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DAS EXPERIMENT DER MÖNCHE

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Der Morvan ist eine der eigenartigsten Landschaften Frankreichs. Im herberen, nördlichen Teil von Burgund gelegen, von der Basilika von Vėzelay bis zu der von Autun sich erstreckend, gehen ihr die Effekte bekannterer Teile von Frankreich ab. Jeder steile Aufschwung, jeder jähe Abbruch fehlen in dieser gleichmäßigen Kette von sanft geschwungenen Hügeln, auf deren Kuppen stetig sich entvölkernde Weiler und Städtchen liegen. An einem der entlegensten Flecken dieser Landschaft von hintergründiger Intensität liegt eines der wenigen kulturellen Zentren der französischen Provinz, das sich neben Paris behaupten kann: das „Atelier du Coeur-Meurtrv” (Atelier zum gemarterten Herzen), das 1948 von den Benediktinern des dort mitten im Walde gelegenen Klosters Sainte- Marie de la Pierre-qui-Vire (Heilige Maria zum Wackelstein) gegründet worden ist. Den Lesern der „Furche” ist dieses Atelier bereits bekannt; wir haben seinerzeit ausführlich von dem erstaunlichen Corpus der romanischen Kunst berichtet, das die Mönche von Pierre-qui-Vire in ihrem Kunstverlag „Z o d i a q u e” herausgeben (und das in den letzten Monaten durch zwei prächtige Bände über das „Romanische Katalonien” bereichert worden ist).

Außerhalb Frankreichs ist jedoch noch weniger bekannt, daß das Atelier zum gemarterten Herzen auch längst zu einem Zentrum der Erneuerung der sakralen Kunst geworden ist. Das leuchtet ein, wenn man das 18 50 gegründete Kloster besucht. In seinem Kern ist es ein architektonischer Greuel, wie man ihn nur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bauen konnte. Die Kirche präsentiert sich als eine leblose Nachahmung der Gotik des 12. Jahrhunderts, und die sie unmittelbar umgebenden Gebäude sind von der Fühllosigkeit für Proportion und Wirkung des Materials, die den Historismus jener Zeit kennzeichnet. Gewiß, nach dem zweiten Weltkrieg lagerte man diesem Kern einen Kranz von Gebäuden vor, die das Auge nicht verletzen: große Blöcke von lapidarer Monumentalität, denen der moderne Kubismus und freie Erinnerung an die Romanik gleicherweise Gevatter standen und die sich der stillen Eindringlichkeit der Landschaft gegenüber zu halten vermögen. Doch jene Verwundung, die mehr als eine bloße Verletzung des ästhetischen Sinnes ist, bleibt.

Gerade diese Verwundung aber war es wohl, die das Kloster zu einem Ausgangspunkt der Erneuerung der Sakralkunst Frankreichs gemacht hat. Nicht nur der Kranz der burgundischen Romanik um den Morvan herum, die Vorbilder von Saulieu, Tournus, Vėzelay, errinnern daran, was echtes sakrales Bauen und Gestalten ist. Der Morvan ist auch übersät von Dolmen, jeneix vorchristlichen Großsteinmälern, die Ursprung aller gläubigen Kunst in unserem Raum sind. Das Kloster selbst hat seinen Namen von einem solchen Megalith. Ihm nördlich vorgelagert liegt nämlich ein großer „Wackelstein”, von dem man nicht mehr weiß, ob er natürlicher Herkunft ist oder ob Menschenhände zu seinem Aufbau beigetragen haben. Der Sage nach soll er sich beim Angelusläuten dreimal um sich selbst gedreht haben. Der Gründer des Klosters, Pere M u a r d, hat ihn im letzten Jahrhundert durch eine aufgesetzte nazarenische xVlarien- statue befestigen lassen.

Von den Großsteinmälern bis zu den mächtigen romanischen Basiliken atmete der Stein; erst mit der Gotik wurde er zu Materie, die einer abstrakten Planung unterworfen wird. Die archaische Frühe steht hinter allem, was das „Atelier du Coeur- Meurtry” schafft. Daß die Mönche dieser Werkstatt sich dieser Patenschaft durchaus bewußt sind, zeigt mir das Gespräch mit ihrem Inspirator, Dom Angelico Surchamp, einem in den Dreißigern stehenden Benediktiner, der sich bei aller Passion präzise auszudrücken weiß und den heutigen Stand der Kunstdiskussion genau kennt.

Auf dem Gang durch die umliegenden Wälder berichte ich Dom Angelico von meinen Bedenken. Steckt nicht in all den Anläufen zu einer Erneuerung der Sakralkunst etwas Problematisches? Schon die heute so übliche „Reinigung” der alten Kirchen von stilfremden Objekten und von Kitsch vermag kunstgeschichtlich einwandfreie, aber auch innerlich sterile Gebäude zu schaffen. Droht nicht hinter all den Versuchen, die Glaubensinhalte mit der Formenwelt der modernen Kunst zu versöhnen, als Ergebnis die Produktion ästhetisch einwandfreier, jedoch im Glauben indifferenter Kunstwerke? Ist es nicht kennzeichnend, daß die in solchen Schulen gemalten Heiligen meist keinen Blick mehr haben, daß ihre Gebärden vag werden? Kann nicht an eine der kitschigen Gipsstatuen, wie sie heute noch in den Devotionalienläden um die Kirche St. Sulpice in Paris herum gehandelt werden, sich mehr Glauben heften als an ein von einem Nichtchristen wie Leger gemaltes Kirchenfenster in Audincourt?

Aber Dom Angelico lächelt: „Verwechseln Sie da nicht Sentiment mit Glauben? Der Glaube ist etwas Hartes, und Sie dürfen versichert sein, daß das Leben in einem Kloster einen manchmal recht schwer ankommt. Für mich können diese ondulierten Gestalten mit dem weichen Lächeln und dem sentimentalen Blick, die man uns in St. Sulpice anbietet, niemals Christus sein ..

„Es stimmt jedoch”, fährt der Mann in der braunen Kutte fort, „daß die Spaltung in Menschen, die ein ästhetisches Urteil haben, und in solche, die unartikuliert, verschwommen glauben, das Grundübel unserer heutigen künstlerischen Situation ist. Und die Wurzeln dieses Übels reichen weit zurück. Im Grunde hat es schon im 12. Jahrhundert mit der Gotik angefangen. Wenn wir für unsere Bücher die Grundrisse und Aufrisse von romanischen Kirchen aufnehmen, so ist das meist ein recht schwieriges Unterfangen, da diese Risse nie im mathematischen Sinne eindeutig sein können. Überall gibt es Abweichungen, keine Säule steht haargenau in der Fluchtlinie der anderen — man spürt, daß für die Erbauer dieser Kirchen der Stein etwas Lebendiges war, auf dessen Schwingungen man einging. Das hört mit der Gotik auf. Von nun an trennen sich der Architekt, der auf dem Papier entwirft, und der Handwerker, der zum bloßen Ausführenden der theoretischen Planung wird. Die Aushöhlung der Kunst hat begonnen.”

Die Mönche des Ateliers zum gemarterten Herzen suchen wieder zu der alten Einheit zurückzufinden. Sie sind Entwerfende und Axisführende iü efü’ihi. Ufidį Vßf allem versuchen sie, die Haupterrungenschaft der Moderne,- den unmittelbaren, vom Gegenständlichen losgelösten Zugang zur Form als zu etwas Elementarem, zur Erneuerung der Sakralkunst fruchtbar zu machen. Das ist das für Kunstliebhaber Interessanteste an den Versuchen der Mönche von Sainte-Marie de la Pierre-qui-Vire: Sie haben immer wieder neue Experimente angestellt, wie die Glaubensinhalte, losgelöst von den gegenständlichen Formen, denen sie sich im Lauf der Jahrhunderte ikonographisch verknüpften, ausgedrückt werden können. Exemplarisch sind dafür zwei Fresken in der Kapelle des Mädchengymnasiums in Troyes, welche die „G n a d e” und die „S ü n d e” verkörpern sollen. Beim ersten Thema sind es harmonisch ineinander verschlungene, aufeinander abgestimmte Formen — bei der „Sünde” hart abbrechende, zersplitterte.

Es fällt jedoch auf, daß die Worte „grace” und „pėchė” über diese Fresken gesetzt sind. Läßt das darauf schließen, daß die Mönche nicht ganz sicher waren, allein mit den ungegenständlichen Formen die betreffenden Glaubensinhalte jenseits aller Beliebtheit objektiv ausdriieken zu können? Die Beschriftung macht so diese Fresken doch zu einer Art von „Variation auf ein gegebenes Thema”. Welch sichernde Funktion der Gegenstand in der sakralen Kunst immer noch ausübt, zeigt das E m m a u s- Bild, ebenfalls aus Troyes; so sehr hier das Gegenständliche auch schon in der Stilisierung eingeschmolzen ist — wie die Jünger sich hier vor der Öde des Raumes in die aufragende Gestalt Christi einschmiegen —, geht dank der noch erkennbaren gegenständlichen Stützen wohl unmittelbarer ein als die angeblich so „unmittelbaren” Formen jenseits aller Gegenständlichkeit.

Daß die Benediktiner des „Atelier du Coeur-Meurtry” aber in ihrer Malerei den Weg zu beiden Seiten des schmalen Grates suchen, ist ein Zeichen dafür, daß alle Berufung auf eine große Vergangenheit sie doch nicht zu „voreiligen Versöhnungen” verleitet.

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