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Dichter und Gesetzgebung

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Dichtung zeichnet sich weithin ab als das Hervortreten des innerlichen Menschen, der den Geist hinausträgt. Dabei scheint es so, als bb er nur seine besondere Welt zur Darstellung bringen könnte und sie anders zu Schapen vermag, als wir sie sehen und kennen. Der Dichter braucht gewiß nicht in die Arena des Tages und des Zankes hinabsteigen, aber durch seinen Geist ist er verpflichtet, das Leben nicht nur zu verstehen, sondern es vielmehr zu gestalten. Dann wird er zum Erzieher, und seine geistige Spur erscheint auch in der Gesetzgebung.

Es gab Zeiten im Altertum, da waren Dichter und Musiker die Gesetzgeber der Polis und eine Änderung im Metrum bedeutete Aufruhr und Umsturz. Daß Dichter und Gesetzgebung zusammengehören, das zeigt die große Weltdichtung, das zeigt aber insbesondere die Gesdiichte des englischen Volkes im 19. Jahrhundert. Die englische Dichtung der vierziger Jahre gibt überraschende und wehmütige Aufsddüsse.

Vor ungefähr hundert Jahren war in England eine große Dichtung auf dem Plan, die einen weitgehenden Einfluß auf die Gesetzgebung dieser von schweren wirtschaftlichen und gesellschaftlidien Mißständen geprägten Zeit nahm. Diese sogenannte „soziale Dichtung“ war aber nicht Dichtung in dem Sinn, daß der Dichter seinen hohen Gedankenflug zu den Tagesfragen herabgesenkt hätte und in die Arena der politischen Kämpfe „hin-unter“gestiegen wäre. Nein, als Dichter fühlte er sich seiner Zeit verpflichtet, in seinen Gedichten v e r dichtete sich das Leid und die Bitterkeit der Armen, in seinen Romanen weinten die in einem kapitalistischen S'weating-system ausgebeuteten Frauen und Kinder, und in die Dramen aus der antiken und nordischen Mythologie hob sich die leidende Hoffnung jener Tage hinein. Die englische Literatur hatte eine große Tradition der sozialen und politischen Dichtung, aber die ungeheuerliche Brutalität des Monstrums Kapitalismus rief alle Großen des Geistes einmütig zur Verteidigung der Rechte des Armen als Brudermenschen auf.

Wenn ein Shelley den „Entfesselten Prometheus“ sdireibt, in dem der klassische Mythos eine spradigewaltige, auf die konr krete politische Situation ausgeformte Er-'' neuerung erhält, und ihm als Verhöhnung des unfähigen Georg IV. das Satyrspiel „ödipus, der Tyrann“ folgen läßt, dann ist dies keine „bloß politische oder soziale“ Dichtung, sondern Dichtung im eigentlichen Sinne des Wortes. Lord Byron, der adelige Freigeist und Spötter, tritt im Parlament für die Katholikenemanzipation ein und krönt seine oft trüben und zynisdien Verse für die Freiheit Griechenlands mit dem Tod in Missolungi. Thomas Moore hat mit seinen „Irischen Melodien“ zur endgültigen Befreiung der irischen Katholiken im Jahr 1828 hervorragend beigetragen; Hood schreibt 1843 das „Lied vom Hemd“, in dem das Leid der vergrämten, lungenkranken Näherin zum Gedicht, nicht zur naturalistischen Schilderung wird. Und im gleichen Jahr, ein Jahr nach dem Verbot der Frauen- und Kinderarbeit in den Bergwerken, geht eine Flut Asozialer Dichtung“ über England: Elisabeth Barret schreibt ihr „Kinderweinen“, Carlyle geißelt“ in „Vergangenheit und Gegenwart“ die sozialen Mißstände seiner Zeit, eine Reihe kleinerer Dichter schreibt leidenschaftlich-aufrüttelnde Gedichte. Und das war zum Teil Propaganda, Tränenmelodramatik und journalistisches Auch-dabei-Sein, aber gerade bei den Großen war es mehr: es war tiefste Anteilnahme am Leiden der Armen und Unterdrückten und die Verdichtung dieses Leidens zu einem einzigen zornigen Aufschrei. Und dann ist da Dickens, der große, stürmische, gewaltige Dickens, der mehr als irgendein anderer Dichter die öffentliche Meinung und damit die Gesetzgebung beeinflußt. Damals,

1843, schreibt er sein „Weihnachtsmärchen“, das Lied vom modernen Mensdnen, dessen Härte vor dem Wärme und Leben spendenden Geist der Weihnacht schmilzt und eintaucht in das Lidit des großen Festes der Bruderschaft alles Seins. Wichtiger als diese Erzählung aber sind hinsichtlich ihrer politischen Durdischlagskraft seine vorhergehenden Romane sie sind unbekümmerter, frischer, dichterischer. Ein Buch wie etwa der „Pickwick-Klub“ wäre im Deutschland jener Zeit unmöglich gewesen: Dickens soll zu den Zeichnungen eines bekannten Sportkarikaturisten einen Fortsetzungsroman sdireiben, mit vielen komisdnen Zwischenfällen, in denen Mr. Pickwick eine recht kläglidie und lädierliche Rolle spielen soll. Und was macht, nein schafft und schöpft er aus diesem Vorwurf? Jene ungeheuere Lichtmasse des Humors, wie es Chesterton nennt, aus der erst Später ein System von Sonnen und Fixsternen hervorgeht. Da ist ein Dichter, ein wahrer Dichter, der seine Kraft aus den Urkräften des Volkes zieht und diesem Volk klar aufzeigt, was es nur dumpf empfand. Da ist auch die Schilderung des Schuldgefängnisses — und kurze Zeit darauf verschwindet das Schuldgefängnis durch ein neues Gesetz; da ist der grausame, dumme Schuldirektor im „Nicholas Nickleby“ — und es kommt eine Schulreform; da ist der rohe, bestechliche, scheinheilige Armenvogt Bumble im „Oliver Twist“ — und die Verhältnisse in den Armenhäusern und die Jugendgesetzgebung werden verbessert; und man könnte noch einige Beispiele bringen. Das bedeutet sicher nicht, daß Dickens diese neuen Gesetze unmittelbar veranlaßt hat: die Verbesserungen aller sozialen Einridv tungen lagen in der Luft. Daß aber die öffentliche Meinung seine soziale Satire mit solcher Kraft aufgriff und daß das Parlament mit einer unenglischen Lebhaftigkeit, ja Heftigkeit diese Mißstände beseitigte, das bjeibt das unsterbliche Verdienst Did ns'. Hier ist Dichtung, Verdichtung und Kraft, und neben seinen lebensvollen, vom Leben einer Zeit übervollen Menschen verblassen lie Gestalten Tennysons und der anderen Viktorianer. Hier ist Hoffnung, die kein Verzweifeln vor der Dummheit, Trägheit und Lieblosigkeit des kapitalistischen Systems kennt, sondern nur heiligen Zorn und frohe

Hochgemutheit. Hoffnung ist gleich weit entfernt von einer Vermessenheit, die die Lösung aller Probleme zu wissen meint, und der Verzweiflung eines weltabgekehrten Ästhetizismus, der nur der egoistischen Erkenntnis des Wahren, Guten und Schönen leben will. Die Engländer haben ein Sprichwort: „Eine Tatsache, ein fact, ist respektabler als der Bürgermeister von London“, und die richtigen Engländer halten eine Tatsadie immer auch noch für respektabler als einen Ästheten und Philosophen. Dickens brachte nur Tatsachen, aber er brachte sie als Dichter, und als Dichter steckte er dem Volke, den Armen im Beutel und Geiste, die Adventlichter der Hoffnung an, er gab dem englischen Volk die Überzeugung, daß es nicht nutzlos ist, gegen das Böse anzukämpfen, daß das Gute siegt, selbst wenn es sterben muß.

Im Deutsdiland der vierziger Jahre ist es ruhig, sehr ruhig und hochgeistig, vor und nach 1848. Da sind auf der einen Seite die Romantiker mit dem liebenswürdigen Eichendorff, da ist der blasse''Gelehrte Uhland — er bleibt Gelehrter, auch wenn er als Delegierter nach Frankfurt geht —, da ist das „Junge Deutschland“ mit dicken Wälzern, da sind alle die anderen bürgerlich-braven „Diditer“; und auf der anderen Seite spielen Jean Paul, E. T. A. Hoffmann und Zacharias Werner, verzaubert in die Schlösser des Geistes. Ja, es ist „Spiel mit Form und Geist“, da fehlen die Tatsachen, die Wirklichkeit, das Volk. Und wo ein Ma-nn aus dem Volk zum Dichter wird, wie etwa Hebbel, da verzehrt er sich in bürgerlichem Bildungsstreben und in der Dialektik Hegels.

Dialektik: das ist das Zauberwort, das die Dichtung eines Jahrhunderts erstarren ließ. Die ungeheuere Gestalt Hegels löst sich aus grauen Nebeln und der Lebendige hört das Rattern der Geistmaschine, jenes Bildes der Hoffnungslosigkeit des deutschen Geistes, Vermessenheit und Verzweiflung zugleich. Jener Mann, der Napoleon als die Offenbarung der Weltseele preisen konnte und später den preußischen Staat, dessen Hof- und Leibphilosoph er war, er hätte auch jedem anderen Diktator und jedem anderen Maditstaat gehuldigt, immer alles verstehend, in sich begreifend, in sich auflösend, immer gleich unbeteiligt. Auch die Moral wird in die Auflösung einbezogen: der Kampf gegen das Böse wird innerhalb einer „Phänomenologie des Geistes“ zu einer relativen Angelegenheit und damit — sinnlos. Von Hegel kommen jene zerstörenden Einflüsse, die den Geist der Nachgiebigkeit und der Unterwürfigkeit gegen das herrschende Böse im deutschen Volk entstehen lassen, den eine Sigrid Undset ihm als Abfall vom nordisdien und europäisdien Qeist vorwirft. Vermessenheit und Verzweiflung, das sind die Merkmale dieser Philosophie, und historischer Materialismus einerseits, eine weltfremde „schöngeistige“ Bürgerlichkeit andererseits sind ihre unaushV'blichen, ja selbstverständlichen Folgen, titanischdumpfes Warten auf die Auflehnung und Uberheblidikeit ohne Gefühl der Verantwortung und Volksverbundenheit — Aus-einanderreißung der natürlichen Einheit, die jene Unterscheidung von Leib unä Seele bedeutet gegenüber der unnatürlichen, monströsen „Einheit“ des Systems. In Hegel stirbt die Jugend und die Hochgemutheit des deutschen Volkes.

Und da sollte der Dichter etwas mit der Gesetzgebung zu tun haben, der Dichter, der sich dem Geist der Relativität, der bürgerlichen Verschwommenheit der Begriffe, vor allem der Moralbegriffe, nicht zu entziehen vermochte? Was sollte in einem Lande, in dem sdion immer der klare Geist des Sokrates vor den Ideen des Aristokraten Piaton verblaßt war, die hoffende Beschäftigung mit dem einfachen Menschen und seinen Nöten? Daß die Zensur so mäditig war, kann keine Entschuldigung für den deutsdien Dichter sein, eher vergrößert dies seine Schuld, denn es zeigt sich, daß er von Anfang an seine müde Ablehnung des Kampfes hinter einer blasierten Höchmütig-keit verbarg oder vor den Forderungen des Tages in romantische Weiten und die germanische Vorzeit entfloh. Aber auch der Naturalismus der „Weber“ unterscheidet sich seinem Wesen nach nicht wesentlich von der „Butzenscheibenlyrik“. Ihr'Grau in Grau ist dasselbe wie das Himmelblau der Romantik: eine hochmütige Vereinfachung und Vereinheitlichung der immer bunten und feierlichen Farben des Lebens. „Hanneies Himmelfahrt“ ist symbolisch für den Verzweiflungssprung vom Nur-Grau zum Nur-Blau, symbolisch für eine „Gefühlsspaltung“, die nie zur festen Erde und zum Menschen und seinen Freuden und Leiden kommt. Daß der Dichter aus dem Wissen um das Ganze diese Freuden und Leiden zum Ausdruck bringen, ihnen Gestalt verleihen und sie in lebendiger Kraft in politische Wirklichkeit umwandeln kann, diese tiefste Einsicht in das Wesen großer Dichtung blieb diesen Künstlern und Könnern und Literaten versagt. Auch wenn inzwischen ein schwermütiges Wissen um das Sollen gewachsen ist — mehr als hundert Jahre Hegelei haben die Urkräfte des Dichters ausgelaugt, seinen Glauben an eine moralische Wertordnung erschöpft, seine Hoffnung auf den Menschen und das Gute verlöscht.

Aber auch hier darf der Christ nicht verzweifeln. Und wie, vor allem im nichtpreußischen Raum, das Vertrauen auf die gesunden Kräfte im Volk in der politischen Betätigung des Dichters und in Versuchen zur Arbeit am Menschen manchmal aufglänzt — und wäre es audi nur beim liberalen Jesuitenhasser Keller und beim Selbstmörder Raimund — immer leuchten diese Lichter wie hohe Signale in der Nacht der Vermessenheit und Verzweiflung des Geistes. Auch unsere Zeit, in der selbst die Jugend, von den gewaltigsten Erschöpfungen des Körpers und Geistes in zwei Weltkriegen zermürbt, dem Nihilismus entgegenzu-taumeln scheint, auch sie hat Lichter angesteckt, Lichter der Hoffnung und der Freude. Es sind allerdings gerade die Älteren, die zweimal schon durch die Zone des Feuers gegangen sind, die eine stärkere Spannkraft zeigen: ihre Härte, ihr eiskalter Kristallismus ist geschmolzen, so daß sich in ihnen die Gestalt des Menschen, des sidrfreuenden und liebenden und kämpfenden, abzuzeichnen beginnt. Die Jüngeren stehen noch betäubt „wie Charlie Chaplin, wenn er einen starken Schlag aufs Haupt bekommen hat“. Vielleicht müssen sie, die Hoffenden und Dichter von morgen, erst durch die Zone des großen Feuers hindurch, um Dichtung nicht mehr zu schreiben, sondern zu leben, um das Volk in sich zu verdichten und zu konkretisieren — und aus dieser Konkretheit heraus neue Gesetze zu geben.

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