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Gang durch Frankfurt

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Frankfurt. Der Bahnhof weist schwere Schäden auf, doch konnten ihre Spuren schon zum Teil beseitigt werden. Die Probleme der Wohnungssuche bleiben uns erspart, liebe Freunde holen mich ab, bei denen ich wohnen kann. Durch eine mondhelle Nacht folgen wir einer der Hauptstraßen. Gespensterhaft, an leeren Häuserfronten entlang — an Schuttbergen vorbei führt unser Weg, bis wir in ein Viertel einbiegen, wo einst Villeristraßen sich kreuzten. Dort wandeln wir im weißgrauen Licht der Nacht in einer Mondlandschaft. Wohl erhellen Kandelaberlampen den Weg, der über zersprungene Steinquadern, über geplatzte Asphaltdecken, über Erdhügel und Erdlöcher verläuft, aber kein Lichtschein fällt aus den Häusern. Unsere Schritte hallen unheimlich einsam wieder in der toten Stille der Straßen.

„Was ist hier los?”

„Es wohnt niemand da — unser Haus ist das einzige der Straße, das nidit ausgebrannt ist. Trotzdem leben wir gerne hier. Wir haben gute Trambahnverbindungen und Lebensmittelgeschäfte in der Nähe. Heute kann die Lage einer Wohnung Stundenunterschiede in der Abwicklung des Alltags bedeuten.”

Am nächsten Tag wandern wir durch zerstörte Straßen, über endlose weite Plätze, deren umgrenzende Häuser fehlen. Ein schöner Brunnen bietet seine Schale dem Wasser dar — das nicht fließt, da alle. Zuleitungen beschädigt sind.

Hier wird das Zurechtfinden zum Rätselraten. Hinter der Hauptwache gegen die Altstadt und den Main Zu, sind die meisten Straßen nicht mehr gangbar, manche durch Stachel drähte abgesperrt. Schutt berge habeh dort die Höhe gewachsener kleiner Hügel erreicht. Der Dom weist hoch über die Trümmer hinweg die Richtung und man folgt den Menschen, die sich in dem Ge winder Stein-, Mauer- und Betonreste zurechtzufinden scheinen. An Eisenschienen, Traversen und Drahtgewirr vorbei, gehen alle schnell und halten den Kopf gesenkt. Wer wollte auch immer die Zerstörung sehen und in das Bewußtsein aufnehmen? Manchmal wird der Steig ganz schmal, manchmal muß man sich mit Händen an schweren Steinblöcken hochhissen und, vorsichtig den Fuß auf Traversen setzend, eine tiefe Spalte überqueren.

Entsetzen wird allmählich zum Grauen, als uns ein Abkürzungsweg durch das eingestürzte Schiff einer gotischen Kirche führt. Feuermauern stehen drohend in der fensterdurchbrochenen Kulisse. Unsere Schuhe sind mit Staub bedeckt, unser Mund spürt griesigen Sand, die Augen brennen — obwohl es völlig windstill ist.

Nun erhebt sich keine Mauer mehr über dem Erdboden, hier lebt niemand, aber um das alte Rathaus sind aus Gewölben und Brettern und Türverschlägen neue Wohnungen entstanden, die höhlenartig in die Tiefe führen. Rauda steigt aus provisorisch, dilettantisch verfertigten Blechröhren auf.

Nach mutigem Klettern und Springen sind wir in einer Verkehrsstraße gelandet und den Umrissen des alten Domes näher, hier muß bald der Platz des Römers zu überqueren sein, vorher aber stehen wir vor Goethes Geburtshaus am Alten Hirschgraben. Es ist bis auf die Grundmauern vernichtet, verschwunden das kleine Fenster, in dem Frau Rat Goethe die Vorgänge auf der Straße, das Kommen und Gehen von Freunden und Bekannten zu beobadaten liebte. Das deutsdae Hochstift, in dessen Obhut das Goethe-Haus gegeben war, schreitet bereits an den Wiederaufbau. Die wundersdrönen Möbel aus der Zeit und das historische Inventar sind zum Glück erhalten geblieben.

Dann stehen wir am Römerberg — vor uns das alte Rathaus der freien Reidas- und Krönungsstadt Frankfurt. Der aus zwölf alten Häusern bestehende Römer grinst uns mit leeren Fensterhöhlen entgegen. Ein Teil der Fassade, die erhalten blieb, macht die Zerstörung dahinter noch sichtbarer. Bis zu den Fenstern des ersten und zweiten Stockes reicht der Sdautt des eingestürzten Baues, begraben unter ihm der alte Kaisersaal, von dem nur die Steinbogen durch die aufgerissene Fassade sichtbar sind, die Kaisertreppe mit dem graziösen und doch prunkvollen schmiedeeisernen Geländer.

Wo lag das steinerne Haus, das schwer und trutzburgartig mit Zinnen und Wehrtürmen für den reichen Kaufmann Johann von Melen aus Köln 1464 erbaut worden war? Es ragen kaum noch Mauerreste davon aus dem Schutt.

Traurig sch weift der Blick über den Platz hin. Der um 1543 errichtete Brunnen steht noch und mahnend hält Justitia die Waage hoch. Hinter der Statue der Justitia weite Straßenzüge lang nur Ruinen. Schaudernd wenden wir uns ab und gehen auf die Höhe des Römerberges zu. Der feine schmale Turm der gotischen Nikolaikirche steht aufrecht, welche Grazie, welche Schönheit! An den vorliegenden Trümmern tasten wir uns weiter und stehen plötzlich in der Goldhutgasse, am Fünffingerplatz, den heute noch das reizende kleine Steindenkmal eines Bacchus kenntlich macht. Bacchus… vor ihm wieder der Turm der Nikolaikirche, hinter ihm die Schenke, von der nur noch ein winziger- gotischer Erker und das schwere Quaderntor erhalten blieb. Dem kleinen friedlich lächelnden Bacchuskind fehlt ein Arm, dem Erker hinter ihm das Haus.

Hier standen einst die schmalbrüstigen Bauten, die wie Wellenbrecher die engsten Gäßchen im Schmucke ihrer hohen Giebeldächer und bemalten Fassaden teilten. Unkenntlich und für immer verseil wunden die mittelalterliche Schönheit des begrenzten Raumes.

Vom Haus „Zum schwarzen Stern”, an dem vorbei wir wieder auf den Römerberg heraustreten, stehen nur mehr einige Steinbogen des Erdgeschosses und die Maueransätze, auf denen die reichverzierten Fachwerküberhänge in die Höhe strebten. Wie sehr liebten es die Bürger Frankfurts, im Schatten dieser Vorbauten der oberen Stockwerke ihre Ruhestunden zu halten und im Regen hier frische Luft zu schöpfen. Die Überhänge waren der nordische Ersatz für südliche Laubengänge.

Wir versuchen dort, wo einst das Haus des großen und kleinen Engels den Eingang zum Römerberg beherrschte, den Durchgang zum Alten Markt zu finden.

Über den Alten Markt kämpfen wir uns langsam und vorsichtig tastend zum Domplatz vor, an der Stelle vorbei, wo einst das Haus der goldenen Waage stand. Wie schön war es mit seinem Höfchen und dem „Belvedere”, einer Art italienischer Altane und deutscher Gartenlaube, von wo aus man einen einzigartigen Blick auf den Domturm hatte. Der Zuckerbäcker Abraham von Hamei aus Dornick (Tournai) hat es für rieh erbauen lassen. Wie traurig, daß der Reichtum an Holz- und Stuckdecken, an eingelegten Türen und Schränken, an wertvollen Keramiköfen auf immer verschwunden ist.

Um das Denkmal des Frankfurter Dichters Friedridi Stoltzfc zeigen bunte, armselige, im Wind flatternde Wäschestücke, daß hier Menschen wohnen, obwohl rieh dem ersten Blick keine Behausung zeigt. Frankfurts Altstadt ist bedeutend mehr zerstört, als Roms Kapitol. In den Trümmern und Rainen hausen an verborgenen Stellen auf fast unzugänglichen Plätzchen einzelne alte Menschen, die sich von ihrer Scholle nicht mehr trennen wollen. Sie haben aus Steinen und Brettern Hütten und Verschlage aufgestellt und in der Wüste rundherum rührende, kleine Gärten angelegt, in denen man sie am Abend bei untergehender Sonne sitzen sehen kann, Zeitung lesend, mit Näharbeit, oder Gemüse putzend. Der Anblick ist erschütternd.

Plötzlich liegt der Dom vor uns. Unheimlich weit treten die Ruinenkulissen von ihm zurück. Zu gotischen Domen gehört die Enge ihrer Plätze, auf denen sich die Häuser unter dem Schutz der hohen Kirche zusammendrückten. Was wären Englands Kathedralen ohne ihre Bürgerbauten. Man kann sich York und Canterbury ohne den Platz der Deanery überhaupt nicht vorstellen. Die Intimität, in der die Gläubigen und die hohe Geistlichkeit um ihr Gotteshaus geschart lebten, gehörte zu jeder Stadt des Mittelalters. In Frankfurt ist die mittelalterliche Welt mit den Bauten zwischen Dom und Main völlig verschwunden.

Traurig beginnt man den Rundgang, ein Brunnen nur zeigt uns den Platz, wo einst das Roseneck und die große Fischergasse zusammentrafen. Hier lebten die Brüder Grimm, hier sind ihre Märchen entstanden. Vom engen langen Schirm mit den weit ausladenden Schirmdächern über dem Wurstkessel ist nichts übriggeblieben, der Schoppenbrunnen ist alles, was uns der Krautmarkt noch zeigt. Der Dom ist ausgebrannt, Teile des historischen Baues sind eingestürzt. Nur der Turm steht unversehrt und schaut über Frankfurt hinweg. Welch große historische Erinnerungen barg das Dunkel des Innenraums, in welch üppiger Verschwendung waren hier, wie in einer Schatzkammer der Kunst, Altäre, Grabsteine, Figuren aus Holz und Stein aufgerichtet worden, legten Bilder und Goldschmiedearbeiten Zeugnis ab für die Frömmigkeit ihrer Spender.

An den Kunstschätzen, die hier durch Jahrhunderte zusammengetragen worden waren, zogen die Krönungszüge der deutschen Kaiser vorbei. Das Licht ihrer Kerzen und Fackeln berührte die Gruppen des Maria-Schlaf-Altares, der herrlichen Kreu- zigungsgruppe, während die stolzen Ratsherrn in demütiger Haltung den Krönungsbaldachin vorbeitrugen. Die Großen des Reiches hatten hier im prunkvollen Chor- gestühle Platz genommen, um der Krönungsfeierlichkeit beizuwohnen. Vor ihnen lagen auf dem alten Schrein, den Tilman Riemenschneiders Bildwerke zierten, die Krönungsinsignien; der aus dem 12. Jahrhundert stammende Krönungsmantel des Königs Roger, an dem die Brillantagraffe mit dem großen „Florentiner” funkelte, der Säbel Karls des Großen, die Lanze des heiligen Mauritius, das Reichskreuz, die deutsche Kaiserkrone!

Das Bild versinkt. Frankfurts stolze Zeit ist vorüber, vorüber auch die Zeit, aus der heraus Goethe als Greis an Bettina Brentano kurz vor seinem Tode schreiben konnte: „Wenn mich jemand früge, wo ich mir den Platz meiner Wiege bequemer, meiner bürgerlichen Gesinnung gemäßer oder meiner poetischen Ansicht entsprechender denke, ich könnte keine liebere Stadt als Frankfurt nennen.”

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