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Ist das Publikum durchgefallen?

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Nach vielen Jahren einer erfreulichen Theaterentwicklung A ~ mehren sich plötzlich in Hamburg zur Mitte der Spielzeit Stimmen der Kritik. Dabei hat sich nichts ereignet, was als Grund für die Auslösung dieser Vorwürfe angesehen werden könnte. Die Spielpläne der wichtigsten Bühnen sahen für die Spielzeit 1961/62 in ihrer Grundstruktur nicht anders aus als in den Vorjahren. Es wurde eine bunte Mischung von Klassikern und Modernen, von heiteren und ernsten Stücken programmiert, und beim Ensemble der einzelnen Häuser gab es kaum einen nennenswerten Wechsel. Trotzdem war man plötzlich darüber in Zweifel geraten, ob Hamburg wirklich das Recht hat, von sich zu behaupten, die beste deutschsprachige Bühne zu besitzen. In den lokalen Zeitungen und in öffentlichen Diskussionen wurde das Thema debattiert, ohne daß man zu einer wirklichen Klärung der Situation kam. Immerhin kann die erfreuliche Feststellung gemacht werden, daß jetzt bedeutend mehr über das Theater gesprochen wird und eine breite Schicht der Bevölkerung sich mit dem Thema zu beschäftigen beginnt.

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Die Zweifel und Stimmen der Kritik kamen merkwürdigerweise nicht aus dem Publikum, das in irgendeiner Form seinem Mißmut Luft machen wollte, sondern nur von einigen wenigen Persönlichkeiten, die damit ein Thema offen ansprachen, das gewissermaßen schon in der Luft lag. Vielleicht ist es ein ganz allgemeines Thema, was nämlich letztlich darnach fragt, wo das Theater heute, in der Zeit des Fernsehens und anderer Massenmedien, steht. Das Auffälligste an der Diskussion ist nämlich die Feststellung, daß sich mehr Vorwürfe vom Theater her gegen das Publikum als umgekehrt vom Publikum gegen das Theater richten. Es ist nicht das Theater, das sich geändert hat, sondern die Menschen, die es besuchen. Das Parkett eines jeden größeren Hauses in jeder deutschen Stadt ist ja identisch mit dem Kreis von Menschen, der sich darüber beklagt, keine Zeit mehr zu haben. Man erledigt nur noch die Dinge, man will sich mit ihnen nicht in Muße geistig auseinandersetzen. Die ständig steigenden Zahlen der Bücherumsätze beweisen auch nicht das Gegenteil, da mit dem Erwerb des Lesestoffes sich nur der Wunsch nach einer beschaulichen geistigen Tätigkeit manifestiert und zum Teil das schlechte Gewissen gegenüber der geistigen Seite des Lebens abreagiert wird. In Wirklichkeit findet man nicht die Kraft, diesen Stoff zu bewältigen, und läßt sich lieber vom Fernsehen berieseln, wo selbst die beste Theateraufführung in ihrer psychischen Wirkung dem Film entspricht. Mit dieser Wirklichkeit haben wir uns heute abzufinden, und die Theaterdirektoren werden sich in den nächsten Jahren darauf einzustellen haben.

In Hamburg kommt zu dieser Grundfeststellung noch eine lokale Besonderheit: Es fehlt hier an dem für eine Zweimillionenstadt angemessenen Theaterpublikum. Die Oper, mit ihrer sehr viel älteren Tradition, hat ihren festen Freundeskreis und ist anders mit der Bevölkerung verwurzelt als die Sprechbühnen. Wenn die beiden größten Häuser, das Deutsche Schauspielhaus und das Thalia-Theater, fast immer ausverkauft sind, so läßt dies doch keine exakten Rückschlüsse auf die geistige Haltung des Publikums zu. Für eine gewisse Schicht der Bevölkerung gehört der regelmäßige Besuch dieser Bühnen einfach zum guten Ton, gewissermaßen als Beweis dafür, daß man neben der kommerziellen Alltagsbeschäftigung auch noch geistige Interessen hat. Wie aber schon eingangs gesagt, reicht die Kapazität nicht mehr aus, um sich mit Problemen zu beschäftigen, sondern man will angenehm unterhalten werden. Einem Teil dieser Besucher wären die beiden plattdeutschen Bühnen der Hansestadt mit ihren mit handfestem Humor gewürzten Volksschwänken im Grunde besser angemessen als ein Durrell oder ein Anouilh. Doch hier weisen ungeschriebene Standesgesetze, wohin man zu gehen hat. Der Kassenerfolg bleibt daher für die beiden großen Sprechbühnen gesichert.

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Die ganze Problematik der geistigen Situation wirkt sich erst in vollem Maße auf die vier privaten, kleineren Bühnen aus. Hinzu kommt die Tatsache, daß das Schauspielhaus in der laufenden Spielzeit eine Subvention von 1,8 Millionen, das Thalia-Theater von einer Million erhält, während auf die vier privaten Bühnen insgesamt nur eine Forderungssumme von 150.000 D-Mark entfällt. Interessant sind übrigens in diesem Zusammenhang Vergleichszahlen aus anderen Städten: das Schiller-Theater Berlin erhält 3,6 Millionen, das Bayrische Schauspielhaus München 2,7 Millionen und das Schloßpark-Theater in Berlin 1,4 Millionen D-Mark. Für die kleinen Ham-

burger Bühnen ergibt sich also die nüchterne Forderung, die Stücke so auszuwählen, daß sie auch zu einem Kassenerfolg werden. Trotzdem ist es hoch anzuerkennen, daß diese Häuser immer wieder den Versuch riskieren, auch ausgesprochen schwierige Problemstücke anzubieten. Um diesen Fragenkomplex kreist im wesentlichen übrigens die Kritik. Man vermißt in Hamburg das Wagnis, die Bereitschaft, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, über die es bisher noch kein gültiges Urteil gibt. Im Grunde genommen ist dies aber eigentlich nicht verwunderlich, denn in einer Handelsstadt, in der jeder Kaufmann versucht, seine Risiken abzusichern, überträgt sich diese Mentalität auch auf den kulturellen Teil des Lebens. Hamburg ist zum Beispiel auch nicht der Ort, wo junge talentierte Maler entdeckt werden. Hier zählen Referenzen und arrivierte Namen. Eine Einschränkung in bezug auf die Kassenerfolge müssen wir allerdings insofern machen, als grundsätzlich auch solche Stücke gehen, die einen erheblichen Schuß Erotik aufweisen. Kino und Fernsehen sind hier im Hinblick auf die öffentliche Kritik im Nachteil, und nur das Theater kann es sich leisten, gewisse Dinge offen auszusprechen.

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Da auch in der Literatur praktisch sämtliche Tabus gefallen sind, braucht ein moderner Bühnenautor auf einen verkaufswirksamen Sex nicht zu verzichten. Es ist sicher kein Idealzustand, wenn in zunehmendem Maße pikante Schlafzinimer-szenen oder psychotherapeutische Seelenbaggerung auf die Bühne gebracht werden. Aber wir haben jedenfalls diese Tatsache festzustellen, genauso wie den Umstand, daß derartige Stücke ein ausverkauftes Haus schaffen. Es ist zwar traurig, daß die kleinen Privattheater bei der Aufstellung des Spielplans genauso wie auf die Kasse auf das Stück sehen müssen, doch kann man auch in einem Stück, das aus diesem Kompromiß heraus angenommen wurde, seine schauspielerischen Fähigkeiten beweisen. Mit Befriedigung kann man dabei in Hamburg feststellen, daß bei den rund 40 Neuinszenierungen, die in der ersten Hälfte dieser Spielzeit auf sieben Bühnen, die wir nachstehend näher behandeln, geboten wurden, keine Qualitätsrückgänge zu beobachten waren. Viele Stücke, von denen man woanders spricht, hätte man zwar gern hier gesehen, doch von dem, was geboten war, hätte man . auch nur auf weniges verzichten wollen.

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Das Deutsche Schauspielhaus, in dem Gustaf Gründgens stets mit souveräner Sicherheit dafür sorgt, daß selbst nebensächliche Rollen hervorragend besetzt sind, bescherte in den wenigen Monaten bereits drei Uraufführungen. Für das Publikum gab es wohl in allen drei Fällen etwas zuviel Problematik, die sich zum Teil im Raum der bekannten unbewältigten Vergangenheit bewegte. Der in Hamburg lebende Erzähler Siegfried Lenz wurde mit seinem Stück „Zeit der Schuldlosen“ als ungewöhnlicher und hoffnungsvoller Dramatiker entdeckt. Die Frage der Unschuld am Geschehen in einer Diktatur war mit großer Logik und dramatischer Spannung von ihm behandelt. Allerdings bewegt sich Lenz in seinem Drama noch auf dem Grad zwischen Hörspiel und Theater. — Die letzte Beherrschung des Bühnenstils fehlte auch bei Lawrence Durrells „Actis“. Hier hatte, was durch einen veröffentlichten Briefwechsel auch nicht verschwiegen wurde, Gründgens selber korrigierend eingegriffen und damit diesem in Neros Zeiten handelnden Schauspiel einige effektvolle Verbesserungen gegeben. Die Skythenfürstin Actis, die ihr Volk vergebens vor den Gewalttaten Neros schützen möchte, wurde von Joana Maria Gorvin großartig dargestellt. — Bei der dritten Uraufführung handelte es sich um die Tragikomödie von Richard Hey, „Weh dem, der nicht lügt“. Ein recht schmissig angelegtes Stück der Wirtschaftswundergegenwart, in dem ein inzwischen gealterter Kriegsheld von 1918 (Werner Hinz) von der rauhen Wirklichkeit unserer Tage überrollt und vernichtet wird. Leider verfügt der Autor hierbei nicht über die exakte Logik eines Lenz, und man fragt sich am Schluß vergebens nach dem Fazit. — Ein Calderon („Richter von Zalamea“), ein Tirso de Molina („Don Gil von den grünen Hosen“) und ein Gerhart Hauptmann („Michael Kramer“) gehörten zu weiteren Neuinszenierungen. Die überragende klassische Aufführung der Spielzeit war „Das Käthchen von Heilbronn“, bei dem Ulrich Erfurth Regie führte. Diese Aufführung gehörte zu dem Maßstab, der den Stolz der Hamburger auf ihr Theater rechtfertigt.

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Die privaten Theater der Hansestadt befinden sich bei ihrer Stückwahl immer am Rande des wirtschaftlichen Ruins. Ein Mißgriff kann während einer Spielzeit kaum kompensiert werden, und letztlich wäre ihre Existenz ohne die Volksbühne sowieso

kaum denkbar. Mit einem ausreichenden Schuß Erotik läßt sich allerdings die Bilanz noch in der Waage halten. Geeignete Vorlagen lassen sich sogar bei alten Klassikern finden. Der Machia-velli „Mandragola“, mit dem die Hamburger Kammerspiele die Spielzeit eröffneten, war im Dialog stark auf das moderne Theater zugeschnitten worden.

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Eine bemerkenswerte Erfolgsserie wies in dieser Spielzeit das „Theater im Zimmer“ auf. Die brillante „Kammerzofe“ von Carlo Goldoni sprühte voll Temperament und begeisterte die Zuschauer. Sehr verdienstvoll war die Inszenierung von Harold Pinters „Hausmeister“, der hohe Anforderungen an sein Publikum stellt. Gerda Gmelin, der Leiterin dieses Hauses, ist es hoch anzuerkennen, daß sie das Wagnis einging, und zu der gebotenen Leistung konnte man sie nur beglückwünschen. Dafür entschädigte sie wieder finanziell das Sagan-Stück „Ein Schloß in Schweden“ und der darauf folgende „Bittere Honig“ der neunzehnjährigen englischen Fabrikarbeiterin Shelagh Delaney. Beide Autorinnen schildern das Leben mit unbefangener Realistik und wissen mit den Möglichkeiten des Theaters brillant umzugehen. Der sehr viel hintergründigere Audiberti fand darnach mit seiner „Ameiss im Fleische“ vielverdienten Beifall, der hierbei weitgehend dem Spiel von Gerda Gmelin zugeschrieben werden muß, die eine streitbare Stiftsdame von 1675 verkörperte.

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Im Jungen Theater erlebte die „Herberge“ von Fritz Hochwälder ihre Hamburger Erstaufführung. Dieses Theater, das gerade sein zehnjähriges Bestehen feiern konnte, geht unter Leitung von Friedrich Schütter geradewegs auf die sich bietenden Probleme los. Immerhin gönnte man sich zur Jubiläumsfeier eine klassische Komödie und spielte den „Eingebildeten Kranken“ von Moliere. Gleich darnach griff Schütter wieder in die Problematik des Alltags: In der deutschen Erstaufführung „So viele Kinder“ von Gerald Savory setzte er sich mit der Wiedereingliederung ehemaliger Strafgefangener in das bürgerliche Leben auseinander. In „Sodom und Gomorrha“ (Jean Giraudoux) behandelte er das Mysterium der Ehe, und schließlich gab er auch dem ehemals prominenten HJ-Dichter Hans Baumann Gelegenheit, zu zeigen, ob seine Generation mit dem fertiggeworden ist, was sie einstmals im Dritten Reich als unumstößlich höchstes Ideal ansah. Die Uraufführung des Schauspiels „Im Zeichen der Fische“ ließ hieran Zweifel entstehen. Hans Baumann entpuppte sich zwar als begabter Theaterautor (aus Versehen hätte er fast 1959 den Gerhart-Hauptmann-Preis erhalten, das heißt, er erhielt ihn nicht, nachdem die Jury über sein Pseudonym und seine Vergangenheit aufgeklärt wurde), doch die römischen Offiziere, die auf der Bühne erscheinen, als Märtyrer sterben oder selber zum Gift greifen, sind nicht weit über den Schatten des Hitler-Jungen Quex hinausgesprungen. Die Gefühlsergüsse reichen gerade zu einer Entlastung, doch nicht zum mutigen Bekenntnis zu einer Wirklichkeit, die keine Braunschattierung mehr enthält.

Das gewagte und problematische Schauspiel wird gleichfalls mit großem Mut vom „theater 53“ angepackt. Auf kleiner Bühne, mit wenig Mitteln und einer geringen Zahl von Zuschauerplätzen, hat sich dieses Haus unter Leitung von Karl-Ulrich Meves einen Freundeskreis geschaffen, den es nicht enttäuscht. Hier wurden zuerst Ionesco, Tardieu und Genet gezeigt. Hier sind Stücke inszeniert worden, an die sich Griindgens hätte heranwagen sollen, denen er jedoch bisher auswich. In dieser Spielzeit brachte Meves den „Proteus“ von Paul Claudel, Ernst Tollers „Entfesselter Wotan“, „Sie und Er“ (Georges Feydeau) und zuletzt das Erstlingswerk von Martin Walser, „Der Abstecher“. In allen Fällen wurde der teilweise schwere Stoff ausgezeichnet bewältigt. Schade, daß Hamburg und sein Publikum einem so mutigen Theaterleiter keine größeren Chancen bieten kann.

Die Reihe der Hamburger Bühnen ist hiermit nicht erschöpft. Zwei plattdeutsche Bühnen, Gastspielhäuser, das Operettenhaus und schließlich Ahrweilers Kleine Komödie geben ein großes Feld der Auswahl. Für ganz eilige Geschäftsreisende bietet übrigens Ahrweilers Theater den Vorzug, daß man während einer angenehmen schauspielerischen Unterhaltung zu Abend essen und nach der Vorstellung in demselben Raum tanzen kann. Was will man noch mehr?

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