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Schiffe und Kirchen

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Einige der bedeutendsten Werke der mittelalterlichen Holzbaukunst befinden sich in Norwegen. Es ist, auch für den Fachmann, fast ein Wunder, daß sich gerade in jenem Land, das zu den niederschlagreichsten des Kontinents zählt, 900 Jahre alte Bauwerke aus Holz erhielten. Diese Tatsache allein könnte die Stabkirche schon interessant genug machen, aber sie ist darüber hinaus noch ein aufregendes Kapitel der Baugeschichte, das immer wieder Vergleiche mit unserer heutigen Problematik provoziert.

Was ist nun eigentlich diese Stab-

kirche, die, oberflächlich betrachtet, sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit chinesischen Pagoden besitzt? Ihr Name kommt von einer Bauweise, in der runde, aufrecht stehende Stämme (stav — Stamm, Stock) ein wichtiges Element bilden. Der Stabbau ist eine Abart des Fachwerksbaues, bei dem die füllenden Flächen aus Holz, und zwar aus miteinander verspundeten Bohlen bestehen, die aber auch in den sie umschließenden Rahmen eingenutet sind. Was aber die Stabkirche eigentlich ist, hat schon L. Dietrichson in „Die Holzbaukunst Norwegens“ (Berlin, 1893) vorzüglich beantwortet, er schreibt: „Eine gewisse malerische Wirkung kann man den Bauwerken nicht absprechen, wohl aber muß es beim ersten Anblick zweifelhaft erscheinen, ob sie in demselben Grad architektonische Gesetzmäßigkeit, konstruktiven Wert und künstlerische Bedeutung besitzen. Diese Eigenschaften fehlen ihnen indessen so wenig, daß ein näheres Eindringen in die Konstruktion der Kirchen uns zeigen wird, daß die ursprüngliche Weise, in der die konstruktiven Eigenschaften des Holzes ausgenutzt sind und einen entsprechenden künstlerischen Aus-drucR gefunden haben, es ist, die den Stabkirchen ihren eigentümlichen Wert

und ihre künstlerische Bedeutung verleiht. Denn die malerische Gruppierung, die sich überall, jedenfalls in ihren Hauptteilen, in einer gewissen Homogenität wiederholt, die a priori ein gewisses Gesetz vermuten läßt, beruht in Wirklichkeit auf einer mit bewunderungswürdiger Konsequenz durchgeführten architektonischen Konstruktion, die sich ebenso leicht und natürlich den religiösen Kultusformen anschmiegt, wie sie sich den eigentümlichen Eigenschaften des Materials fügt, in dem diese Kirchen ausgeführt sind.“

Interessant ist bei diesem Zitat die Auffassung vom Konstruktiven, das noch in keinem Konflikt mit dem Architektonischen steht, weiter aber die besondere Hervorhebung des Malerischen. Die Stabkirchen wurden nämlich durch den Maler J. C. C. Dahl entdeckt, der in seinem Buch „Denkmale einer sehr ausgebildeten Holzbaukunst aus den frühen Jahrhunderten in den inneren Landschaften Norwegens“ (Dresden, 1837) mit romantischen Betrachtungen die Bauwerke vorstellte. Gottfried Semper hat aber später ihre baugeschichtliche Bedeutung ganz erkannt und nachdrücklich auf sie aufmerksam gemacht.

Der Schiffbau der Wikinger

Zu den Voraussetzungen für die Entwicklung der Stabkirche gehörte nicht nur das romanische Modell der Steinbasilika, das, im Zuge der Christianisierung Norwegens um die Jahrhundertwende, von irischen und angelsächsischen Mönchen gebracht wurde und die reiche bildnerische Tradition des Heidentums, die noch lange, auch in den christlichen Darstellungen fortwirkte, sondern vor allem auch die hochentwickelte Holzbautechnik der Wikinger (von 750 bis 1050), die in den großen Leistungen des Bootsbaues ihren Ausdruck fand.

In den ersten Kirchen wurde das romanische Modell kopiert. Ein gut erhaltenes Beispiel dafür ist die Kirche von Urnes (um 1060), wo die auffallenden Architekturteile, wie Säule, Kapitell und. Bogen, genau der Steinarchitektur nachgebildet wurden. Der Prozeß der „Übersetzung“ schreitet aber rasch vorwärts, so daß schon 100 Jahre später die Hochform der Stabkirche erreicht wird. Die Quellen dieser unglaublichen Transformation sind aber in der Schiffsbaukunst der Wikinger zu suchen. Wie die Funde von Thune, Gokstad und Oseberg zeigen (die Schiffe stammen aus der Zeit um 900 n. Chr.), wurde nicht nur die Behandlung des Holzes meisterhaft beherrscht, man hat es auch verstanden, durch eine leichte/elastische Bauweise schnelle und wendige Schiffe herzustellen, die, für ihre Zeit, eine erstaunliche Seetüchtigkeit besaßen.

Diese „sensible“ Bauweise, die nicht auf Stärke, sondern auf Geschmeidigkeit eingestellt war und mit Elan die verschiedenartigsten Beanspruchungen meisterte, besitzt für uns heute eine Schönheit, die, um mit Semper zu sprechen, eher dem „Naturschönen“ zur Seite gestellt werden muß, als dem „Kunstschönen“, da sie ihre Vollendung durch die Erfüllung von Naturgesetzen erreicht, deren Ästhetik erst die Welt des Technischen ganz erschlossen hat.

Die Kirche von Borgund

Die Kirche von Borgund, erbaut um 1150 im Gebiet des Sogne-Fjords, ist eines der wenigen vollkommen erhaltenen Beispiele der hochentwickelten Stabkirche. Im Grundriß ist noch das Vorbild der romanischen Steinbasilika zu erkennen. Die erste große Abweichung, das Herumführen der Seitenschiffe um das ganze, von den freistehenden Stäben markierte Rechteck (Mittelschiff), ist eine Notwendigkeit des Holzbaues, da das tragende Gerüst nach allen vier Seiten abgesteift werden muß. Die Vorhalle, nur noch als kleine Erweiterung des Laufganges zu erkennen, ist das Waffenhaus (Yaabenhus), das der Narthex der romanischen Basilika entspricht. Darin wurden vor dem Betreten der Kirche die Waffen abgelegt. Der Laufgang diente zum Schutze der Gemeinde gegen die Witterung vor und nach dem Gottesdienst, er war aber auch gleichzeitig „Marktplatz“. Achsial gegenüber dem Haupteingang liegt der Chor (Songhus), der von einer halbrunden Apsis abgeschlossen wird. Der da-hinterliegende, geschlossene Teil des Laufganges wurde wahrscheinlich als Sakristei benützt. In der linken Chorwand findet man eine kleine Öffnung, die es den Leprakranken ermöglicht haben soll, am Gottesdienst teilzunehmen.

Der Innenraum der Kirche von Borgund ist erstaunlich Hein. Er hat die Größe einer Bauernstube und besitzt nur eine an den Wänden herumgeführte niedere Sitzbank. Er ist dunkel. Nur wenige kleine Öffnungen an der Oberwand des Mittelschiffes (Glugger) erlauben gerade noch die Begrenzung des Raumes, den Dachstuhl und die am Ende der Stäbe geschnitz-

ten Köpfe zu erkennen. Der Raum hat eine „vertikale Tendenz“, die Geborgenheit im unteren Bereich „verflüchtigt“ sich nach oben, die Wirkung ist bedrückend und erhebend zugleich. Später hat man vielfach „himmlinge“ eingebaut, das heißt Tonnen aus Holz, die bemalt wurden.

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Überwindung des Materials

Der für unsere Verhältnisse sehr verkleinerte Maßstab der Kirche trägt sicher zu ihrer Monumentalität bei. Die Traufe des Laufganges liegt zum Beispiel in Brusthöhe, man würde jedoch die doppelte Höhe schätzen. Die Gesamthöhe der Kirche bis zur Spitze beträgt nicht mehr als 15 Meter.

Worin liegen aber nun die Ursachen, daß diese Kirchen fast ein Jahrtausend überstanden haben? Der innere Aufbau, der selbstverständlich und deutlich zwischen tragenden und aussteifenden Teilen (das Gerüst) und getragenen (im Dachstuhl) unterscheidet und von diesen wieder klar die umhüllenden, schützenden und nicht-tragenden;, Teile differenziert (die Wände), erinnert stark an ganz moderne Formulierungen. Das Gefüge ist außerdem auf Elastizität gebaut und kommt erst bei höchsten Beanspruchungen voll zur Wirkung. Augenzeugen, die ein Gewitter in Stabkirchen erlebt haben, berichten, daß das ganze Gefüge lange in Bewegung bleibt, knarrt, dann aber, wenn der Sturm seinen Höhepunkt erreicht und es ganz ausgelastet ist, eine unheimliche Stille eintritt.

Neben einer raffinierten Kragkonstruktion, die das Bauwerk vor Bodenfeuchtigkeit schützt, ist es außen vollkommen mit schuppenartigen Schindeln überzogen, die in bestimmten Zeitabständen mit der gleichen teerartigen Masse gestrichen werden wie die Schiffe.

Mit dem Auftreten der Gotik begann eine Degeneration, die sich in der neuerlichen Nachahmung von Steinformen ausdrückte. Nach der Reformation wurden viele Kirchen umgebaut, erweitert und damit teilweise zerstört. Obwohl man urkundlich rund 600 Stabkirchen nachweisen konnte, gab es im 19. Jahrhundert nur noch annähernd 180. Aber auch von diesen wurde noch vor dem Einsetzen der Heimatschutzbewegung der Großteil abgebrochen oder verkauft, so daß heute nur noch zirka 30 Kirchen bestehen, in denen man Teile von Stabkirchen findet. Davon sind wieder nur ein Drittel ganz oder mit geringfügigeren Veränderungen erhalten.

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Parallele für die Gegenwart

Die Entstehung der Stabkirchen wirft viele Probleme auf, die auch heute, nur in viel differenzierteren Maßen, wieder aktuell sind. Es ist ihren Erbauern gelungen, aus dem gelieferten historischen Modell mit der eigenen, ausgeprägten (wenn auch handwerklichen) Technik und der reichen bildnerischen Tradition eine Synthese zu schaffen, die uns noch heute erregt und die wir bewundern. Es ist nicht notwendig, Parallelen zu unserer Situation einzeln aufzuführen. Wenn manche Ähnlichkeiten überraschen, so wäre es gut, darüber nachzudenken. Eine Lösung dieser Probleme wird man natürlich nicht erwarten dürfen.

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