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Das arme Land der Millionäre

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loh habe mich zur Rast niedergelassen. Eigentlich wollte ich bis San Carlo gehen. Aber warum? Ich habe kein Ziel. Mein Ziel ist dort, wo es schön ist. Und hie ist es schön. Die kurz geschorene Almmatte, gepflegt wie ein kostbarer Teppich, umfriedet von kleinen Mauern, jenen naturschönen Kunstwerken aus Granitsteinen, die den Wanderer im Tessin immer begleiten, ihm den Weg weisen und mehr noch zum Verweilen anregen. Steine, groß und klein, so wie sie die Natur gefügt, aufeinander geschichtet, mit Moos gepolstert, mit kleinen Farnen bewachsen, oft efeuumrankt oder durch Brombeerhecken getarnt, Heimstätte von Smaragdeidechsen, kleinen schwarzen Skorpionen und Vipern, Sinnbild glücklicher Harmonie von Mensch, Pflanze und Tierwelt. Da sind die Bauernhütten, genau wie die Umfriedungen aus losen Steinen gefügt. Sie ducken sich in einen Garten von Kastanienbäumen, Erden und Eiben und sind kaum zu unterscheiden von den riesigen Granitblöcken, die in urweltlicher Wildheit am Fuß der senkrecht fallenden Felsplatten ruhen. Und über diese drohenden Wände, die schwarzviolett aus dem sonnigen Buschwerk schimmern, spinnt sich das ruhelose Silbernetz eines Wasserfalles, gleichermaßen zart wie gewaltig.

Ein Tisch aus rohem Kastanaenholz trägt den irdenen Krug mit dem herben Landwein. Im Tessin schlürft man den Rebensaft aus dem „Bocca-lino“, und die Einheimischen nennen ihren Wein „Nostrano“. Es gibt auch feinere Weine hier. Weiter drunten am Lago Maggiore wächst ein spritziger Merlot und der kräftige Bar-bera. In den Tälern trinkt man jedoch den Nostrano. Griffiges Brot und die hausgemachte Salami ergeben eine gute Unterlage. Das Gasthaus unterscheidet sich kaum von den anderen Hütten: aus Granitsteinen geschichtet, mit Granitplatten gedeckt. An der Außenmauer führt eine Steintreppe empor. Die Terrasse mit den Kastanientischen und den roh gezimmerten Bänken ist mit Stroh überdacht und von Weinreben beschattet Selbst diese rustikale Pergola wird von Granitpfeilern gestützt. Auf der steinernen Brüstung leuchten aus hölzernen Töpfen brennend rote Geranien. In der Mitte der Terrasse springt aus dem Mauerwerk des Hauses ein steinerner Brunnen mit kunstvoller Ornamentik. Über sonnenverbrannte Scheunen und graue Steinplattendächer streift der Blick zu einem gewaltigen Wasserfall der über die dunklen Felsen donnert und drunten sein silbernes Naß auf smaragdbemooste Granitblöcke sprüht. Schaut man das Tal hinaus gegen Bignasco, fesselt eine Bergwelt von beinahe erdrückender Wildheit.

Und die Menschen? Es gibt nicht viele Menschen hier. Da wäre dieses Mädchen mit den großen schwarzen Augen, das mich mit unaufdringlicher Freundlichkeit bedient und sich über jedes Krüglein Nostrano freut, das ich bestelle. Obwohl sie als Kellnerin den Umgang mit Fremden gewohnt sein müßte, ist sie scheu und zurückhaltend. Erst nach meinem dritten Besuch in dieser reizvollen Schenke wird sie gesprächig. Sie erzählt mir von einem bescheidenen Leben in einem kargen Land, von harten Tagen im Winter und von einsamen Hirten in kleinen Tälern, die kaum ein anderer betritt. Ich hingegen sehe ein paradiesisches Bergland in der verklärenden Sonne des Herbstes. Durch die rosige Brille des Nostrano wird die Sonne noch kraftvoller und die Schatten werden milder. Licht und Schatten — eine mit allem versöhnende Harmonie, die plötzlich erstirbt, wenn die Nacht hereinbricht und ich mich fröstelnd in den nach Holzfeuer duftenden Gastraum zurückziehe.

Es ist Nacht. Außer mir hat niemand den Bus verlassen. Die Gassen zwischen den Steinhütten sind leer und auch auf dem Dorfplatz ist kein Mensch zu sehen. Gespenstisch ragt das Gemäuer des alten Schlosses. Aus einigen Fenstern im Erdgeschoß schimmert Licht,

Die Halle erinnert an einen alten Rittersaal. Nur die Theke aus Kastanienholz läßt den gegenwärtigen Zweck dieses Raumes erkennen. Einsam flackert das Feuer im Kamin. Es riecht nach verbranntem Nadelholz. Ich setze mich an einen der klobigen Tische und warte. Nach geraumer Zeit bewegt sich die Tür im Hintergrund. Die Alte sagt, alle seien in der Kirche und bringt mir einen Becher Nostrano. Mich fasziniert das Gesicht dieser Frau. Es ist offen, klar, lebendig, schön. Schönheit ist kein Privileg der Jugend. In diesen Furchen liegt der beruhigende Ausdruck eines bewältigten Daseins. Aus diesen Augen spricht das Wissen um den Einklang mit den Gesetzen der Natur. Da ist nichts von der Stumpfheit des Alters. Diese Frau lebt das Alter. Wenn man auf solche Menschen trifft, fühlt man sich in ihrer Welt geborgen. Nach der Kirche wird es im Castello lebendig. Die Hausleute kehren zurück und Gäste kommen. Der Tisch vor dem Kamin ist bald besetzt. Ein Bärenkerl mit üppiger Bart- und Haarpracht lehnt genußvoll im Sessel, den Arm auf die Tischplatte gestützt. Sein zufriedenes Lachen steckt alle an. Ein alter Bauer mit rotem Gesicht und sprühenden Augen angelt sich die Handharmonika heran, schiebt den Kalabreser ins Genick und spielt eine jener mitreißenden Tessiner Weisen, die die Melancholie des Südländers und die Herzhaftigkeit des Bergmenschen vereinen. Die Wirtin, füllt die Becher nach und die alte Mutter hockt auf der kleinen Bank am Kamin und schürt mit dem Blasbalg das Feuer.

Das Tessin ist ein armes Land und zugleich ein Mekka der Millionäre. Die Reichen haben ihre bevorzugten Plätze, und sie waren nicht immer dort. Sie kamen im Gefolge jener Naiturapostel, die einst die Schönheit dieser Landschaft entdeckten, Bücher schrieben und Bilder malten. Ascona war vor einigen Jahrzehnten ein kaum bekanntes Fischerdorf mit ein paar „Verrückten“ auf dem Monte Veritä. Es gibt auch heute noch Künstler dort, vielleicht mehr als früher, aber diese kommen nicht, um zu arbeiten, sondern um zu verdienen. Sie leben von den neuen Herren am Monte Verita, sie wollen teilhaben an jener realen Traumwelt der Luxusvillen und Märchengärten, die nun das Bild dieser Gegend prägen. Die konservierte Romantik des Fischerdorfes ist in Brillanten gefaßt, die zahllosen Boutiques in den engen Gassen, die Meinen Geschäfte für Mode, Schmuck, Antiquitäten, Kosmetika und Spezialitäten jeder Art bieten das Teuerste und das Beste aus aller Welt. Die Touristen sind hier nur Zaungäste, bescheidene Statisten auf einer Bühne stilisierten Prunks. Ihr Radius ist beschränkt auf einige billigere Lokale, auf die Selbstbedienungsläden und etliche hundert Quadratmeter öffentlichen Badestrand. Ein ruhiges, individuelles Plätzchen an den Gestaden des Lago Maggiore zu finden, ist in der Gegend von Ascona ein aussichtsloses Unterfangen. Das Ufer des Sees ist in privatem Beitz und hermetisch abgeriegelt So bleiben dem Touristen nur ein Stadtbummel und Spaziergänge zwischen den dicht verwachsenen Traumvillen. Die Reichen wollen ungestört sein in ihren Palazzi und Haciendas mit eigenem Strand, Hallenbad oder Gartenllft, in ihren Horsten unermeßlicher Luxus zwischen heißem Granitgestetn. Sie wollen unter sich sein während der paar Wochen im Jahr, die sie für den Aufenthalt in ihren Privatparadiesen erübrigen können. Die ständigen Bewohner sind die Angestellten und die Haustiere, Schoßhündchen, Slamkatzen, Papageien und Zierfisehe.

Das ist das Tessin der Reichen und das Tessin der Kartenschreiber.

Die Stille der Nacht und der Duft von Holzrauch liegt über dem Labyrinth der Gassen. Die alten Laternen werfen ein mildes, gelbliches Licht auf das Pflaster aus flachen Steinen und tauchen das an natürlichen Ornamenten reiche Gemäuer, die kleinen vergitterten Fenster und die klassischen Rundbogentore in einen unwirklichen Schimmer. Katzen streunen, aus manchen Häusern dringt Musik, irgendwo streiten ein junger Mann und eine Frau. Er nennt sie Putana.

Sonst ist es still in diesen Gassen, die irgendwie an Neapel und Nordafrika erinnern und doch anders sind. Sie sind still und sauber. So sauber wie jahrhundertealte Gassen sein können. Mit ausgebreiteten Armen kann man von einer Mauer zur anderen langen. Weil die Gassen so schmal sind, kann auch kein Fahrzeug hindurch. Sie sind nur zum Gehen geschaffen. Sie führen über Treppen und Ecken, bilden winkelige Kavernen oder ziehen sich wie Schläuche hin. Aber nie sind sie öde, uninteressant, abstoßend wie viele moderne Straßenzüge. Jedes Haus, jeder Innenhof, jeder Durchschlupf hat Charakter, besitzt eine eigene Architektur, gestaltet durch die naturgegebene Notwendigkeit und mit dem gesunden Stilempfinden vergangener Geschlechter. Die Alten hatten es leichter mit dem Bauen. Sie konnten nicht verdorben werden, weil sie keinen architektonischen Versuchungen ausgesetzt waren. Dieses heimelige Durcheinander von Häusern und Gassen wurde weder geplant, noch konstruiert. Es ist organisch gewachsen. Es war für den Menschen gedacht und für seine vierbeinigen Freunde. Draußen vor dem Dorf in den Gärten und Weinbergen ist die Nacht laut und erregend. Wild, aufreizend dringt aus dem samtenen Dunkel der schrille Gesang der Grillen und Zikaden, und eine laue Brise bringt den berauschenden Duft exotischer Blüten.

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