6639550-1957_37_05.jpg
Digital In Arbeit

Frankreichs Gang in die Höhlen

Werbung
Werbung
Werbung

Die Familie Redlich war unter Maria Theresia, wie alle jüdischen Familien Gödings, ausgewiesen worden. Viele dieser Ausgewiesenen hatten sich nach Ungarn gewandt, einige sich in anderen Städten Mährens angesiedelt. Der Abzug der jüdischen Familien brachte dem kleinen Städtchen schweren wirtschaftlichen schaden, weshalb schon 1783 Kaiser Josef 13 jüdischen Familien die Rückkehr in das Städtchen erlaubte. Unter den Zurückgekehrten befand sich auch ein Lazar Redlich, dem 1803 ein Sohn namens Nathan geboren wurde, der sich ebenfalls dem Kaufmannsstand widmete. 1848, das Jahr, das auch den Juden endlich die Gleichberechtigung brachte, sah die meisten jüdischen Familien Gödings dank ihres Fleißes und ihrer kaufmännischen Talente im Besitze eines mehr oder minder großen Reichtums, der auch einen gewissen Aufwand erlaubte. Nathan Redlich, der bereits Besitzer eines großen Ledergeschäftes war, erwarb auf Grund der neuen Gleichberechtigung eine Mühle und ein kleines Bauerngut. Er besaß zwei Söhne, Alois und Ignaz. Ersterer folgte seinem Vater im Geschäft,

Immer wieder ergreift den Beobachter das Staunen, wie reich Frankreich ist. Man vergißt diesen Reichtum zu oft übe, den Armseligkeiten der Tagespolitik. Aber er ist da, und zwar in des Wortes verschiedensten Bedeutungen. Im Materiellen braucht man gar nicht daran zu erinnern, daß die in Frankreich gehorteten Geldvorräte (in privater Hand natürlich!) für die größten nach denen der USA angesehen werden. Oder daran, daß in diesem Lande noch immer Jagden in Livree und hinter großen Meuten geritten werden. Es genügt schon ein Gang über einen der Pariser Flohmärkte, wo die Schaumkronen dieses Reichtums sich verlieren. Man dürfte schwerlich in einer anderen europäischen Hauptstadt eine ähnliche Ablagerungsstätte finden, wo noch jeder sorgfältige Gang Kostbarkeiten aufzustöbern vermag

Es gibt auch Reichtümer, die nicht ohne weiteres in Zahlenwerten umgesetzt werden können. Einer davon erstaunt besonders, weil er seblbst dem gebildeten Franzosen kaum bewußt ist: Frankreich ist, zum mindesten in unserem Kulturkreis, die reichste Schatzkammer der Vor geschichte. Seit mitten im zweien Weltkrieg die gut 25.000 Jahre zurückliegenden altsteinzeitlichen Malereien der Höhle von Lascavx, der „Sixtina der Vorzeit”, in der Dordogne entdeckt worden sind, ist das spanische Altamira nicht mehr der umstrittene Höhepunkt iener erstaunlichen ersten menschlichen Kultur, die wir heute kennen. Aber auch die zweite hohe Zeit der Vorgeschichte, die unmittelbar an der Schwelle unseres Geschichtsraumes liegende Megalithkultur des 3. und 2. Jahrtausends, hat — bei aller Einmaligkeit des englischen Stonehenge — in Frankreich ihre eindrückiichste Verkörperung gefunden. Zu den tiefsten Erschütterungen, die ein Reisender in diesem Lande ckahren kann, gehört im bretonischen Morbihan die Berührung mit einer Landschaft, die noch heute durch riesige Steinmäler kultisch geortet wird. Ein Gang durch die über 24 km «ich erstrek- kenden Menhir-Reihen („Alignements”) von Carnac, die ein ganz auf den Dienst am Göttlichen ausgerichtetes Volk in jahrhunderte-

dessen Sohn Josef wurde der spätere berühmte Gelehrte und Politiker. Der zweite gründete in Wien eine Baufirma und in Göding eine Zuckerfabrik. Letztere Tatsache dürfte jenes andere Gerücht beeinflußt haben, das behauptete, Masaryk sei der Sohn eines reichen Zuckerfabrikanten.

War nun der Großvater Josef Redlichs auch der natürliche Vater Thomas Garrigue langer Arbeit aufgerichtet haben muß, setzt Maßstäbe, die wir in unserer eigenen, auf schnelle Produktion und schnellen Verbrauch konzentrierten Zeit kaum zu finden vermögen.

Es ist nicht auszudenken, welche Rolle eine selche monumentale Vergangenheit in der nationalen Mythologie eines anderen Volkes spielen würde. In der „französischen Ideologie” hingegen, die wir kürzlich an dieser Stelle umrissen haben, ist für sie kein Platz. Gewiß lassen sich die Franzosen wie kaum ein anderes Volk von ihrer Geschichte bestimmen. Herbei \h Lüthv hat in seiner gültigen Darstellung des heutiger» Frankreichs aufgezeigt, wie sich der Franzose in jeder auch noch so neuartigen Situation genau nach einem seiner Vergangenheit entnommenen Ritual verhält. Aber diese „Rollen” entnimmt er — trotz Jeanne d’Arc — einem recht kurzen, zu einer klassischen Komposition erstarrten Stück seiner Geschichte, das sich von Heinrich IV. bis zu Ludwig XIV. oder allenfalls H» zur Großen Revolution erstreckt.

In diesem seltsamen Verhalten wird jene „Feindschaft gegen das Werden” sichtbar, die wir als eines der Merkmale der offiziellen Ideologie erwähnt haben. Um die Dolmen, Crom- lichs und Menhire der Bretagne, um die Höhlen der Dordogne und der Pyrenäen mit ihren magischen Tierbeschwörungen wittert die nebelhafte Aura der Ursprünge, in der sich der Mechanismus von Ursache und Wirkung im Unberechenbaren verliert. Im Dämmer der Frühe vei- schwimmen die Umrisse der ein für allemal geltenden geschichtlichen Gebilde. Das Chaos der Anfänge ist ein unsicherer Boden, auf dem sich der aristotelisch-cartesische Geist mit seiner Lust an klaren Einteilungen nicht gerne bewegt.

Es ist darum kein Zufall, daß die sonst so wissenschaftsfreudigen Franzosen den methodischen Aufbau der Vorgeschichtswisscnschaft den Skandinaviern und den Deutschen überlassen haben. Und daß heute der Abbé Breuil der unbestrittene Doyen der französischen Prähistoriker ist, scheint uns ebenfalls bezeichnend zu sein: in keiner anderen Disziplin wohl hätte das so tief laizistische offizielle Frankreich einen Vertreter jener Hierarchie die erste Geige spielen lassen, die im Grunde immer außerhalb der idealen Akademie gestanden fiat. Ein weiteres Symptom für dieses angesichts der vorhandenen Schätze so kuriosen Abseitsstehens der Vorgeschichtswissenschaft ist auch das „Museum der nationalen Altertümer von Frankreich” draußen in Saint-Germain-en-Laye, außerhalb vc.n Paris. Es enthält zwar reiche prähistorische, keltische und römische Funde, aber sein Aufbau im -Stil eines zweitklassigen Provinzmuseums steht im größten Gegensatz zu den musealen Spitzenleistungen in Paris, etwa dem Marine-Museum im Palais Chaillot. Daran ändert auch das ebenfalls im Chaillot befindliche „Musée de I’Homme” nichts, das eine kleine Abteilung französischer Vorgeschichte besitzt. Dieses kurz vor dem zweiten Weltkrieg von einer Equipe von Linksintellektuellen (darunter der Exgouverneur von Algerien, Soustelle, der von Beruf Ethnologe ist) geschaffene „Museum des Menschen” sucht im Gegenteil jenes alles Werden und alle Entwicklung ausschließende Geschichtsbewußtsein auf die Sicht des ganzen Erdballs auszudehnen und ist damit zu einer wichtigen Bastion der offiziösen Ideologie geworden.

Dies alles ist um so verwunderlicher, als die Vorgeschichtswissenschaft von einem Franzosen gegründet wurde. Der zu seinen Lebzeiten als Reiseschriftsteller, Nationalökonom und Psychologe hochgeschätzte Boucher de Perthes (1799 bis 1868), von Beruf höherer Verwaltungsmann, entdeckte nämlich 1828 an der Somme den ersten „Silex” (vorgeschichtlicher behauener Faustkeil). Das war der Beweis, daß schon vor 50.000 Jahren Menschen lebten — die bis dahin im Grunde immer noch auf dem Alten Testament basierenden Geschichstvorstellungen waren damit umgestoßen. Von diesem Datum an begann erst die Herausbildung unseres modernen Geschichtsbewußtseins. Aber die Laufbahn des Prähistorikers Boucher de Perthes ist eine Leidensgeschichte. Man kann sie nachlesen in dem Buch „Découverte archéologique de la France” von Colin-Simard, das der Pariser Verlag Amiot & Dumont herausgebracht hat. Boucher wurde offen als Verrückter oder als Hochstapler behandelt.

Erzählt man einem gebildeten Franzosen von einer Wanderung durch die Landschaft der Dolmen und Menhire, so bekommt man meist zu hören: „Nun, das mögen ja recht eindrucksvolle Dinger sein, da hinten in der Bretagne. Ahpr was hat das mit uns zu tun? Die stammen doch von längst verschwundenen Völkerschaften ” Auch das gehört zu den Versatzstücken jener „französischen Ideologie”: daß Frankreich ein formloses und primitives Chaos gewesen sei, in das erst die 58 v. Chr. mit Cäsars Legionen einmarschierende Latinität menschenwürdige Strukturen geprägt habe. Daß es in Frankreich eine zwar vom klassischen Geist in den Untergrund gedrängte, aber latent stets vorhandene „keltische Tradition” gibt, mit so „unfranzösisch” scheinenden Eigenschaften wie etwa e;»iem spiritualistisch-dynamischen Durchdringen und Sprengen der naturalistischen Formen — diese Einsicht war bis vor kurzem auf schrullige, als „Keltomanen” abgetane Sonderlinge beschränkt. Insbesondere drang nicht ins Bewußtsein, daß es eine großartige und eigenständige keltische (oder gallische) Kunst gibt, welche die Impu’se der vorgeschichtlichen Formkraft aufnimmt und in ihren Auswirkungen über die Fabeltiere der romanischen Kirchen bis in die expressionistische und die abstrakte Kunst der Gegenwart reicht. Man mußte sich bisher die Dokumentation über diese dem klassischen Naturalismus so ferne Formenwelt in summarischen Einleitungskapiteln offizieller Enzyklopädien oder in abgelegenen Spezialarbeiten zusammensuchen.

Mit diesem seltsamen Zustand einer abgerissenen Tradition ist es nun mit einem Schlag zu Ende. Und auch hier ist der Anstoß aus den Reihen des katholischen Klerus gekommen, im Departement Yonne gibt es das Kloster Sainte- Marie de la Pierre-qui-vire, dessen Kunstverlag „Zodiaque” seit kurzem eine Bildbuchreihe mit dem bezeichnenden Titel „La Nuit des Temps” (Die Nacht der Zeiten) herausbringt. Als vierter Band der Reihe erschien nun von André Varagnac, Konservator am erwähnten Museum in Saint-Geimain-en-Laye, und Gabrielle Fabre, Medaillenspezialistin der Nationalbibliothek, ein ebenso großzügig ausgestattetes Kompendium „L’Art Gaulois”. Die Bildtafeln dieses von Dom Angelico Surchamp eingeleiteten Bandes über die „gallische Kunst” reichen vom Juwel der Megalithkultur, den gravierten Steinen der bretonischen Insel Gavrinis über die keltischen Götterstatuen, die gallischen Münzen mit ihren kühnen Stilisierungen und das meisterliche Metallhandwerk bis in die fugenlos daraus hervorgehende Formenwelt der frühromanischen Kapitelle und Figurenplastik.

In seinem sorgfältig wissenschaftlichen Kommentar rechtfertigt Varagnac diesen kühn geschlossenen Bogen der Tradition. Die um 500 v. Chr. in Gallien eingewanderten Kelten, die bis zum Einströmen der Germanen für ein Jah- tausend die Substanz des Landes bilden stellen für ihn keine geschlossene Rasse oder Sprache dar. Sie sind eine Zivilisation, deren Träger sich mit den ansässigen Nachkommen der Schöpfer der Megalithkultur vermischten, wie ja auch die keltischen Druiden nachweislich Dolmen zum Ort ihres Kultes machten. Und eine ähnliche Vermischung fand am Ende der keltischen Acta statt. Eine Serie von überraschenden Gegenüberstellungen heidnischer und früher christlicher Monumente am Ende des Bildbandes zeigt, in welch breitem Strome Ur-, Vor- und Frühgeschichte zum Aufbau der „Person Frankreich” beigetragen haben, solange diese nicht von einer tyrannischen Ideologie zu einem auf die Dauer nicht lebensfähigen Gebilde zusammenamputiert worden war.

Das Buch des burgundischen Klosters bat zu Recht auf dem an Bildbänden sonst so übersättigten Markt als Sensation gewirkt. Man mußte vor Weihnachten in Paris oft mehrere Buchhandlungen absuchen, um noch ein Exem plar auftreiben zu Können. Die Bücher von Colin-Simard und Varagnac-Fabre sind jedoch Symptome auf intellektueller Ebene. Parallele Symptome für diese Auflockerung der allmächtigen Ideologie auf dem Gebiet des Ge«chichts- bewußtseins müssen auch in unmittelbareren Lebensbereichen aufzuspüren sein.

Zum mindesten ein solches Symptom springt in die Augen: die in den letzten Jahren in der französischen Jugend epidemisch gewordene und oft etwas verächtlich als eine Art von „Scoutisme” erledigte „Speläologie” (Höhlenforschung). Gewiß ist es in erster Lime ein „Sport”, wenn mehr und mehr Equipen junger Leute in ihren Ferien in den Pyrenäen und anderen Gegenden Frankreichs ganze unterirdische Höhlenreiche erforschen. Wenn diese „spéléologues”, die übrigens scheu ihre Mä - tyrer aufzuweisen haben, auch nicht unbedingt auf Faustkeile und gravierte Mammuts auszu- gehen brauchen, so treibt sie doch der Instinkt, aus dem Vorgeformten ins Vorgeschichtliche und damit ins Formlose, Formbare, auszubrechen. Man sehe sich nur ihre Gesichter an. Das sind andere Köpfe, als wir es von den französischen „Milieu”-Filmen für den Export gewohnt sind. Sie unterscheiden sich kaum mehr von der kühnen Jugend anderer Völker: es fehlt ihnen die für die französische Jugend als typisch geltende „Erwachsenheit”, die schon im Gesiebt des Kindes ablesen läßt, wie es dreißig Jahre später aussehen wird.

Es geht in den französischen Höhlen wedel um Leibesübungen noch um pietätvolle Pflege von längst Vergangenem. Es geht um die Ursprünge, die immer da sind und aus denen allein Verwandlung erfolgen kann Für Frankreich ist es aber eine Lebensfrage, ob es die verlorene Verwandlungsfähigkeit wiederfindet. Die Tagespolitik mahnt unablässig daran.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung