen es auch Bauernhäuser auf dem Land sein. Alle Menschen, alle Straßen. Man hat Amsterdam das Venedig des Nordens genannt. Richtiger wäre es, ganz Holland Venedig des Nordens zu nennen. Denn wie Venedig eine künstliche Stadt ist, so auch dieses Holland. Zwar nicht auf Pfählen gebaut, dafür aber mit unendlicher Mühe, Geduld und Fleiß wurde das Land aus dem Meer gewonnen, auf dem diese große Stadt steht. Eine Stadt mit einem kleinen Hinterland, ähnlich wie Venedig; eine Stadt, die — wieder ähnlich wie Venedig — durch ihre Kaufherren, durch ihren Handel mit der ganzen Welt in Verbindung steht und durch ihren Reichtum die größte bürgerliche Kultur Europas schuf. Jene Kultur, die aus den Bildern eines Rembfandt, eines Franz Hals, eines Vermeer van Delft und all der andern Niederländer leuchtet. •

Das Auto gleitet durch die holländische Landschaft, eine echte holländische Landschaft. Uberall Kanäle. Kühe auf den schmalen Wiesen, die wieder von Kanälen eingesäumt werden. Weiden mit zartem Grün an den Ufern. Die Straße gleichzeitig ein Deich, gepflastert mit Ziegeln. Zugbrücken vor den Häusern. Windmühlen in den Wiesen am Rande. Im Hintergrund irgendein Kirchturm. Auf der einen Seite der Himmel blaugrau, auf der andern fahlgelb. Irgendwo habe ich dies Bild schon gesehen. Dann fällt es mir ein: im Kunsthistorischen Museum in Wien, bei den Gemälden Breughels oder Ruisdaels. Es ist die gleiche Landschaft, die gleiche Stimmung. „Das ist typisch holländisch“, sage ich zu meinem Freund am Steuer des Wagens. Er nickt nur stumm.

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