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DIE TRAGÖDIE DES MENSCHEN

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Vor 75 Jahren fand im Nationaltheater in Budapest die Uraufführung der „Tragödie des Menschen" von Imre Madäch statt. Anlaß genug, dieses großen ungarischen Dichters und seines dramatischen Gedichts zu gedenken, das vielleicht — oder sogar wahrscheinlich — nur deshalb nicht so berühmt geworden ist wie andere Meisterwerke der Weltliteratur, weil die Sprache, in der das Original verfaßt wurde, nur von einer kleinen Nation gesprochen wird.

Imre Madäch entstammte dem ungarischen Mitteladel. Er wurde am 21. Jänner 1823 in Also-Sztregova geboren. Er verlor früh seinen Vater und bereitete seiner Mutter wegen seiner Kränklichkeit schon als Kind viele Sorgen. Schon früh zog es ihn zum Theater, aber seine schwächliche Konstitution hinderte ihn, das 1837 gegründete Nationaltheater öfter zu besuchen, so daß ihm jede praktische Berührung mit dem Theater seiner Zeit fehlte. Eine tiefe Leidenschaft zu einem Mädchen, eine unglückliche Ehe mit einer Frau, die, ganz anders geartet als der ernste und schweigsame Dichter, nur Zerstreuungen und gesellschaftliche Freuden suchte, und seine leidenschaftliche Anteilnahme an den Freiheitsbestrebungen der ungarischen Jugend beeinflußten seinen stets schwankenden Gesundheitszustand sehr ungünstig. In den folgenden Jahren ballte sich sein Unglück zur Katastrophe zusammen: seine älteste Schwester wurde ermordet, ein jüngerer Bruder starb an Lungenentzündung, und er selbst wurde wegen seiner Teilnahme” am Aufstand des Jahres 1848 zu politischer Gefängnishaft verurteilt, aus der er erst 1853 entlassen wurde. Da seine Frau in seiner Abwesenheit nicht imstande war, das Gut zu verwalten, und ihr verschwenderisches Leben fortsetzte, gestalteten sich auch seine finanziellen Verhältnisse immer trostloser. Freunde berichteten ihm von der Untreue seiner Frau, sie mußte 18 54 das Gut verlassen, konnte aber auch jetzt nicht ihre leichtlebige Natur bändigen und sank von Stufe zu Stufe.

Aus dieser Lebenstragödie erwuchs die „Tragödie des Menschen“, eine große faustische Dichtung, die von tiefstem Pessimismus erfüllt ist und doch in ihren Schlußworten: „Kämpfe und vertraue!" die Auflehnung gegen Resignation und Verzweiflung symbolisiert. In diesem großartigen, freilich mehr epischen als dramatischen Werk wagte sich Madäch an einen der gewaltigsten und umfassendsten Stoffe der Weltliteratur: Im Rahmen einer Traumerzählung zeigte er die einzelnen Phasen der Menschheitsgeschichte von der biblischen und antiken Zeit über Mittelalter und Neuzeit bis in seine Gegenwart. Mit elementarer Wucht führte er das Menschenpaar Adam und Eva und Luzifer als die Verkörperung des Bösen von der ersten Szene, die im Himmel spielt und in der Luzifer seinen Anteil am gemeinsamen Werk des Werdens begehrt (eine deutliche Parallele zu Goethes Faust!) ins Paradies, in dem die Menschen noch die Freude am Sein genießen, und zum Sündenfall. Adam muß im Schweiße seines Angesichts arbeiten, doch ihn quält der Erkenntnistrieb, Luzifer läßt vor ihm durch den Erdgeist die Kräfte der Natur erstehen, doch der Mensch gibt sich damit nicht zufrieden: er will in die Zukunft sehen, will wissen, wofür er kämpfen und leiden muß. Depi Entschlummernden tut sich nun das Bild der Zukunft auf, die ganze Entwicklung der Menschheit rollt vor ihm ab: der Bau der Pyramiden im alten Aegypten, Athen nach der Schlacht bei Marathon, das antike Rom, Byzanz, Prag im 17. Jahrhundert, London zur Blütezeit des Kapitalismus. Und immer wieder muß Mensch Adam bekennen: „Nein, ich bin nicht glücklich, ich fühle unsagbare Leere!“ Nichts wird der Menschheit erspart bleiben, in den dunkelsten Farben malt Luzifer dem träumenden Adam das schreckliche Nichts der Zukunft, den hoffnungslosen Kreislauf der Enttäuschungen, die Gewißheit der spurlosen Vernichtung. Und dennoch: Als das Menschenpaar aus dem Traum erwacht und Eva Adam mitteilt, daß sie sich Mutter fühle, nimmt Adam sein schweres Schicksal auf sich. Mit den Worten, die der „Herr“ aus der Höhe spricht: „Kämpfe, Mensch, und vertraue!“ schließt die große Dichtung.

Imre Madäch hat in einem Brief an einen seiner ersten Kritiker erklärt, was ihm bei der Konzeption seiner großen Dichtung vorschwebte: „Die Grundidee meines ganzen Werkes will die sein: Sobald der Mensch sich von Gott losreißt und, auf eigene Kraft gestützt, zu handeln beginnt, durchläuft sein Handeln die größten und heiligsten Ideen der Menschheit. Es ist richtig, daß er dabei stets stürzt und daß das, was ihn zu Fall bringt, nur die menschliche Schwäche ist... aber, obgleich der Mensch in Verzweiflung glaubt, alle seine Versuche seien Kraftverschwendung gewesen, schritt seine Entwicklung dennoch immer voran. Die Menschheit macht Fortschritte, wenn das kämpfende Indi- viduuni es auch nicht bemerkt: das menschlich Schwache, das der Mensch nicht zu besiegen vermag, wird von der führenden Hand der göttlichen Vorsehung überwunden ...“

Die „Tragödie des Menschen“ ist nicht nur, neben Josef Katonas historischer Tragödie „Bank Bän" (1814) und dem dramatischen Märchen „Csongos und Tünde“ (1831) von Mihaly Vörösmarty, das dritte Werk, das zum ewigen Besitz des ungarischen Volkes gehören wird, sondern verdient auch, neben Dantes „Göttlicher Komödie“, Miltons „Verlorenem Paradies“, Goethes „Faust“, Byrons „Kain“, Ibsens „Peer Gynt“, R. Wagners „Ring des Nibelungen“, in der Reihe der großen Menschheitsdichtungen genannt zu werden. In seinem Wiener Radiovortrag .Gesprochene Schaüspielkrit’ik“ vom 11. Februar 1934 nennt Ernst Lothar das Werk „eine Gedankendichtung von mitunter geradezu seherischer Erkenntnis und . .. erstaunlicher Modernität... ein bleibendes Werk der Weltliteratur, dem das außerordentliche Wagnis glückt, eine historisch-mystische Menschendeutung zu gestalten“.

Das Manuskript der „Tragödie des Menschen" führt auf dem Titelblatt den Vermerk: Begonnen am 17. Februar 1859, vollendet am 30. März 1860, und es bleibt unfaßbar, wie Madäch dieses Werk in so kurzer Zeit zu Ende führen konnte. Heber diese 13 Monate wissen wir so gut wie gar nichts. Einsamkeit war um ihn, und niemand ahnte, daß der Dichter in seinem abgelegenen Zimmer mit so gewaltigen Ideen rang.

Im Jänner 1862 erschien Madächs Dichtung im Buchhandel. Sie fand in Ungarn sofort lebhaften Widerhall, die erste Auflage war in einem Jahr vergriffen. Aber erst am 21. September 1883, 23 Jahre nach der Vollendung, erlebte Madächs

Menschheitsdrama durch den damaligen Direktor des ungarischen Nationaltheaters Ede Paulay seine festliche Uraufführung in Budapest. Sie löste in der Heimat des Dichters eine Begeisterung, ohnegleichen aus. Imre Madäch wurde als der Dichter des Volkes gefeiert, er durfte noch Ehrungen und Auszeichnungen, wie die Ernennung zum korrespondierenden Mitglied der Akademie der Wissenschaften erleben. Aber es scheint, als ob der Dichter in seinem dramatischen Weltgedicht seine. Sendung erfüllt habe. Seine Kräfte waren aufgezehrt, sein Herz wollte nicht mehr. In der Nacht zum 5. Oktober 1864 schloß Imre Madäch in der Einsamkeit von Also- Sztregova seine Augen für immer ...

Sein Werk aber lebt weiter. Am 12. Mai 1894 fand am Nationaltheater in Budapest die 100., am 19. Jänner 1934 die 500. Aufführung statt. Die ungarischen Aufführungen der „Tragödie“ sind unübersehbar. Es gibt wohl keine ungarische Stadt, die die „Tragödie des Menschen“ noch nicht auf ihrer Bühne sah. Besonders überwältigend soll die Wirkung des Werkes bei den Freilichtaufführungen auf dem Domplatz zu Szeged, deren erste im August 1933 stattfand, gewesen sein. In Deutschland war es das Stadttheater in Hamburg, das schon neun Jahre nach der Uraufführung in Budapest, im Februar 1892, die

„Tragödie“ in der Uebersetzung von Ludwig Doczi aufführte, eine Inszenierung, mit der dieses Theater gelegentlich der Wiener Theaterausstellung vom 18. Juni bis zum 3. Juli 1892 im Wiener Ausstellungstheater mit großem Erfolg gastierte. Dann folgten Prag, Berlin, Agram, Preßburg und viele andere Bühnen.

Auch der Rundfunk bemächtigte sich dieses Werkes: Zuerst brachte das Budapester Radio eine Uebertragung der „Tragödie“, dann erfolgte die erste ausländische Radioaufführung am 6. April 1930 in Wien in der Rundfunkbearbeitung einer Uebersetzung von Jenö Mohäcsi durch Hans Nüchtern, der auch die Regie führte und bedeutende Schauspieler, Raoul Aslan als Adam, Leopoldine Konstantin als Eva, Franz Herterich als Luzifer, vor das Mikrophon stellte. „Die grandiosen Gesichte des Dichters“, sagt Geza Voinqyich in seinem Buch übet;„ Madäch, „fluteten aus den Wortklängen in der Hörer Phantasie auf unbegrenztester, unermeßlichster Bühne empor und machten erschauern vom Ahnen der Unendlichkeit.“

Doch den Aufbruch zur Weltbühnengeltung bezeichnet erst die Aufführung des Werkes am Wiener Burgtheater unter Hermann Röbbeling. Die Uebersetzung stammte von Jenö Mohäcsi, die Bühnenbilder von Willi Bahner, die Begleitmusik von Fran Salmhofer. Paul Hartmann (später Heinz Woester) spielte den Adam, Maria Eis die Eva, Otto Treßler den Luzifer. Ein großer Erfolg lohnte die Tat; Hamburg, Rom, Bukarest, Stockholm, Frankfurt folgten dem Wiener Beispiel, eine wahre Madäch-Renaissance setzte ein.

Seither ist es freilich wieder stiller um Madäch geworden. Vielleicht bringt das Jahr 1964, in dem der Todestag des großen Ungarn sich zum hundertsten Male jährt, wieder neue Inszenierungen im Geiste unserer Zeit, die ja die „Tragödie des Menschen" unmittelbar erleben mußte.

Schon Felix Salten wies gelegentlich der Burgtheaterpremiere 1934 in der „Neuen Freien Presse“ auf die „Aktualität von Madächs Dichtung hin: Das Werk von Madäch dringt uns jetzt in Sinn und Seele. Wir Heutigen sind während der letzten zwanzig Jahre ein großes Stück des Weges gegangen, den Madäch seinen Adam durchschreiten läßt. Ein größeres, ein mit den Trümmern erschütternder Geschehnisse verwirrend bedecktes Stück Weges als hundert Generationen vor uns. Wir schleppten uns durch das europäische Chaos, haben den Sturz alter Dynastien, den Niederbruch mächtiger Reiche gesehen, beben vor der nächsten Zukunft, die vielleicht wirklich den Untergang des Abendlandes heranwälzt. Wir erleben, wir erleiden die Tragödie des Menschen und verehren eben deshalb mit leidengeschärftem Begreifen den Gedankenflug eines Dichters, der die Tragödie in so ungeheuer weitem Bogen und so prophetisch umfassen konnte.“

Es ist eigentlich erstaunlich, daß der Film diese Dichtung nocl . nicht entdeckt hat. Bei der unendlichen Fülle an Gedanken und dichterischen Visionen, die sie enthält, und den Möglichkeiten, die der Film bietet, müßte ein kongenialer Regisseur ein Kunstwerk daraus gestalten können, das des großen Vorbildes würdig wäre.

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