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Es steht ein Schloß in Simmering …

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Die Frage „Kennen Sie das Neugebäude?“ quittieren selbst geeichte Wiener mit einem schlichten „Nein“ oder der erstaunten Gegenfrage: „Neugebäude? Was soll das sein? Meinen Sie vielleicht die neuen Klinikbauten, da im…?“ Bei einem Heimatkiundequiz der Bundeshauptstadt müßte man, so scheints, diesen kniffligen Examinierpunkt in die Zwölferkategorie einreihen.

Jene unbeachtete Architektur ist offenbar eine Art Weißer Sektor, ein blinder Fleck im Gesamtbild des wienerischen Kosmos, Terra Incognita an der Peripherie vertrauter Szenerien. Ein Bau, seit Jahrhunderten gleichsam ins kulturelle Unterbewußtsein verdrängt, lange Zeit banal umgewidimet, zuweilen sogar bereits abgeschrieben, nur dank seiner materiellen Bestandsfähigkeit überhaupt noch existent.

Ein abseitiger Bereich erloschenen Glanzes.

Kurze Ortung: Am südöstlichen Stadtrand, im 11. Bezirk, gegenüber dem Zentralfriedhof, in dem es — paradox? — wesentlich lebendiger zugeht als hier. Umgeben von Familienhäuservierteln, Feldern, Industrie und stadtwärts vorgelagerten modernen Wohnblocks. Inmitten solcher Reinkulturen von Großstadtprovinz auf einer breiten Geländestufe der zwischen Klein- kariertheit und komunalem Beton beherrschend eingesprengte Komplex, bis zürn Fluchtpunkt gestreckt. Festungshaftes ockergetöntes

Mauerwerk, wenig Fenster nur und zwei monumentale steile Seitentrakte, fast gleich Schiffskielen nach außen pflügend. Der Kunsthistoriker Arthur Saliger beim Lokalaugenschein die Passade taxierend: „Immerhin so lang wie der Palazzo Pitti in Florenz.“

Ein guter Maßstab, denn dort, beim einstigen Sitz der habsburgischen Großherzoge von Toscana, sind wahre Superweitwinkelfronten entwickelt.

Flüchtige Betrachtung stellt am Neugebäude, wie es sich heute zeigt, zunächst nur die hieratischen Formen fest. Es besticht nicht durch augenfällige Gestaltungselemente, bietet keine überraschenden Perspektiven und künstlerischen Pointen, die auf den ersten Blick zu erfassen wären.

Genauer gesagt: nicht mehr. Deshalb, weil dieses rätselhafte Gigantenhaus eine architektonische „Charakterumwandlung“ durchgemacht hat, infolge späterer Veränderungen in sich abgeschlossen ist, verkapselt, einem rudimentären Kastell oder einem historischen Gefängnis ähnlich geworden. Man fände hier die richtigen Motive für Filmszenen, die etwa auf dem Brünner Spielberg handeln. Zur Zeit seiner Vollendung in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hingegen, längst unkenntlich, öffnete sich der Palast’ in freier Gelöstheit und Leichtigkeit der Gliederung, ganz ins Frede orientiert.

Kaiser Maximilian II. war es, der das Neugebäude als Gartenretiro errichten ließ, als eine Villa Suburbana im Sinne der oberitaMenischen Spät renaissance. „In Österreich hatte sich damit zum erstenmal etwas sehr Bedeutendes ereignet: statt einer wehrhaften Burg sieht man ein Lustschloß“, kommentiert Rupert Feuchtmüller in seiner „Kirnst in Österreich“ dieses Novum. „Jede Vorstellung von einer Burg ist verschwunden, Mauern und Türme dienen allein als Zierart, bilden ein kostbares Gehege.“

Über die Persönlichkeit des planenden und ausführenden Architekten konnte sich die Forschung noch keine Klarheit verschaffen, aber zeitgenössische Stiche und Beschreibungen zeigen und schildern das Neugebäude in seiner ursprünglichen Gestalt mit weiten Galerienfluchten und Terrassen als Zentral- pariie erlesener Gartenkultur. Ein Arkadien ornamental gestutzter Hecken und Fontänen, dessen ganzer vielfältiger Reiz sich in den damals sehr beliebten Vogelschauveduten erschließt. Ein riesiger lebendiger Teppich, eine heraldische grüne Prunkdecke des flachen Terrains.

Und mitten darin ein Schloß, das lediglich dem „Ergötzen an der Natur“ und als Aufstellungsort für Kunstsammlungen diente, von seiner Konzeption her nicht als Landsitz nach gängigen Begriffen gedacht, ebensowenig bewohnbar und praktischen Lebensbedürfnissen anzupassen wie Palladios grandiose, ihren Umraum gebieterisch bekrönende Villa Rotonda bei Vicenza. Nein, das Neugebäude erfüllte vielmehr den Zweck einer großzügig entrollten Kulisse, in der sich die höfische Welt mit den koloristischen Trionfi ihrer Renaissancegewänder festlich zu inszenieren vermochte.

Diese Bestimmung zu jeweils kurzem Aufenthalt unterscheidet den Palast wesentlich von späteren kaiserlichen Bauten vor den Ba steien, wie der „Favorita“ und besonders Schönbrunn.

Dennoch ergeben sich gerade dorthin, nach Schönbrunn, reale und imaginäre Verbindungen. Schon vor Jahrzehnten sprach der Kunsthistoriker Erwin Harnisch die Vermutung aus, daß man bei der Errichtung der Gloriette durch Ferdinand Hetzendorf von Hohenberg, dem genialen Meister des Wiener Frühklassizismus, aus dem seif der Epoche des in Prag residierenden Rudolf II. apg vernachlässigten Neugebäude Dop pelsäulen und „Rukranien“, also Stiersehädielxeiliefs des Frieses, kurzerhand entfernte und in die neue Anlage einfügte. Das verwaiste Schloß in Simmering wäre demnach gleichsam als architektonischer Fundus benützt worden. Eine Hypo these, die sich inzwischen bestätigte. Darüber hinaus hat die Gloriette, abgesehen von ihrem rein ideellen Grundgedanken eines Monu ments für den Sieg bei Kolin, in ihrer Funktion als Parkbau, sozusagen als imperial gestalteter, über Wege und Vegetation erhöhter „Laufsteg“, ähnlichen Charakter wie das Neygebäude. Parallelen, die durch Vergleiche dar Erscheinungsbilder beider Schöpfungen noch verstärkt werden und eine längst fällige Wiederentdeckung der Villa Suburbana Maximilians H. um so interessanter machen.

Nur eine einzige Bukranie verblieb am ursprünglichen Ort: unter dem Gebälk des nachträglich aufgesetzten Daches. Die Bogengänge aber wurden völlig vermauert, damit zog das Prinzip nüchterner Zweckmäßigkeit in die Sphäre verschollener Pracht ein. Das Neugebäude wurde schließlich zum Munitionsmagazin und zur Monturkammer — ein bloßes „Objekt“, noch dazu ein militärisches. (Man wundere sich nicht. Gleichzeitig diente das nun allmählich in den Kulturbesitz reintegrierte grandiose Prinz-Eugen-Schloß Schloßhof im Marchfeld als Militärreitlehrerinstitut!)

Viel später schob dann Clemens Holzmeister in die erhaltenen Ein- fniedungsmauem des Gartengeländes den archaisierenden Baukörper des Krematoriums ein, das 1923 entstand — zufällig oder vielleicht doch nicht so ganz von ungefähr im selben Jahr wie Fritz Langs berühmtes Leinwandepos „Die Nibelungen“. Diese Feuerbestattungshalle wirkt denn auch wie König Gunthers Wormser Burg im Stil der Glanzära des künstlerischen Stummfilms. In der Realität wie im Ateliergelände sprach sich eben dieselbe Richtun|g des „romantischen Expressionismus aus.

Im Untergeschoß des Neugebäudes ist noch die schräge „Reiterrampe“ erkennbar, auf der man aus dem Ehirenihof auf die Terrasse gelangte. Eine niedere Halle, das „Antiquarium“ genannt, mit in Mustern gelegtem Originalziagelboden, führt zur „Grotte“, einem von geschichteten Säulen getragenen, gewölbten Gelaß. Selbst beim schwachen Tageslicht von oben kommt der erstaunliche, phantastische Raumeindruck ‘zur Geltung, der an Gian- battista Piranesis barocke Architekturvisionen seiner „Kerker“ und an hermeneutiSoh-düstere Bühnenbild- entwürfe der Aufklärung gemahnt. Eine Unterwelt des spielerischen „schönen Grauens“, betont zu der Helligkeit der übrigen Anlage in Kontrast gebracht.

Den drei riesigen Sälen des Mitteltraktes, bisher als Kulissendepots verwendet, ist in ihrer Art an Dimensionen nichts gleichzustellen. Ohne jeden Schmuck sind sie Baudenkmal an sich, Zeugnis der Möglichkeiten im Aufriß ein gewaltiges Raumvolumen zu schaffen, technisch im Extremfall die Probleme von Schwer- und Tragkraft, von Stütze und Last zu bewältigen.

Im Spannungsverhältnis zum Rationalen diktiert der Geist des Manierismus aber auch raffinierte Kapriolen mit Überschneidungen, Nischen und Höhlungen, labyrin- thischen Gelegenheiten, in Umgängen der doppelschaligen Mauern jählings zu verschwinden oder daraus aufzutauchen. So wird der Bau zu einem mysteriösen Bereich, dessen Geheimnisse es abenteuerlich zu ergründen gilt. Schon Albert Hg, einer der Pioniere der österreichischen Denkmalpflege, hebt das „Vertrackte, Wunderliche“ dieses seltsamen Schlosses in Simmering hervor.

Die vom Eigentümer, der Gemeinde Wien, für heuer eingeplante Restaurierung soll das Neugebäude nach langer Vergessenheit in den aktiven Lebensbereich zurückholen und in diesem kulturell sehr dürftig beteiligten Sektor der Stadtrandzone einen neuen Kristallisationspunkt schaffen. Natürlich wird keine Rekonstruktion des verlorenen Originalzustands angestrebt, die einer Stilfälschung gleichkäme, sondern die Sicherung und, wo nötig, Freilegung des Vorhandenen, mit dem Ziel einer Umwidmung für Aus stellun gs zwecke.

Lediglich der „Manieristengarten“ in der Senke vor der Terrasse wird nach den sehr akkuraten Graphiken Wiedererstehen und damit in Österreich einmalig sein.

Gespannt warten die Experten darauf, welche Funde im Verlauf der Sanierung zutage treten mögen: bisher verwischte Strukturen, Fresken hinter späterer Tünche — wer weiß, was ales zum Vorschein kommt, wenn man die Schichten „ärarischer“ Nivellierung ablöst.

Dann hätte Albert Hg posthum recht behalten. Bereits 1895 schrieb er nämlich: „Ich kann nicht unterlassen, mich der Hoffnung hinzugeben, daß die Zukunft vielleicht doch noch im Neugebäude bedeutendere kunsthistorische Entdeckungen werde machen können als es uns heute möglich ist.“

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