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Neue Funde aus dem mittelalterlichen Wien

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Die bewußte und beharrliche Anwendung einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise, besonders die Untersuchung des Steinmauerwerks, wurde am Beispiel des Stephandsdoms unternommen ', und die vielen neuen Entdeckungen haben dazu geführt, daß diese Methode von Seiten der zünftigen Kunstgeschichte, auch der ausländischen, als Hilfswissenschaft recht freundliche Aufnahme gefunden hat. Gleichartige Studien an sämtlichen anderen mittelalterlichen Bauten und Denkmälern Wiens haben nun auch dort die Aufdeckung vieler unbekannter Einzelheiten gebracht, gelegentlich wohl auch eine Änderung bisheriger Datierungen. Aus einer umfangreichen, nunmehr in Druck gehenden Darstellung

1 A. Kieslinger, Die Steine von St. Stephan, Verlag Herold, Wien 1949.

mögen einige Beispiele herausgegriffen werden:

Neben dem alten Steinwerk der Ruprechtskirche und den durch Walter L a t z k e uns wieder zugänglich gemachten romanischen Teilen der Schottenkirche hat vor allem die Michaeierkirche in allen ihren Teilen neue Ansichten geboten: in der Krypta konnte ich ein überaus urtümliches Mauerwerk mit teilweise ährenförmiger Anordnung der Steine freilegen, Mauern, die kaum mit der heute sichtbaren Kirche des 13. Jahrhunderts vereinbar sind. Diese alten Grundmauern dürfen wohl als Stütze für die ältere Annahme Karl Oettingers aufgefaßt werden, daß an der gleichen Stelle vorher eine andere Kirche mit gewissen Abweichungen im Grundriß stand. Noch größer waren die Überraschungen im aufgehenden Mauerwerk: das Chorquadrat,

heute von den Dächern der Apsiskapellen r fast zur Gänze verdeckt, hat nur den ab- I schließenden Rundbogenfries aus Stein, sonst aber besteht es aus sorgfältig gefügten Ziegeln — der erste Fall einer Backsteinromanik in Österreich! Die bisher bekannten zwei Rundbogenfriese konnten um einen dritten vermehrt werden, der die Seitenschiffe ziert. Gestein und Steinmetzzeichen beweisen, daß der gesamte romanische Altbestand (also ohne den gotischen Chor und die Seitenkapellen) einer einzigen Bauphase angehört. Aus Verschiedenheiten an den Kapitalen im Schiff unten hatte man auf verschiedenes Alter der einzelnen Joche geschlossen; das ist sicherlich unrichtig. Der Turm, das bekannte Wahrzeichen des Michaelerplatzes, besteht aus mindestens vier verschieden alten Teilen. Das obere Oktogon ist übrigens in der heutigen Form nicht mehr das gotische Original, sondern eine Stilkopie nach der Zerstörung durch das Erdbeben von 1590. Also eine sogenannte Nachgotik. Vor einigen Tagen ist nun anläßlich der Wiederaufstellung der Figurengruppe von Matielli auf dem barocken Portalvorbau der Kirche auch die obere Hälfte des ehemaligen Haupttores gefunden worden: ein tiefer Trichter in unerhört reicher Gliederung, die Formen aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, der Stein und seine Bearbeitung die gleiche wie im übrigen Altbestand, die weitgehend erhaltene alte Bemalung täuscht roten Marmor vor.

Die Vorderfront der Augustinerkirche (die sogenannte Westfront, die hier in Wirklichkeit nach Norden sieht) ist bekanntlich durch einen Seitenflügel der Nationalbibliothek verbaut. Ich konnte die alte Fassade, über die schon manche Vermutungen geäußert worden waren, zur Gänze aufzeigen *, mit einem schönen Portal und einem riesigen Fenster darüber.

In der gleichen Weise wurde das Steinwerk aller übrigen mittelalterlichen Kirchen Wiens untersucht, von der erst durch Bombenschaden als romanisch enthüllten in Schwechat bis zu dem kleinen romanischen Kapellchen beim Nikolaitor im Lain-zer Tiergarten. Kaum eine, bei der nichts Neues gefunden wurde. Das gleiche auch bei den in Wien ziemlich seltenen mittelalterlichen Profanbauten. Im Alten Rathaus zum Beispiel glaubte man die Bauzeit der Ratsstube für die Jahre 1455 bis 1458 bewiesen, denn die Rechnungen über das Werk des Meisters Laurenz Spening sind ja erhalten. In Wirklichkeit handelt es sich um eine barockgotische Nachbildung aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts.

Noch größer sind die Überraschungen bei den alten Wohnhausbauten, deren Erforschung kaum erst begonnen hat. Schon die ersten Proben zeigten, daß viel mehr vom Altbestand erhalten ist, als man bisher wußte. Die älteren Teile der Innenstadt enthalten noch eine ganze Anzahl gotischer, ja sogar noch romanischer

H ä u s e r. Für das kundige Auge stehen •ie noch fast vollständig vor uns, wenn auch gewöhnlich mit jüngeren Fassaden der Renaissance oder der Barockzeit verkleidet. Man hat ihre Fenster etwas vergrößert, oft sehr oberflächlich nur gegen außen, wie etwa das bekannte Basilisken-haus in der Schönlaterngasse auf den ereten Blick zeigt. Wo immer der Verputz solcher Häuser durchbrochen wird, tritt ein sehr urtümliches Bruchsteinmauerwerk zutage, mit den gewaltigen Mauerdicken der Frühzeit, mit jenem verwinkelten Grundriß, der auf die Einbeziehung älterer Mauern zurückgeht. Freilich sind diese alten Steinmauern oft durch dünne vorgeblendete Ziegelschalen geglättet, sind manche Gewölbe barock erneuert. Ein scheinbarer Widerspruch: die berühmten zwei- und dreistöckigen Keller der Altstadt sind in der Hauptsache barock. Die ebenerdigen Stockwerke darüber sollen älter sein? Sie sind es wirklich! In jüngerer Zeit, meistens im 17. Jahrhundert, wurden diese alten 'Häuser mit tiefen Kellern unterfangen. Die Ausgrabung des Hauses Judengasse 4—6 im Jänner 1951 hat meine ältere Behauptung bestätigt: unter dem gotischen Keller unter einem römischen Gußboden fanden wir die barocken Keller, zum Teil in zwei Stockwerken; im Mauerwerk steckten noch die Holzstützen' von den Unter-fangungsarbeiten. Wer die Berichte über den Minierkrieg der beiden Türkenbelagerungen kennt, wird sich über solche zivile Minierleistungen im gutartigen Lößböden nicht mehr wundern.

Das großartigste Beispiel ist der uralt ehrwürdige Heiligenkreuzerhof. Das Stift, 1136 gegründet, muß diesen Wirtschaftshof in der Hauptstadt früh bekommen haben, kaum lange nach 1200, wie aus späteren urkundlichen Erwähnungen mittelbar hervorgeht. Uber den berühmten riesigen, drei Stockwerke umfassenden Kellern, die Abt Clemens Schaff er 1667 errichten ließ, steht unversehrt und unverändert von etya 1210 bis

heute 'eine gewaltige romanisch e H a 11 e, 25 Meter lang und 8 Meter breit, in drei quadratischen Jochen mit mächtigen, aus Quadern gefügten Gurtrippen und gleichen Kreuzrippen. Neben einem kleineren Nachbarraum ist es die erste und wohl einzige profane Halle in Wien aus dieser Zeit. Nur wenige Räume in einigen Burgen Österreichs können mit ihr verglichen werden (etwa Lockenhaus). Gut ist die Übereinstimmung mit einigen romanischen Kellern der Altstadt von Prag, die 1947 bekanntgeworden sind. Die Gewölbe unserer Halle sind in Mörtel gegossen, wobei die Steinrippen als Lehrbogen gedient haben. Man hat einfach Bretter (nicht gesägt, sondern wie Schindeln gespalten) dahintergesteckt. Einige sind noch erhalten. Die Rippen mit quadratischem Querschnitt zeigen einen regelmäßigen Wechsel von lichten und dunklen Steinen, ein ebenfalls sehr altertümliches Merkmal. In diese Halle ragt von unten her ein barockes Kellergewölbe und nimmt ein Drittel der Höhe weg. Neben ihr eine zweite, kleinere, einfachere Halle, die nur zwei mächtige Gurtbogen aus Ziegeln aufweist. Der alte Klosterhof stand lange außerhalb der Stadt, seine Mauern mußten wehrhaft sein. Wer sie sucht, kann sie heute noch sehen, ein klafterdickes Bruchsteinmauerwerk in den Höfen der Häuser am Fleischmarkt.

Der Heiligenkreuzerhof, nach bisheriger Auffassung ein Neubau des 17. Jahrhunderts mit Aufbauten aus dem achtzehnten, enthält außer den hier angedeuteten romanischen Bauteilen auch noch gotische.

Dies sind einige Beispiele von den Ergebnissen einer neuen Art der Betrachtung. Es ist der Versuch, mehrere Fachgebiete einander durchdringen zu lassen, auch wenn sie auf den ersten Blick so weit auseinanderzuliegen scheinen wie die Technische Gesteinskunde und die Kunstforschung.

* A. Kieslinger, Die alte Fassade der Augu6tinerkirche in Wien, österreichische Zeitschrift der Denkmalpflege, Wien 1950.

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