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Geist und Kultur in Frankreich

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Paris, im November 1953 Der Mann in der Metro liest, stehend, eingepfercht in die Masse, die zur Zeit der Betriebs- und Geschäftsschlüsse die U-Bahn überfüllt, in einem dicken alten Schmöcker. Die Zeitungskioske auf den Champs Elysees breiten eine Fülle von Zeitschriften aus: Politik, Kunst, Mode, und immer wieder Literatur. Große Verlage bringen hundert Neuerscheinungen im Jahr heraus. Unaufhaltsam steigert sich die große Erregung jedes Jahres: das Raten um die vier großen, um ein Dutzend kleine Literaturpreise. Der Kampf um sie ist, wie der Kampf um die Aufnahme eines neuen „Unsterblichen“ in die Academie Frantjaise, ein gesellschaftliches und politisches Ereignis ersten Ranges.

Der Betrieb geht also, äußerlich besehen, weiter. Wer näher zusieht, sieht Schatten. Angesehene Verlage sind in Schwierigkeiten, da sie allzuviel und bisweilen allzuwenig wählerisch produziert haben. Das Zeitungssterben war bereits die große Affäre der Jahre 1948 bis 1950. Die Zeitschriften sind ihnen gefolgt. Soeben stellt „Terre humaine“ ihr Erscheinen ein, dieser sympathische Versuch aufgeschlossener Kritiker und Essayisten, einem der MRP. nahestehenden Publikum offenere Horizonte zu vermitteln. Angesehene Kritiker klagen, daß die Verleihung der großen Preise zur Farce zu werden drohe, da jeweils aus dem Streit zweier gegnerischer Cliquen, als Kompromiß, eine Mediokrität als „Sieger“ hervorgehe. Was nicht ungefährlich ist, denn der Preisträger erhält Auflagen von einigen hunderttausend und bestimmt irgendwie mit das Zeitgesicht, zumindest die literarische Mode: Sie spielt eine sehr große Rolle in diesem Literaturbetrieb, der ja nur innerhalb des großen Komplexes Gesellschaft—Politik—Erotik verständlich ist. Eben hat die Pariser Haute Couture eine Niederlage erlitten: In Amerika wurde sie durch die italienische Konkurrenz im offenen Wettbewerb geschlagen. Feine Ledersachen, Blusen und Tücher kommen, nach wie vor, aus Wien — und nun fragen sich alte Pariser, ob dieses Absinken an attraktivem Reiz nicht mit einem Absinken französischer Geistigkeit zusammenzubringen sei.

Der erste Nachkriegsglanz um Sartre, Camus, Malraux ist lange verblichen. Der Versuch, ihn vor Jahresfrist durch die Polemik Sartres gegen seinen früheren Freund Camus künstlich wiederzubeleben, ist versandet, er hat nicht mehr zu großen Polemiken geführt, die einst zwischen den „Skandalen“ um die ersten Impressionisten, um die DrCyfus-Affäre, bis zur Resistance,

* Vgl. von demselben Autor: „Phänomen Frankreich“, Furche Nr. 48 jene eigentümliche Vitalität des französischen Geistes bekundeten, die sich im Alltäglichen, Tagespolitischen, Modischen und Provinziellen zu entzünden vermochte, um dann den Gipfel des Europäischen und Universalen zu erklimmen.

Die „großen alten Männer“ sind tot oder in akademische Würden, in statuarische Größe eingesargt. Claudel ist sich selbst zum Denkmal geworden ... Andere gingen, wie Gilson und Maritain, nach Amerika, nach Kanada. Jüngere stehen verlegen, gereizt, voll ehrlichen Zorns und Unwillens vor der „malaise sociale“, vor der Nichtbewältigung der sozialen Frage, vor dem „Skandal des Krieges in Vietnam“, jetzt soeben vor dem „Skandal in Marokko“. Die Tatsache, daß hier in Marokko wider alle Demokratie, wider alle parlamentarischen Rechte und Pflichten, wider alle Worte und Ucberzeugungen des besten Teils der französischen Intelligenz ein General, ein Marschall, durch einen Handstreich wider den alten Sultan Frankreich eine Politik aufzwingen konnte, deren Früchte zu fürchten sind, erregt diese Intelligentsia.

Und damit stehen wir bereits vor ihrer wahren europäischen Bedeutung. Sie besteht nicht etwa darin, daß diese Männer europäisch gebildet wären: ihnen eignet vielmehr, was Außenstehende auf den ersten Blick überraschen mag, ein außerordentlicher Provinzialismus. Sie kennen, wenn sie nicht Anglisten und Germanisten von Fach sind, sehr wenig,- oft fast nichts, von der außerfranzösischen Literatur, schreiben notorisch, wie die ganze französische Presse, fremde Autorennamen, auch von internationalen Größen, falsch, lesen nur die angloamerikanischen, in letzter Zeit auch italienischen Bestseller in schlechten Uebersetzungen, die sehr frei mit dem Originaltext umspringen. Ein Symptom: In ganz Frankreich ist es heute noch schwer, gute Uebersetzer aufzutreiben, zumal natürlich für das Deutsche.

Worin besteht also nun die außerordentliehe Bedeutung dieser Intelligentsia, die sich, ehrlich befragt, für kaum etwas außerhalb der Grenzen der Union Franchise (also Afrika und Asien inbegriffen!) geistig-vital interessiert. Worin besteht die europäische Bedeutung einer Kultur, in der die Malerei von ihrer weltgültigen Höhe nahvergangener Jahrzehnte abgesunken ist; in der das Theater, trotz einzelner Könner von Format, meist mittelmäßig geworden ist, nachdem die großen Experimentierer gestorben sind; in der die Musik nie eine überragende Rolle gespielt hat, wenn man nicht an die Nach-Wagnerzeit denken will; in der weder die Denker noch die Dichter noch die Theologen, von einigen Architekten, Soziologen, Chemikern abgesehen, heute Erstrangiges, Weltgültiges produzieren; in der kleine Cliquen tonangebend mit diktatorischer Vollmacht bestimmen, was preiswürdig, druckwürdig, lobens-, lesens- und honorarwert ist?

Wer näher herantritt, wird in Paris bemerken: Wohl ist nach der ungeheuren nervlichen und seelischen Anspannung in der Resistance-Epoche, die bis 1949/50 mit ihren fruchtbaren Ausschwingungen reicht, ein Verhalten sichtbar geworden. Die Zeit großer Worte ist vorbei. Die politische Krise erzwingt die Arbeit bedachtsamer Kritik. Nicht wenige Prominente flüchten in die wissenschaftliche Kritik — ein erstaunlicher Vorgang für dieses geistige Frankreich, in dem es seit den Tagen Ludwigs XIV., des honete homme, des gebildeten Weltmannes, Pflicht war, sich der „pedantischen“, auch deutschen Wissenschaftsmeierei zu enthalten.

Unter der schützenden Deckt dieser Krise lebt aber, wie wir glauben, in einer im innersten ungebrochenen Fülle, die Geistigkeit Frankreichs. Ihre untrüglichen Abzeichen sind: Ein Formgewissen, das auf die bruchlose Uebereinstimmung von Form, Sprache und Inhalt achtet (tief katholisch geprägt, man vergleiche nur die Definition des Thomas: „Die Schönheit ist der Glanz des Wahren“). Sodann ein politisches Gewissen, das nach wie vor als vorbildlich bezeichnet werden muß. Es gibt, um das zu veranschaulichen, keinen französischen Intellektuellen, der nicht schlaflose Nächte oder zumindest Stunden hat, wenn, seiner Ueberzcugung. nach, das Weltgewissen (es ist das Gewissen dieser französischen Intelligentsia) durch irgendwelche politische Aktionen versehrt wird. Eindringlich wurde mir dies vorbestellt, als ich am Bett des kranken Gabriel Marcel saß und' der Greis mir, freudig erregt, die Kundmachung der presbyterianischen Kirche der USA gegen den McCarthysmus vorlas. So geht es aber Hunderten und Tausenden dieser Männer, und was nicht vergessen werden darf, Frauen. Als ich, zu nachtdunkler Stunde, die Treppe von der Wohnung Gabriel Marcels, und wenig später, bei Jeanne Ancelet-Hustache, der großen Germanistin und Schriftstellerin, hinunterstieg, dachte ich daran, wie anders sich vielleicht die Dinge gestaltet hätten, hätten zwischen 1870 und 1914, 1932 und 1938, Deutschlands Intellektuelle einen weniger ruhigen, weniger gewissenssicheren, weniger satten Schlaf gehabt . . .

Zu diesem politischen Gewissen gesellt sich nun ein auch bei sehr „weltlichen“ französischen Geistern heute noch das Gewissen der Verantwortung für den Geist, für dessen Klarheit, Wahrheit, Reinheit, Sauberkeit.

Zu den schönsten und ergreifendsten Erlebnissen in Paris gehört deshalb — neben den Arbeiterpriestern — eben dieses: wieder einmal zu sehen, wie die besten französischen Intellektuellen und Geistschaffenden wissen, was der Geist wert ist — und daß er durch ein oft materiell armseliges, karges Leben in ärmsten Verhältnissen bezahlt sein will. In kleinen Stuben, in winzigen Hotelzimmern, in altvaterischen niedrigen Biedermeierhaushalten hausen Männer und Frauen, die in Jahrzehnten Lebenswerke geschaffen haben, die jedem Lande zur Ehre gereichen müssen. Hier ist genau der Ort, daran zu erinnern: in diesem Paris, mit seinen Millionen Lesern, mit seinem ungeheuer angeschwollenen Literatur- und Kunstbetrieb, haben auch im ganzen letzten Jahrhundert, und gerade wieder in den Jahren zwischen 1880 und 1930, die wertvollsten und werteschaffendsten Künstler, Dichter, Geister jahrzehntelang in bitterer Not, Armut gelebt. Und sie haben, ohne schielende Blicke nach oben und unten, diese Not ertragen, die ganze Misere eines bedrängten Lebens, unsicheren Bewußtsein, für die Realität ihres geistigen Schaffens bezahlen zu müssen.

Das gibt zu denken. Es ist sehr leicht möglich, daß auch heute, wie vor 20, 30, 50 Jahren, verborgen im Helldunkel dieser erregenden Stadt, jene Dichter und Denker, jene Seher neuer Gesichte menschlicher Möglichkeiten und Perspektiven bereits schaffen und am Werke sind, die unser Zeitalter, das, wie Kafka erkannt hat, an Phantasielosigkeit tödlich erkrankt ist, aus den Engpässen und falschen Alternativen, in die es die großen Vereinfacher iä Ost und West hineinzwingen möchten, herausführen. Ich glaube, daß hier an dem von aller Weh heute beklagten Attentismus Frankreichs ein positives Moment sichtbar wird: diese Geister wollen sich nicht entscheiden für die Wege anderer, weil sie ihren eigenen Weg noch nicht gefunden haben und sich weigern, die chemischen und politischen Formeln der Weltingenieure in den Metropolen anzunehmen. Frankreich verhält den Schritt. In seiner Tiefe

Während sich Jerusalem rüstet, im nächsten Jahr die Dreitausend-Jahr-Feier der David-schen Eroberung zu begehen, ist dieser Tage der erste datierte Gegenstand dieser Epoche auf jenem Schlachtfeld entdeckt worden, auf dem König David seinen entscheidenden Sieg gegen die Philister gewann.

Der Landwirtschaftslehrer Ariel Wittenberg nahm an einem Novembernachmittag dieses Jahres seine Schüler in das Versuchsfeld der Schule im Süden Jerusalems mit. Die Kinder waren eifrig daran, ein Stück Land zu entsteinen. Der Lehrer arbeitete selbst mit und wollte eben einen Stein auf den Haufen werfen, als ihm seine merkwürdige Form auffiel. Dieser „merkwürdige Stein“ war nichts anderes als der erste Fund aus der biblischen Schlacht von Rephaim, wo David die Philister schlug. webt aber ein starkes, geheimnisvolles Leben, das mit tausend Schwingungen auf die Aktionen und Parolen der Marschierer reagiert.

In der Rue de Seine, in anderen Straßen des Quartiers Latin, hängen tausend Bilder junger Künstler. Tausend Ansätze, die Welt neu zu sehen, den Menschen und die Dinge zu neuen Wohnungen, Behausungen im Geistigen und Seelischen zusammenzusehen. Alles ist in Schwebe. Kein fremder Tritt vermag den Zauber zu brechen, in dem diese Stadt, in sich befangen, in einer mit. tausend Pulsen atmenden Wachheit verhält.

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