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Oktoberblüte, Novembergrün

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Die freundliche Stimme der schönen Stewardess, die über Bildschirm den Gebrauch der Schwimmwesten erklärt, tröstet nicht, wenn man weiß, daß man in Kürze den Atlantischen Ozean überfliegen wird, aber nach langer Flugnacht aus dem Fenster sehend, dachte ich nicht mehr daran. Über dem Horizont zeichnete sich ein orangefarbener Streifen ab, der über helles Ocker, Grün und Königsblau in den schwarzen Himmel

verschwamm. Wenig später wurden die Farben noch intensiver, über sattes Karmin breitete sich Orangerot und leuchtendes Blau.

Gesäumt von diesem flammenden Horizont, tauchte in der Tiefe ein Stück blausilberner, mit Gold durchwirkter Brokat auf, griff mit unregelmäßigen Ausläufern in die Schwärze hinein, die Wasser sein konnte oder Land, das war noch nicht feststellbar. Es war ein Bild, das ich nicht vergessen würde. Als die Boeing 777 zur Zwischenlandung abdrehte, sah man Augenblicke lang nur in strahlendes Rosa getauchten Himmel, über Rio war die Sonne aufgegangen.

Später, vom Fenster der Maschine aus, die nach kurzem Zwischenaufenthalt neuerlich eine Schleife zog, leuchtete in der Morgensonne die an eine gezahnte Küste, über vorspringende Landzungen bis auf vorgelagerte Inselchen gedrängte, zwischen bizarr geformte Hügel geschobene Stadt, leuchteten der von Hoteltürmen und Gischtstreifen gesäumte helle Sandstreifen der Copacabana, die frühlingsgrünen Wälder und die Felsabstürze des berühmtesten der kegelförmigen Berge, den man den Zuckerhut nennt. Im Weiterflug, wie mit der Schere aus dem tiefblauen Ozean ausgeschnitten, von weißem Sand begrenzte Buchten, Wälder, Wälder, rotbraunes Bau- oder Ackerland.Nach etwa einstündigem Flug tauchten endlose verbaute Flächen auf, aus denen einzelne Hochhaustürme wie Nadeln emporstießen, bis sie sich, zum Zentrum hin, immer dichter aneinanderscho-ben. Dieses Zentrum, vielzackig ragend, eine Anhäufung von Wohn-und Geschäftstürmen, eng anein-andergedrängt, wetteifernd an Höhe und Eleganz, bildet den Kern eines riesigen Ballungsraumes, den man die Stadt Sao Paulo nennt. Die Landung gelang, wir waren angekommen, ich hatte meine Schwimmweste nicht gebraucht.

In Wien war es sieben Uhr dreißig, hier war es halb elf, ich war nicht nur auf einem anderen Erdteil, in einer anderen Sprache, in einer fremden Umgebimg gelandet, sondern auch in einer anderen Tageszeit, ich war müde und hätte gerne geschlafen, aber ich hatte nach mehrstündiger Wartezeit ein anderes Flugzeug zu besteigen, um den Ort zu erreichen, an dem ich erwartet wurde.

Ich war auch in eine andere Jahreszeit gefallen. Hier war Frühling, daheim fielen die Blätter von den Bäumen. Und ich hatte auch die Himmelsrichtungen vertauscht. Immer wieder würde ich in den folgenden Tagen vom heißen Norden hören und vom kühleren Süden. Im Norden sei alles anders, dort reife die Kaffeekirsche schon, dort seien die Bananen längst gelb, während sie hier noch in grünen Büscheln in den einjährigen Stauden standen, im Norden, nicht hier, sei der in Europa so vielbesprochene Regenwald. Nach Norden gelegene Wohnungen seien sonnig und warm, auch im Winter. Der Norden, immer wieder der Norden.

Nachts würde ich den Sichelmond am Himmel liegen sehen wie eine nach oben geöffnete Wiege. Der wärmste Monat sei der Januar, der kälteste der August. Bald, im November, beginne die Badesaison. Das alles wäre Schulwissen, man muß nur einen Blick auf den Globus werfen, dann weiß man Bescheid, aber hautnah erlebt hat es Auswirkungen auf das Gemüt. Ich kam mir entwurzelt vor, mir selbst entfremdet, ich hätte mir einen anderen Namen geben können, ich hatte das Gefühl, vieles, was mir wichtig gewesen war, habe an Bedeutung verloren. ,

Anderes, worüber ich auch Bescheid gewußt hatte, gewann an Gewicht. Zu wenig Arbeit für die Zahllosen, die aus dem Inneren des riesigen Landes zuwandern, an den Rändern der großen Städte aus Kistenbrettern winzige Hütten errichten, in denen ganze Familien wohnen. Zu wenige Schulen für die Kinder der Armen, die keine Privatschulen besuchen können, die jahrelang auf einen Platz in einer der öffentlichen Volksschulen warten, auch wenn dort täglich in drei Schichten unterrichtet wird, zu wenige Lehrerinnen, denn vor allem Frauen widmen sich diesem schlecht bezahlten Beruf. Wenn ein Kind erst mit neun oder gar mit zehn Jahren einen Schulplatz bekommt, dann ist es an Ordnung nicht mehr zu gewöhnen. Da wachsen, sagte man mir, Kriminalität und Rauschgifthandel. Unzählige Analphabeten gibt es im Land.

Dazu das Währungschaos, trotz mehrmaliger Reform. Ich hielt ein Banknotenbündel in der Hand und war ratlos. Nie würde ich mich in diesen Scheinen zurechtfinden, von denen unterschiedlich viele Nullen abzustreichen waren, wenn man den augenblicklichen Geldwert errechnen wollte. Versuchen Sie es gar nicht, sagte man mir, selbst die Einheimischen haben Mühe, damit zurechtzukommen. So legte ich fortan, wenn ich eine Rechnung zu begleichen hatte, meine Geldscheine auf den Tisch und der, dem ich zu bezahlen hatte, suchte das Passende heraus. Ich bin dabei nicht betrogen worden.

Ein schönes, ein armes, ein rei -ches Land. Gold, edles Gestein und Diamanten. Die Juweliere in Sao Paulo betrachten den Einlaß Begehrenden kritisch und lange durch die einbruchsicheren Türen, ehe sie aufschließen und ihn eintreten lassen. Die Ureinwohner des Landes leben in Reservaten und haben ihre Geschichte verloren. Brasilianer schämen sich indianischer Vorfahren, sagte Christina aus Curitiba, ihr Vater war Preuße, eine der Großmütter war Indianerin. Diese Großmutter, meine Mutter und ich, sagte Christina, wir drei konnten nie lange an einem Ort bleiben, wir mußten immer weiterziehen. Das ist indianisches Erbe.

Hier gibt es einen verdeckten Rassismus, sagte mir eine Germanistin aus Sao Paulo, der ärger ist als in den Ländern, in denen man seine Aversionen offen bekennt. Nur die Snobs unter den Nachkommen der ältesten hier ansässigen Familien bemerken manchmal im Gespräch, sie hätten einen Tropfen schwarzes Blut in den Adern. Dunkel ist schön in Brasilien, sagte sie, aber die Fotomodelle in den Illustrierten sind hellhäutig und haben blondes Haar. Nebenbei: Hier gibt es Leute, die Landbesitz haben, der größer ist als Österreich, aber sehr häufig nützen sie ihn nicht, sie sind reich genug, sie haben viel Geld im Ausland, zumeist in der Schweiz.

Hier leben nur Italiener, sagte Doloris aus Florianopolis, als wir in ihrem Wagen ein Dorf an der Küste durchfuhren, hier leben die Nachkommen deutscher Einwanderer, sagte sie in einem anderen Ort. Immer wieder traf ich in diesen Tagen mit Leuten zusammen, deren Eltern und Großeltern aus Böhmen, Schlesien, Pommern oder Jugoslawien eingewandert waren. Brasilien hatte sich in Zeiten der Not als Einwanderungsland angeboten, nach den großen Kriegen und in Hungerzeiten, schon im vergangenen Jahrhundert. EinBrudermei-ner Großmutter mütterlicherseits war schon nach dem Ersten Weltkrieg in brasilianischen Urwäldern verschollen, ehe er für immer verschwand, schickte er noch eine Ansichtskarte, eine weiße Möwe schwebte darauf über tiefblauem Meer.

Wir fuhren die Küste entlang, durch dicht bewaldetes Hügelland, frühlingsgrünes Buschwerk war von höher wachsenden Palmen, Pinien, Akazien überragt, da und dort leuchteten, gelb oder rosafarben, die noch blattlosen, aber von Blütenschleiern überhauchten Kronen der Ip6-Bäume, die lila Blütenschirme des Jakarandä. Ein schöner Frühling in diesem Herbst, wenn es grau sein würde in Wien, würde ich vor meinen Fenstern dieses von Blüten durchsetzte Frühlingsgrün sehen, wenn mein Garten im Frost erstarrt sein wird, dann werden in Santa Catarina die kleinen Blütenkelche jener Sommerblume in allen Rot- und Rosatönen leuchten, die wir „Die schöne Wienerin“ nennen. Haben wir sie aus Südamerika importiert oder haben Auswanderer aus Europa sie dorthin mitgebracht, wie ihre Spinnrocken, Webstühle, Hausformen und anderes mehr?

Mit einem alten Webstuhl ist im vorigen Jahrhundert einer dort angekommen, dessen Nachkommen heute eine der größten Textilfabriken der Region besitzen. Die Baumwolle beziehen sie aus dem Norden, von eigenen Plantagen. Wollen Sie mit mir nach Blumenau fahren, fragte Doloris, sie stammt aus diesem von deutschen Einwanderern gegründeten Ort, der seinen Namen auch nach dem Eintritt Brasiliens in den Zweiten Weltkrieg behalten durfte. Andere Orte waren damals umbenannt worden, die deutsche Sprache wurde verboten. Das ist vorbei, sagte Doloris, heute wird wieder Deutsch unterrichtet, heute gewährt die Regierung Steuererleichterung, wenn im deutschen, im sogenannten „alpinen“ Stil Häuser errichtet werden.

Blumenau gilt als Mustersiedlung, die Stadt liegt am Rio Itajai-Acu, am Fluß des gelben Steines, der indianische Name blieb erhalten. Als wir die Hauptstraße durchfuhren, nahm ich die Sonnenbrille ab, um besser zu sehen, was ich nicht für möglich gehalten hätte. Ich sah Häuser in Fachwerkbau, mit steilen Dächern, ein Rathaus mit Uhr, das Schindeldach von zwei Türmchen flankiert, ich sah rote Herzchen auf dunkel gebeizten Fensterläden, Gartenzwerge auf einem Holzbalkon. Von einem rosa gestrichenen Türmchen grüßten Rotkäppchen und der Wolf, von einem Triumphbogen winkten bayrisch gekleidete Männlein, Bierkrüge in der Hand.

Doloris lachte über mein erschrockenes Gesicht. Vor einigen Jahren, erklärte sie, habe es eine furchtbare Überschwemmung gegeben, um der Bevölkerung zu helfen, habe man beschlossen, das Oktoberfest nach deutschem Vorbild zu feiern. Die Häuser mit dem Fachwerk seien übrigens neu.

Mittag im Restaurant saß eine Gruppe dunkelhäutiger junger Leute am Nebentisch, jeder von ihnen hatte eine Art Tirolerhut auf dem Kopf, sie tranken Bier aus Steinkrügen und sangen „Ein Prosit der Gemütlichkeit“.

Ich flüchtete, im Ausgang lief mir ein junges, blondhaariges Mädchen über den Weg, sie trug ein reich besticktes Trachtenkleid, auf einer ebenfalls gestickten Schärpe stand, daß sie die Königin des Ok toberfestes sei. Ich durfte sie fotografieren

Jetzt waren die Straßen voller Kniehosenträger mit weißen Strümpfen und Hemden, auf einem kleinen Platz tanzten junge Leute zur Blaskapelle, „Rosamunde, schenk mir dein Herz heute Nacht“, der baumlange Schwarze, der die Posaune blies, hatte den roten „Tirolerhut“ keck in die Stirne gerückt, auch die jungen Leute trugen solche Hüte, ein echter „Schladminger“ war darunter, ausgelassen hüpften sie im Takt der Musik.

Wir entkamen rechtzeitig, ehe der Festzug begann. Ehe wir die Stadt verließen, besuchten wir noch die schöne, nach einem Entwurf von Clemens Holzmeister aus Steinen der Umgebung erbaute katholische Pfarrkirche, die sich auf einem begrünten Hügel erhebt. Endlose Autokolonnen kamen uns auf der Gegenfahrbahn entgegen, aus allen Richtungen kamen die Leute, um Bier zu trinken, Stelze zu essen und fröhlich zu sein. Hier sagt man Eisbein, wie in Deutschland, sagte Doloris.

Hier sprechen übrigens alle etwas Deutsch, sogar die Schwarzen, die Kinder der Einwanderer fühlen sich aber nicht mehr als Deutsche, sie sind stolz darauf, Brasilianer zu sein.

Dann, in Sao Paulo, liefen einem sehr alten Mann die Tränen über das Gesicht, als ich auf seine Frage antwortete, daß ich aus Wien in Österreich sei. Ich bin aus Lemberg, sagte er, wissen Sie, wo das ist? Ich sagte, ich wüßte es. Grüßen Sie Österreich, rief er mir nach, als ich seinen Laden verließ, grüßen Sie Wien.

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