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Die „Gruselkammer“ von Obertrum

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Neben den vielen weltberühmten und großartigen Bau- und Kunstdenkmälern besitzt Österreich auch noch eine ganze Menge anderer weniger oder kaum bekannter Kunstschätze von nicht minderer Pracht, Originalität und Schönheit. Wir denken hier keinesfalls an Objekte, die in Museumsdepots aufgespeichert und dort vergessen wurden, sondern solche, die sich erfreulicherweise noch immer am Ort ihrer Entstehung befinden, und die für jeden jederzeit frei zugänglich sind.

Ein solches, unbekannt gebliebenes Kunstwerk, lange Zeit sogar von den Fachleuten allenthalben übergangen und verschwiegen, stellt die barocke, wändefüllende Bemalung im Inneren des hölzernen Vorraums der Pfarrhofkapelle in Obertrum im Flachgau dar, einer Ortschaft, die nur etwa 20 Kilometer nördlich von Salzburg liegt.

Die Gegend um die drei Trumer Seen — Wälder, Wasser und Felder bilden hier in vielfältigem Zusammenspiel eine herrliche Landschaft — gehört von alters her zum Kolle-giatsstift Mattsee, das noch bis 1808 vom Hochstift Passau abhängig war. Obertrum ist ein Ort dieser Gegend; ein Haufendorf, überragt von einer alten, im Kern noch aus der Romanik stammenden Pfarrkirche. Ihre jetzige Gestalt geht allerdings auf das 15. und 18. Jahrhundert zurück; das Innere zeigt eine gewaltige Kassettendecke nebst riesigen Holzstatuen aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Der dazugehörige Pfarrhof befand sich bis vor kurzem, jahrhundertelang außerhalb der Ortschaft, etwa zwanzig Gehminuten von der Pfarrkirche entfernt; er ist entstanden aus einem umgebauten Bauernhof, den man 1690 prächtig ausstattete.

Weil man damals auch in der Nähe des einsam liegenden Pfarrhauses eine Kapelle benötigte, baute man 1721 dort, wo sich ohnehin schon früher eine „Einsiedelei“ befand, eine geräumige Holzkapelle. Als aber die kirchlichen Behörden ihre Erlaubnis, dort Messen zu lesen, verweigerten (weil der Bau nicht aus festem Material ausgeführt war), errichtete man 1747 an gleicher Stelle eine gemauerte Kapelle, wobei man wahrscheinlich einen Teil des hölzernen Baues stehen ließ und diesen an die Westwand anschloß. Mit der Errichtung eines neuen Pfarrhofes im Ort und dem Verkauf des entlegenen alten Pfarrhofgebäudes ist die Pfarrhofkappelle, die noch immer dem Stifte Mattsee gehört, funktionslos geworden.

Gedeckt mit steilem Satteldach, aus dem ein viereckiger hölzerner Dachreiter emporwächst, besteht die gemauerte Pfarrkapelle aus einem einfachen Langschiff, das von Osten eine Rundapsis abschließt, während an die Westwand der erwähnte hohe hölzerne Vorbau anschließt, der sicherlich einen Teil der alten hölzernen Kapelle von 1721 darstellt oder vielleicht sogar die noch ältere sogenannte „Einsiedelei“. Für diese Annahme spricht sowohl die ungewöhnliche Größe und Höhe dieses hölzernen Kapellenvorbaus als auch die Thematik der Bilder im Inneren des Holzbaus selbst.

Nur einige Fensterluken erleuchten den etwa 4 Meter langen, 5,3 Meter breiten und 7 Meter hohen Innenraum, der von einer drei Seiten des Raumes umlaufenden Galerie, zu der eine schmale Treppe hinaufführt, in zwei Geschosse geteilt wird. Alle Wände, Galeriebrüstungen und der Plafond sind noch vollständig mit bunten bäuerlichen Barockmalereien bedeckt, was man hier niemals vermutet hätte, und was den Raum heute so wertvoll macht und zugleich zu einer besonderen Köstlichkeit heimischer Volkskunst stempelt. Eine Türöffnung im Erdgeschoß, von einem Eisengitter versperrt, stellt die Verbindung mit dem tonnengewölbten Langschiff des Kapellenraumes her, dessen Apsis einen Marmoraltar mit dem Bild des Guten Hirten aus dem Jahre 1712 ziert. Als Eingangstür fungiert eine der zwei gegenüberliegenden Seitentüren im Erdgeschoß des hölzernen Vorbaus.

Sehen wir uns die faszinierende, farbige Bilderwelt dieses volksbarocken Interieurs genauer an, so stellen wir fest, daß es heute eine große Rarität für Österreich darstellt. Die vielfältigen an die Wände und Galeriebrüstungen gemalten Szenen und Bilder, von volkstümlichen Testen und Zitaten aus dem Alten oder Neuen Testament überaus dramatisch erläutert, sind allesamt in öltechnik (auf Kreidegrund) gearbeitet.

Eine Überschrift an der Oberkante der Erdgeschoß-Westwand erläutert den Grundgedanken der Bilder: „Via Purgativa“, also den zur Nachahmung empfohlenen Weg der Reinigung von der Schuld — während die Bilderserie im Obergeschoß (Galerie) die Schrift „Via Illuminativa“ trägt, und somit auf den Weg der Erleuchtung hinweisen möchte. Die Themenfolge der figuralen Szenen, die vorwiegend in Architekturmalereien hinednkompo-niert sind, beginnt im Erdgeschoß mit dem Bild des Sündenfalls. Prospektartig vertiefte Darstellungen der letzten Dinge: Tod, Jüngstes Gericht, Himmel und Hölle schmücken die vier Ecken des Erdgeschosses, lebensgroße Büßer- und Einsiedler-gestalten.

Die Wandmalereien des Obergeschosses zeigen- vorwiegend Szenen aus der Passion Christi, von der Verurteilung von Pilatus bis zur Kreuzigung. Ähnlich wie im Erdgeschoß finden wir auch hier eingestreut als Parallelen Bilder mit Katastrophendarstellungen und Hauptplagen: Krieg, Unwetter, Pest und Hunger.

Die blau gestrichenen hölzernen Säulen der Galerieöffnung mit ihren goldenen Akanthus-Kapitellen setzen sich, den Raum optisch vergrößernd, in perspektivischer Malerei an den Wänden fort. Von ähnlicher, das Auge täuschender Illusionsmalerei ist auch die Ausschmückung der Decke des Galerieumgangs, wo zwischen hingemalten

Arkadenbögen Blumengirlanden tragende Putten den Himmel bevölkern.

Eine Meisterleistung perspektivischer Malkunst, mit der die Illusion eines erhöhten und unendlich vertieften Raumes erreicht wird, stellt das große Deckengemälde dar. In gelungenen, architektonischen Verkürzungen werden dort noch zwei weitere, übereinanderliegende, von Säulen, Balustraden, Gesimsen, Baikonen und Blumenvasen geschmückte Galeriegänge gezeigt, die ein in Himmelsweite sich ausdehnendes Großbiid der Aufnahme

Mariens in den Himmel umrahmen. Dieses Plafondblld Ist auch ikono-graphisch sehr interessant, es zeigt nämlich die höchstseltene Szene, wie Jesus und Maria einander brennende Herzen austauschen.

Die gesamte malerische Ausschmückung dieses Raumes dürfte wohl von zwei verschiedenen Malern stammen. Rätselhaft scheint das Datum 1715 über dem Ecce-Homo-Bild hinsichtlich des feststehenden Erbauungsjahres 1721 der hölzernen Kapelle. Da dieser Kapellenraum früher oft mit dem Namen „Einsiedelei“ bezeichnet wurde, obwohl er niemals ein solcher gewesen ist, fragt man sich, welchem Zwecke dieser Raum wohl ursprünglich diente und ob er von Anfang an bereits dieses Aussehen hatte. Möglicherweise stellte er eine Schaukapelle für die bäuerliche Bevölkerung dar — ähnlich den im Hochbarock mit Vorliebe gestalteten kulissenartigen, vielflgurigen Passionskrippen, Heiligengräbern, Triumphpforten und anderen bühnenartigen Bauten (im Volksmund auch „Gruselkammer“ genannt).

Die faszinierende, wändefüllende Ausmalung des hölzernen Innenraumes der Obertrumer Pfarrhofkapelle, bisher kaum gewürdigt und so gut wie unbekannt, weil ihrer bäuerlichen Provenienz angeblich die Qualitäten im Sinne der hohen Kunst fehlten, muß heute als hochwertiges Beispiel barocker Volkskunst anerkannt werden. In ihrer

Art stellt sie ein Unikat ländlicher Volksfrömmigkeit dar, ein Kunstwerk, das wir in Österreich nur einmal besitzen, das glücklich alle Wirren der Zeit glimpflich überdauert hat und sich heute wie ein kostbares Geschenk darbietet. Hoffen wir, daß bald auch die bereits dringend notwendige Konservierung erfolgen möge, verbunden mit einer eingehenden wissenschaftlichen Untersuchung, die endlich Klarheit in die Entstehungsgeschichte dieses seltsamen Kunstwerks bringen könnte.

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