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Digital In Arbeit

FÜNF FRAGEN AN PAUL CLAUDEL

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Welches sind Ihre persönlichen Pläne?

Ich habe keinerlei Pläne, ich habe nur meine tägliche Arbeit, die ich mit bürokratischer Regelmäßigkeit weiterführe. In diesem Augenblick bereichere ich meine posthumen Werke um zwei Kommentare, den einen über das Hohelied, den anderen über die Apokalypse. Da® Studium der Heiligen Schrift bildete während meines ganzen Daseins meine bestimmende Beschäftigung, nunmehr ist es die Leidenschaft meiner alten Jahre. Könnten doch meine bescheidenen Essays die Liebe meiner katholischen Brüder für das Buch der Bücher neu beleben, neben dem jegliche menschliche Kunstfertigkeit so armselige Figur macht!

Möchte doch vor allem die Geistlichkeit, von der zu viele Vertreter eine pseudo-wissenschaftliche und banal buchstabengetreue Schule verwirrt wurden — sagen wir durch einen Modernismus, der trotz der Verurteilungen durch Pius X. sich am Leben erhalten hat —, den unvergleichlichen Scbaitz, d-en das Brevdier jeden Tag in ihre Hände legt, besser und in seiner ganzen Größe und Weite schätzen lernen! Könnten sie zurückfinden zu der Methode und dem Beispiel der Kirchenväter! Und sich das verhängnisvolle Abenteuer der Israeliten ins Gedächtnis rufen, dlie den Philistern die Sorge überließen, ihnen ihre Waffen und ihre Werkzeuge herzustellen (I. Könige, Kap. XIII).

Hatte unsere Literatur nach Ihrer Ansicht vor der Katastrophe den falschen Wege eingeschlagen?

Zweifellos! Man muß sich nur diese Art von Stücken ins Gedächtnis zurückrufen, diese Vorkriegsspielzeit, die dem Pariser Theater alle Schande bereitete. Man verstehe mich recht, ich halte gewisse berühmte Fabrikanten von Stücken, Essays und Romanen nicht allein für den Zerfall unseres Charakters, unserer Sitten und unseres Rufes für verantwortlich. Aber man kann sagen, daß sie sich immerhin in erster Linie für dieses Unternehmen einer allgemeinen Herabwürdigung anwerben ließen. Bei einer Reihe von ihnen sieht es so aus, als hätten sie sich die schmähliche Aufgabe zugeschrieben, die Phantasie der jungen Menschen an die Greuel zu gewöhnen, die den Zorn Gottes auf Sodom und die heidnische Antike gezogen haben. Und wie viele haben eine auffällige Vorliebe für ein Verächtlichmachen Frankreichs und der französischen Familie! Was für Karikaturen, im Ausland begrüßt und belohnt!

Was für ein Wohlgefallen an den schlimmsten Perversionen! Was für eine Dürre! Welch ein Mangel an Nächstenliebe! Was für eine ungesunde und niederdrückende Atmo- späre! Das ist das Werk von Männern, in denen die Jugend Führer suchte und nur Schilderer von Lastern und Ratgeber für Feigheit und Mutlosigkeit fand! Das ist das Bild, das sie aller Welt von unserem Lande boten! Wie oft habe ich darunter zu leiden gehabt, während meines beinahe ständig außerhalb Frankreichs zugebrachten Lebens

Und dennoch, wie ungerecht wäre es, all die großherzigen

Schriftsteller zu vergessen, die unsere Sprache und unserm Charakter zur Ehre gereichen, ein Duhamel, Ramuz, Henri Pourrat, diese ganz neuartige Fähigkeit zur dichterischen Durchdringung in der Beobachtung, zu welcher ein Giraudoux und ein Paul Morand beigetragen haben. Das Werk von Romain Rolland, was immer man von seinen Tendenzen halten mag, ist das Werk eines großen und edlen Denkers. In dem etwas zu überladenen von Jules Romains finden sich wunderbare Seiten mitten im peinlichsten Wortschwall. Bergson gereicht unserer Philosophie zur höchstens Ehre. Es gibt keine Epoche, die nicht stolz sein könnte auf Dichter wie Francis Jammes, Paul Valéry, Abel Bonnard, Léon-Païul Far- gue, die Comtesse de Noailles. Wen noch nennen? Colette, die Prinzessin Bibesco, einen bezaubernden Geist wie Valéry Larbaud. Schon gut! Ich sah alles zu schwarz, und das Gute in den höheren Bereichen unserer Literatur ist dazu angetan, das Schlechte mehr als auszugleichen. Das Beunruhigende ist nur der vollständige Mangel an jungen Talenten.

Scheint Ihnen eine Wiederaufrichtung unerläßlich und unter welcher Form?

Wünschenswert, ganz bestimmt. Unter welcher Form, da muß ich mich für unzuständig erklären. Das Talent widersetzt sich gegen jeglichen Konformismus. Die gewaltige Macht der Académie française, mit Reichtümem überhäuft und von allen Kräften der Verwaltung, der Universitätskreise und der Kritik unterstützt, hat noch immer zu nichts anderem genützt, als die Mittelmäßigkeit zu ermutigen und originelle Talente zu erdrücken. Ich kann nur eines sagen, das beste Mittel für eine Gesellschaft, eine große Literatur zu erhalten, besteht darin, sie zu verdienen.

Sollte der Schriftsteller eine größere Rolle im öffentlichen Leben spielen? Welche Rolle genau?

Darüber weiß ich nicht mehr als Sie selber. Das hängt von seinen Fähigkeiten ab. Phantasie und Empfindungsvermögen, Fähigkeiten, die bei einem Künstler den größten Raum einnehmen, können für einen Staatsmann weniger wichtig sein als Charakter, Urteilsfähigkeit und Willenskraft Anderseits haben Scharfblick, Beherrschung des Ausdrucks, Einsicht in die Situationen einen unleugbaren praktischen Wert.

In welcher Reihenfolge ordnen Sie die verschiedenen Gattungen, Roman, Essay, Kritik, Dichtung, ihrer gegenwärtigen Bedeutung nach ein? Welchen sollte sich die Vorliebe des Publikums zuwenden?

Auf Ihre fünfte Frage zu antworten übernimmt der Geschmack jedes einzelnen. Doch neben den von Ihnen aufgeführten Gattungen vergessen Sie zwei andere neueren Datums, die mit einer nicht übersehenden Konkurrenz Buch und Theater bedrohen. Ich meine Radio und Kino. Man darf sich nicht verhehlen, daß dieser Seite das ganze Interesse der großen Massen und der Jugend gilt. Neben dieser lebendigen, mächtigen, bedrängenden, mitreißenden, sturzflutartigen Wirklichkeit, die man unsereinem sozusagen mitten ins Gesicht und zum Greifen nahe hinschleudert und die einem die Zeit zur Überlegung benimmt, das ist wahr, aber auch die Langeweile, wie langsam, weitschweifig, armselig, trübselig und, weniger entlegen, dafür dämmriger wirkt da der Roman mit seinen endlosen Vorbereitungen, seinem ständigen Appell an ein Mitgehen unserer Phantasie, diese Kunst mit einem Wort, die uns umwirbt, statt sich aufzudrängen! Und wie mühselig und schwerfällig erscheint das Theater mit seiner kindlichen und dauerhaften Inszenierung, an der das Auge sich sogleich ermüdet, mit seinen eisigen Dialogen, dem unaufhörlichen Geklapper von grobem Schuhwerk und diesen gesichtslosen und unglaubwürdigen Gestalten! Hinter der Filmleinwand ist dafür der Verfasser vollkommen verschwunden, ‘ was für eine Erleichterung!

Verzweifle dennoch nicht, unglückseliger Federfuchser! Denn neben einer Kunst, die das Auge des Publikums auf deine Kosten verführt hat, ist hier eine andere aufgetaucht, die dir dessen Ohr wiederbringt. Dieses dazwischengeschobene Papier, auf das sich dein Odem in schwarzen Lineamenten niederschlug, das war mit einem Wort ein Knebel! Von dem hat man dich befreit, und hier ist an seine Stelle eine unzählbare Hörerschaft getreten, die dir ausgeliefert ist, um sie direkt zu erreichen, empfänglich für den Klang deiner Stimme sogar, für die ursprüngliche Ausströmung deines Geistes, für diese von allen Hüllen befreite Seele, die in ihrer Unmittelbarkeit zu ändern Seelen spricht! Das Wort, die Sprache nimmt wieder seinen Platz ein, den ihm die Literatur entzogen hatte. Es erreicht den Verstand auf den Flügeln des Äthers, und welches Vehikel wäre geeigneter für den Gedanken als die Welle. Die Gewöhnung an Straflosigkeit hatte gewisse Federfuchser stocktaub werden lassen. Doch das Kauderwelsch eines Sainte-Beuve zum Beispiel (er zählt heute nur zu viele Nachahmer!) würde, ehe es das Ohr seiner Zuhörer zerquetschte, die Membrane lähmen! Der Dichter, der Redner, der Darsteller, der Erklärer, der Auf- peitscher ist nicht mehr allein, er ist zu zweit, er hat eine ganze Welt zu seiner Verfügung und den ganzen Planeten zum Echo. Den ganzen Horizont rings um sich zu evangèli- sieren! Ist das nicht besser, als trübselige Blätter in dem Sarg eines Oktavbändchens zu schichten? Man verstehe mich recht! Ich glaube auch weiterhin an die Kraft des Geschriebenen, an den begeisternden Rat des Gnomen auf dem Grunde einer schwarzen, in die Kapsel der Füllfeder eingekerkerten Flüssigkeit! Die Götter, in der Ausdrucksweise unserer Vorfahren, oder, wenn man will, ganz einfach die Menschen, die Ereignisse, die Natur, die verborgenen Interessen, die Leidenschaften, die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft brauchen einen Protokollanten, der bereit ist, geduldig und aufmerksam das darzulegem, was sie sagen wollen. Und der Autor anderseits, den man schätzt, an dem will man nicht nur für einige Augenblicke teilnehmen, den möchte man besitzen: Man will ihn aufnehmen und sich aneigenen, dazu bedarf es der Zeit für die verschiedenen Bereiche unseres Temperaments, unserer Urteilskraft und unserer Pèrsônlichkeit. Auf den Regalen unserer Bibliothek schätzen wir die Gegenwart dieses geistigen Gastes. Doch hindert das nicht, daß ihm das Wort als Herold und Erklärer diene.

Und da ich soeben vom Theater sprach, und ich komme noch darauf zurück, was für neue Möglichkeiten liegen im radiophonischen Drama! Hier bietet sich uns im Absoluten ein Einklang zwischen den Seelen, eine begreifbare Verbindung zwischen den Willensäußerungen dar, losgelöst von der groben körperlichen und gestischen Unruhe. Unser klassisches Theater, wer weiß, ob nicht hier viel eher als in diesen leichenhaften Schaustellung die einzige, sagen wir elyseische Form zu suchen wäre, in der es zu überleben vermöchte? Und was für ein Sicherheitsgefühl, einfach durch ein Strecken des Zeigefingers den endlosen Abhandlungen von Bérénice und Antiochus ein Ende setzen zu können?

Indessen möchte ich sowenig wie das Buch diese erhabene Plattform verurteilen, die, nichts hindert uns, das zu erhoffen, von neuem eines Tages durch den Schritt eines Mannes von Genie erschüttert werden kann. Der Schauspieler, die Schauspieler, diese lebendigen und von einer Rolle hingerissenen Gestalten sind nicht nur Spiegelung, sondern ureigentliche Quelle von Vorstellungen und Regungen unter unseren Augen, und wie könnten wir ohne sie auskommen, und anderseits wie ihnen einen unverwechselbaren Platz wiederfinden in dieser Welt der Gespenster und des Blendwerks, für sich allein immerhin etwas enttäuschend, welche die Wissenschaft entfesselt hat? Der Zusammenklang von Wort und Musik, von Wagner vergebens angestrebt, der des Dramas mit dem filmischen und radiophonischen Kommentar, die nur darauf warten, es zu stützen, was für Probleme stellt dieses Ideal, zu dem wir uns unmerklich hintasten, der zukünftigen Kunst und legt sie ihr auf!

Das Geld des Staates ließe sich viel besser einsetzen zur Ermutigung der Sucher, der Pioniere einer neuen. Kunst, als in der Verewigung dieser Friedhöfe, was sonst sind die subventionierten Theater. Wenn man, wie mein Alter mir das erlaubt, die Geschichte des Kunstlebens dieser letzten fünfzig Jahre an sich vorübergleiten läßt, so findet man, daß die Rolle dieser grausigen Anstalten kaum in etwas anderem bestand als darin, ein Eisschrank zu sein. Was an wirklich Interessantem auf dem Gebiet des Theaters geschah, war das Werk von Privatinitiativen, die häufig genug unter erschütternden Notbedingungen ausgeführt würden. Ich denke an die russischen und schwedischen Ballette, an den Vieux-Colombier, an diese Art Heroen, als die sich Lugné-Poe und unser lieber Pitoëff erwiesen. Cyrano de Bergerac wurde an der Porte-Saint-Miartin gegeben, und VAiglon im Théâtre Sarah- Bernhardt. Zur gleichen Zeit nahm die Comédie Française den Britannicus wieder auf, inszenierte Le Marquis de Priola und ließ, um uns zum Lachen zu bringen, die Gaukeltänze des Monsieur de Pourceaugnac sich im Karussell drehen. Wir haben das Glück, augenblicklich einen genialen Künstler zu besitzen, von dem man viel erwarten kann. Ich spreche von Jean-Louis Barrault. Mehrere Male habe ich mir die beiden Stücke angesehen, die er vergangenes Jahr im Théâtre de l’Atelier inszeniert hat: Hamlet und Der Hunger. Er war äußerst bemerkenswert. Aber ach! Soeben lese ich, daß er an die Comédie Française verpflichtet wurde und daß man ihm eine kleine Rolle im Misanthrope anvertraut hat. Le Misanthrope, großer Gott! Hoffen wir nur, daß er sich beizeiten aus dieser Stickbude herauslösen kann.

Brangues, 30. September 1940

Aus „Gedanken zur Dichtung". Von Paul Claudel. Auswahl Übertragung und Nachwort von Edwin Maria Landau. Langen-Müller-Verlag, München-

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