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Wien wird eine Theaterstadt!

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Vor sechzig Jahren erscholl in Wien der Ruf: Wien war eine Theaterstadt! Damals war Wien, bei allen Schattenseiten des sozialen Lebens, die blühende Residenz einer gebietenden Großmacht, bewohnt von einem reichen Hochadel und einem kultivierten Großbürgertum. Und trotzdem hatte in den achtziger Jahren eine schwere innere Krise das Wiener Theater ergriffen. Vielleicht waren die Maßstäbe, die man anzulegen pflegte, ungewöhnlich hoch, sicherlich waren die Jahre vor dem Aufkommen des Naturalismus eine Zeit der literarischen Stagnation, eine dramatisch unschöpferische Zeit. Wien überwand aber diese schleichende Theaterkrise, und um die Jahrhundertwende kam mit der letzten Epoche Altösterreichs auch die letzte Hochblüte des Wiener Theaterlebens.

In unseren Tagen, da fast alle Straßen unserer Heimatstadt noch die Spuren eines schrecklichen Krieges zeigen und das Gespenst der totalen Verarmung' vor uns steht, wäre man geneigt, manchmal in den alten Ruf auszubrechen, daß Wien eine Theatef-stadt war. Aber seltsam, die grenzenlose Not, die dem Wiener heute an allen Ecken entgegengrinst, scheint den Theaterwillen Wiens, wenn man so sagen darf, nicht gebrochen zu haben, im Gegenteil, die Notwendigkeit zu improvisieren scheint Kräfte freigemacht zu haben, die bisher schlummerten.

Berühren wir gleich das Problem, das uns als Wienern am meisten am Herzen liegt: die Zukunft des B u r g t h e a t e r s. Als bekannt wurde^ daß das Burgtheater der Kriegsfurie zum Opfer gefallen, hat es wohl Zehntausende gegeben, in deren Innerem etwas starb. Sentimentalität können wir nicht brauchen. Aber den namenlosen Schmerz über den Brand des Bufgtheaters können wir verstehen, auch wir haben ihn gefühlt. Nun, das Haus am Ring wird jahrelang nicht benützt werden können, aber das Burgtheater selbst, das Ensemble ist uns erhalten geblieben. Eine der repräsentativsten Gestalten des heutigen Wien, Raoul Aslan, hat die Führung des Burgtheaters in dessen schwerster Stunde übernommen — und so viel kann heute schon gesagt werden, daß es gelungen ist, das Ensemble als künstlerische Einheif zu erhalten, und es ist sogar gelungen, eine Reihe beachtenswerter Neuaufführungen herauszubringen, die zumindest erkennen lassen, daß die Tradition wird erhalten werden können. Und die Tradition ist gerade beim Burgtheater alles, Was das Bürgtheater wirklich zu leisten vermag, dies wird sich zeigen, wenn Claudels „Seidener Schuh“ über die Bretter gehen wird — denn darüber müssen wir uns klar sein: so wundervoll eine Lustspielaufführung auch sein mag, die Aufgabe des Burgtheaters ist die Pflege der Weltliteratur, der Tragödie und der Komödie. Wir sind die letzten, die für die großen Schwierigkeiten der unmittelbaren Gegenwart kein Verständnis haben, aber Shakespeare, Schiller und Grillparzer, mit einem Wort die Klassik muß in der Burg gepflegt werden, darin liegt die Aufgabe der. edelsten Bühne unserer Stadt. Vielleicht' könnte das Akademietheater mehr als bisher als eine Hauptbühne im literarischen Sinne geführt werden, jedenfalls umfängt den Besucher in der Lothringerstraße eine vornehmere Atmosphäre als im Ronacher.

Das literarische Theater wird heute in Wien vor allem in der Josefstadt und in der „I n s e 1“ gepflegt. „Der Schwierige“ darf wohl als das österreichische Ereignis des Theaterjahres 1945 angesprochen werden Das Theater in der Josefstadt hat seinen alten Rang bewahren können. Zu den größten Hoffnungen aber berechtigt die Insel, die mit einem vorbildlichen Mut und mit einem ungewöhnlichen Empfinden für die Imponderabilien des Wiener Theaterlebens die Spielzeit begonnen hat und die tatsächlich berufen erscheint, den übernationalen Traditionen Wiens entsprechend Welttheater zu geben. Auch die Kammerspiele entwickeln sich zu einem literarisch eingestellten Theater von beachtenswertem Niveau.

Interessant ist die Entwicklung des Volkstheaters seit den Apriltagen. Dieses ursprünglich typische Mittelstandstheater Wiens sollte so , etwas wie das politische Theater Wiens werden, aber diese Kinderkrankheiten dürften bereits überwunden sein, zumindest darf Lunatscharskis „Don Quichote“ als ein ernster künstlerischer Versuch gewertet werden, der auf das Tendenziöse, das noch im „Fall Haben“ so unangenehm sich bemerkbar gemacht hat, verzichtet. Im übrigen wäre dem Volkstheater zu raten, nicht ganz die Pflege der klassischen Dramatik zu vernachlässigen. Grillparzers „Medea“ zum Beispiel darf nicht allein als eine Aufführung für die Jugend im Spielplan geführt werden.

Ein Wort noch zur notwendigen Erweiterung des Spielplanes, die durch die Zeitumstände gegeben erscheint. Das russische und das amerikanische Drama werden in den kommenden Jahren eine besondere Berücksichtigung verdienen. Aber es wird darauf ankommen, tätsächlich nur das große, bedeutende Drama der beiden Nationen zu pflegen, einen O'Neill etwa, der bisher dem österreichischen Publikum sehr wenig bekannt ist. Deshalb ist es besonders zu begrüßen, daß im Jänner schon im Burgtheater das Drama „Trauer muß E^ktra tragen“ des großen Amerikaners wieder in den Spielplan aufgenommen werden soll.

Gesamtergebnis 1945: Das Wiener Theater lebt. Es wird die kommenden schweren Krisen überdauern, wenn es sich die Kunst des Improvisierens und den Willen zum Leben bewahrt. Aber geben wir uns keinen Täuschungen hin, es können schwere Zeiten kommen. Dr. E. M.

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