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Wiener Welttheater

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Direktor Raoul Ä s 1 a n hat nicht allein das große Verdienst, die Leitung des Burgtheaters in dessen schwerster Stunde übernommen zu haben; wenn nicht alle Zeichen trügen, wird es dem großen Künstler auch gelingen, der ersten Bühne des deutschen Sprachgebietes und der vornehmsten Schwester der Comedie fran-9 a i s e einen Spielplan zu geben, der sie als das zeigen wird, was sie nach den Anschauungen des größten Direktors, den das Burgtheater bisher gehabt hat, Heinrich Laubes, sein soll: die Pflegestätte der dramatischen Weltliteratur, deren Aufgabe eine abendländische, alle nationalen Grenzen sprengende ist. In den stürmischen Monaten des Jahres 1945 schien es, als ob das Burgtheater ziellos hin- und herschwankte. Wir glaubten damals warnen zu müssen und wiesen auf die Notwendigkeit hin, vor allem das klassische Drama zu pflegen, da sich nur auf dieser Grundlage die alte ehrwürdige Tradition werde bewahren lassen. Direktor Aslan hat inzwischen erkennen lassen, daß er gewillt ist, das Burgtheater als Bühne der Weltliteratur im Sinne Goethes zu erhalten.

Nach dem Lessingschen „Nathan'' — auf dessen weltanschauliche Problematik wir in unserem Blatte hingewiesen haben — hat das Burgtheater nunmehr Schillers erschütterndes Drama „K abale und Lieb e“, herausgebracht, in einem gedämpft-expressionistischen Stil, der vielleicht nicht ganz befriedigt, nicht völlig dem entspricht, was man sich unter „Burgtheater“ vorstellt, der aber erkennen läßt, daß man in der „Burg“ aus der Not eine Tugend zu machen versteht und bemüht ist, ursprüngliches Theater zu geben. Die leidenschaftliche Glut, die im „Don Carlos“ zum erstenmal in klassische Form gegossen wird, sie lodert in „Kabale und Liebe“ noch in aller Ursprünglichkeit und doch nicht mehr ungehemmt wie in den „Räubern“; mag auch manchmal das Pathos übertrieben sein, „Kabale und Liebe“ ist das genialste Jugendwerk unserer großen dramatischen Literatur — und neben Lessings „Emilia Galotti“ das revolutionärste Werk der deutschen Bewegung, das die tiefen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ahnen läßt, die sich im deutschen Kosmos des ausgehenden 18. Jahrhunderts abspielten, wenn sie auch nicht zu einer gesellschaftssprengenden Revolution entarteten.

Das Burgtheater plant unter anderem auch, Lope de Vegas Meisterwerk „D as brennende Dorf“ in seinen Spielplan aufzunehmen. Seit Grillparzer wissen wir, daß Lope de Vega vielleicht der ursprünglichste Dramatiker der Weltliteratur ist, aber sein Werk zeigt nicht die formale Vollendung der Dramen Calderons. Viele seiner Komödien sind flüchtig gearbeitet. Aber in allen ist der schöpferische Funke zu spüren und einzig in seiner Art ist wohl das Schauspiel „Das brennende Dorf“, vielleicht das erste Drama in der abendländischen Literatur, in dem der Held ein Kollektivum, eine Gemeinschaft ist. Ein Dorf, das unter der Willkür des Feudaladels zu leiden hat, erhebt sich wie ein Mann für sein geschändetes Recht und findet auch schließlich Gerechtigkeit — beim Königtum.

Noch im Februar soll Gribojedows „Verstand schafft Leiden“ seine Erstaufführung erleben. Das Burgtheater beabsichtigt daneben auch Ostrowskijs Komödie „Der Wald“ seinem Spielplan einzufügen. Es gibt ein geistiges Russland von zeitloser Gültigkeit, das keinem Abendländer fremd sein sollte. Zu den Vertretern dieses Russland gehören auch Gribojedow und Ostrowskij.

Im Redoutensaal wird dem „Eingebildeten Kranken“ der „Tartüff“ folgen, im Akademietheater werden Ibsens „Gespenster“, Strindbergs „Rausch“ und Claudels „Verkündigung“ neu einstudiert.

So hofft das Burgtheater, auf drei Bühnen spielend, über die ungeheuren Schwierigkeiten hinwegzukommen, die ihm daraus erwachsen, daß ihm im Ronachergebäude nur eine Bühne zur Verfügung steht, die technisch in mancher Hinsicht geradezu als primitiv anzusprechen ist. Improvisation und bewußte Planung sind die Pole, zwischen denen unsere vornehmste Bühne ihren Weg suchen und finden muß.

Das große geistige Theaterereignis der letzten Wochen ist die Aufführung von Claudels „Bürg e n“ in der „Insel“. Die Diskussionen um diese Tragödie begannen bereits in der Pause während der Premiere, ein Zeichen der unerhörten Aktualität dieses Dramas, das in Paris unmittelbar vor 3em Beginn des ersten Weltkrieges seine Uraufführung erlebte, und das heute vielleicht mehr denn je den Leser und noch mehr den Zuschauer aufwühlt und dazu zwingt, Kammern der Seele zu öffnen, die sonst verschlossen bleiben. Claudels „Bürge“ ist eine Tragödie des Opfers. Sie spielt in den Jahren, da sich der Stern Napoleons dem Untergang zuneigte und der Korse versuchte, den Bürgen Gottes auf dieser Erde, den Papst, für die Zwecke seines Imperialismus zu mißbrauchen und zu vergewaltigen. Die Aristokratin und Katholikin Sygne de Coufontaine zahlt mit ihrem Glück, nein, mehr, mit ihrem Sein, um den Papst zu retten. Sie opfert für den Heiligen Vater ihre Familienehre, um die Welt vor den unabsehbaren Folgen zu bewahren, die eine Gefangensetzung des Papstes zeitigen könnte. Aber dies ist nur die eine große geschichtliche Perspektive, die im „Bürgen“ aufscheint. Das Drama ist im tiefsten die Tragödie der französischen Aristokratie, des französischen Royalismus, der seit dem verhängnisvollen Datum von 1789 immer wieder sich opfern, sich selbst aufgeben muß, der immer von neuem den Weg der Demütigung beschreiten muß, und dessen Traditionen doch das Edelste Frankreichs darstellen. Diese Tragödie des royalistischen Adels ist es vor allem, die in der Aufführung der „Insel“ sichtbar wird. Die grandiose Gestaltung der Rolle der Sygne de Confontaine durch Frau E p p läßt den „Bürgen“ zu der symbolischen Tragödie der alten französischen Herrenschichte werden, die ebenso an der Revolution zerbricht, wie Sygne an der Ehe mit dem Revolutionär Turelure (den Herr Zechell wuchtig und großlinig darstellt). Unbarmherzig werden die leidenden Menschen zerrieben, wenn die objektiven Mächte zusammenstoßen. Claudel läßt uns in seinem „Bürgen“ in die Abgründe blicken, die jede Revolution aufreißt.

Die „Insel“ will als nächstes klassisches Stück Lessings „Emilia Galotti“ herausbringen. Man darf nach dem gelungenen Versuch mit dem schwierigen „Bürgen“ zuversichtlich dieser Aufführung entgegensehen. Aber eine leichte Aufgabe stellt die „Emilia Galotti“ nicht, weder den Schauspielern, noch der Regie.

Das Volkstheater hat Ben Jonsons, des Zeitgenossen Shakespeares, „lieblose“ Komödie „Volpone“ — unter dem Titel „Alles um Geld“ und in der Bearbeitung von Stefan Zweig — in einer ausgesprochen guten Aufführung Herausgebracht, 3ie he-merkenswerte Ansätze zu einer ausgewogenen Ensemblekunst zeigte und auch vom literarischen Standpunkt aus zu begrüßen ist. Vor bald zwei Jahrzehnten wurde diese bittere und derbe Komödie von der hemmungslosen Gier der Menschen nach Geld im Burgtheater gegeben, mit Aslan in der Rolle des Schmarotzers Mosca. Die Aufführung des Volkstheaters entrollt kein so farbenprächtiges Bild vom alten Venedig wie die damalige Aufführung in der „Burg“. Aber vielleicht trifft sie echter den typischen Charakter der Kunst Ben Jonsons. Vor allem Fritz Schmiedel als Mosca gab der Aufführung Schwung, einen Ton der Unbekümmertheit. Unwillkürlich weda der „Volpone“ Gedanken, ob nicht das altenglische Drama eine Wiederbelebung verdienen würde. Es soll damit nicht einem plan- und geistlosen Zurückgreifen auf alte verstaubte Dramen das Wort gesprochen werden. Aber es gibt einige altenglische Tragödien und Komödien, die für die deutsche Bühne gewonnen werden müßten, so etwa Marlowes „Eduard II.“ oder Massingers Komödie „Eine neue Weise, alte Schulden zu zahlen“, Massingers Tragödien „Der Herzog von Mailand“ und „Der Römische Mime“ oder auch das gemeinsame Werk von Philipp Massinger und John Fletscher „Mynherr Jan van Olden Barneveld“ — wird sich ein Regisseur finden, der sich diese interessante Aufgabe stellen wird?

Hans Weigels tragische Revue „B a r a b-b a s oder der fünfzigste Geburtsag“ (Studio des Theaters in der Josefstadt) ist ein interessanter Versuch, der manches Problem stellt — aber keine Dichtung! Und dies ist entscheidend für die Beurteilung des Stückes und der Aufführung. Welch ein gewaltiges Thema ist hier angeschlagen — und nicht durchgeführt worden! Das Ausweichen vor der Entscheidung, die Flucht in das Nichtstun im ethischen Sinne, um sich in einer Welt, in der Gut und Böse miteinander ringen, gleichsam neben dem Kampffeld wohnlich einzurichten, die bürgerliche Feigheit und Lauheit, wenn es gilt, Gutes zu tun, all dies klingt an, aber die Motive ergeben keinen Gesamteindruck, diese manchmal erstaunlich tiefgehende bürgerliche Selbstkritik wird nicht zur Tragödie eines innerlich brüchigen Menschen, wie sie uns etwa bei Ibsen in der „Wildente“ oder im „Baumeister Solneß“ entgegentritt. Und diese tragische Revue ist auch viel zu schnoddrig, um aus dem Naiven heraus eine Weltsicht zu geben. Wie hätte doch zum Beispiel das Motiv der Bindung an die Mutter einen Dichter Abgründe aufzeigen lassen. Auch ein bedeutender Darsteller wie Wilhelm Heim vermag den Grundfehler dieser Revue, keine Dichtung zu sein, nicht zu beheben.

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