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Theaterkrise auf jugoslawisch

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Vor zwanzig Jahren wurde an der Donau, in der jungen vojvodinischen Hauptstadt Novi Sad, vis-ä-vis der mächtiigen theresianischen Festung Peterwardein, zum 150. Geburtstag des serbischen Komödiendichters Sterija Popovic — seine Stücke vermischen die Second-Empire-Komö-die Labiches mit dem serbischen Volksstüok — der Theaterverein Sterijino Pozorje gegründet. Er veranstaltet, neben anderen Aktivitäten, alljährlich das jugoslawische Theaterfestival, zum Unterschied zum Belgrader BTTEF eine nationale Angelegenheit, wo die besten, von unabhängigen Julien in den einzelnen Teilrepubliken ausgewählten Aufführungen des Landes gezeigt und

prämiiert werden. Seit 1973 treffen hier auch alle drei Jahre Theaterkritiker, Autoren und Wissenschaftler zu einem internationalen Kongreß über aktuelle Theaterfragen zusammen. Heuer wurde, Ende April, über „Theater und Publikum heute“ debattiert.

Die jugoslawischen Theaterspiele machten deutlich, daß die Krise auch hier kein wesentlich anderes Gesicht hat: eine nicht zu übersehende geistige Stagnation (westeuropäisches Pendant dazu: die „sozial-liberale Beruhigung“, wie Karlheinz Braun formulierte), kaum neue Texte, keine Spitzenregisseure. Krise auf jugoslawisch en detail: mittelmäßige Klassikeraufbereitung, Vorliebe für psychologischen Realismus in Verbindung mit gesteigerter Neigung zur Pantisanenthematik. Theater aus eine Form der geistigen Landesverteidigung. Selbst so renommierte Autoren wie Vasko Ivanovic oder Jure Francevic-Plocar können den Glorifizierungsklischees ihrer wenn auch noch so achtungsgebie-tenden Vergangenheit entgehen. Eigene Wege suchte nur das Slowenische Volkstheater aus Celje (Cilli) mit Dusan Jovanovics Krisenstück (es spielt auf die Situation: Konflikt alter und junger Schauspieler — im Laibacher Nationaltheater an) „Spielt den Tumor im Kopf und die Vergiftung der Luft“, aber Ljubisa Ristics Regieintentionen waren für das kleine Theater wohl um einige Schuhnummern zu groß: Regieintentionen von Patrice Chereau und Luca Ronconi Wangen an. Der Hauptpreis für die beste Aufführung ging diesmal an eine andere Provinzstadt, nämlich an das Nationaltheater von Sarnbor für die Komödie „Man heiratet“ von — Sterija Popovic. Das Atelje 212 der Mira Trailovic ging leer aus. Auf österreichische Verhältnisse übertragen: Klagenfurt würde mit Nestroy die Josefstadt ausstechen. Aber vielleicht wird es auch bei uns bald so weit sein? — Eine herbe Enttäuschung auch die sehr akademische Inszenierung der „Glembays“ von Miroslav Krleza (österreichischer Staatspreis für Europäische Literatur 1975) durah das berühmte Moskauer Wachtan-gow-Theater. Es soll jetzt jedes Jahr zur Förderung jugoslawischer Dramatik eine ausländische Inszenie-

rung eines jugoslawischen Stücks eingeladen werden.

„Wir leben in einer Situation“, schreibt Bert Brecht in seihen Forderungen an eine neue Kritik, wo etwas ästhetisch glänzend Geformtes falsch sein kann. „Das Schöne darf uns nicht mehr als wahr ersaheinen, da das Wahre nicht als schön empfunden wird. Man muß dem Schönen durchaus mißtrauen.“ Ein Motto des Kongresses der Theaterkritiker und Theatrologen (ein Lieblingswort in Osteuropa), dessen Verantwortliche von der AICT (der internationalen Kritikervereinigung) und von Sterijino Pozorje wohl nicht bedacht haben, wieviel Zündstoff das Thema „Theater und Publikum

heute“ für sie selbst und für das Selbstverständnis des Kritikers) überhaupt birgt. Motto Nummer zwei stammt von Rosa Luxemburg: „Die Kunst ist nicht ein Luxusmittel, in schönen Seelen die Gefühle der Schönheit, der Freude oder dergleichen auszulösen, sondern eine wichtige geschichtliche Form des gesellschaftlichen Verkehrs der Menschen untereinander.“ Die Frage nach einem anderen, neuen Theater an Stelle des schönen und wahren Kunsttemipels für ein anderes, nichtbürgerliches Publikum lag in der Luft. Vor allem, als der französische Mediziner und Philosoph Alain Wis-ner die nächtliche Metro beschrieb, wo sich zu den müden Schichtarbeitern aus den Renaultwerken recht muntere Theaterbesucher der Comedie Francaise gesellen, und daraus den durchaus logischen Schluß zog daß sich die Kulturverantwortlichen wohl etwas anderes würden einfallen lassen müssen, als Arbeitern billige Karten für die Staatstheater zu besorgen. Die Kulturpolitiker mögen doch einmal gründlich das Fabriktagebuoh der Simone Weil lesen. Die dort geschilderte permanente physische Müdigkeit läßt sich kaum mit ermüdender Kultur vertreiben.

Bald aber versank auch der Kongreß wieder in seine routinierte Müdigkeit und Friedlichkeit: unendlich viele Zahlen und Statistiken sollten offenbar die Lebendigkeit des Theaters dokumentieren. Der kapitalistische Bürger kann bei den Klassikern als Klassentheater, der russische Arbeiter (laut Doktor Dimitriev aus Mokau) beim sozialistischen Realismus (immer noch!) ruhig schlafen. Ein kluger Mazedonier forderte allen Ernstes mehr Abonnements zur Lösung der Puiblikumsterise, ein junger Norweger die Theatralisierung des Theaters, was immer das bedeuten mag. Nur Anrland Deloampe von der Universität Louvain (Löwen) weiß die Ergebnisse eines sehr schlüssig verfaßten Questionnaire mit kulturpolitischen Forderungen zu verknüpfen, mit einem Maßnahmenkatalog, unschwer abzuleiten aus den Antworten des sehr breiten Samples der Befragten, der den brechtsehen und luxemburgschen Thesen durchaus nicht widerspricht: heraus aus den

Tempeln (ohne sie niederzubrennen, denn ohne Funktion werden sie von selber abbröckeln!) und hin zu neuen Möglichkeiten einer Zweiwegkombination! Doch da viele Wissenschaftler sprachen und diskutierten, blieb vieles Theorie: so kam Ruggiero Ja-cobbi (Rom) über die Funktionsbestimmung des Theaters als Provokation und Information kaum hinaus; so geriet selbst Roman Szydlowskis (des polnischen Kritikerpräsidenten) Ruf nach dem Theater der sozialen und politischen Problematisierung unkonkret, es sei denn, man wüßte so genau, wo es das Volkstheater gibt, das sich tatsächlich der Lüge des täglichen Lebens entgegenstellte. Der Portugiese Luiz Francisco Re-

belo (nomen est omen?), faschismuserfahren, hatte immerhin die negativen Indikatoren parat, die dieses Theater verhindern: Zensur, bürgerliche Monopolisierung und Konzentration in der Hauptstadt.

Dann aber kam, am letzten Kongreßtag, leider viel zu spät, Armand Gatti zu Wort, der Anarchist unter den Poeten, ein massiger, eruptiver Mann und mitreißender Redner, in Ländern des Ostens wie des Westens (DDR und Italien) mit Arbeitsverbat belegt, Dramatiker, Filmer, Exjour-nalist mit Chinaerfahrung und, vo'r allem, Animator. Er ist durch viele Stücke („V wie Vietnam“, „Die Geburt“, „Die Leiden des Francisco Franco“) auch bei uns bekannt. Mit der „konkreten Abstraktion“, von der Georges Sohlocker sprach, kann er nicht viel anfangen. Er redet von der praktischen Theaterarbeit, vom kollektiven Verfassen von Spielpartituren, das jedem Teilnehmer die Möglichkeit gibt, sich offen und eigenständrig auszudrücken. Er sucht die Armut als Ausdmwksmittel, er spricht von der „scenula vivante“, der lebendigen szenischen Plattform: der Fabrik, der Schule, der Klinik, dem Gefängnis, dem ländlichen Ghetto, wo die Menschen nicht als Menschen leben, sondern als Nummern, wo sie nicht sie selber sein können. Wo einem die Stechuhr die Identität raubt, dort gilt es, das theatralische Abenteuer anzusetzen.

Er weiß Beispiele: seine Filme mit Gastarbeitern bei Peugeot oder das 24stündige Spektakel mit dreitausend Menschen aller Altersstufen, das von den siebeni Leben einer Katze handelt, der, nimmt man ihr auch zwei Leben weg, immer noch fünf verbleiben. Ein poetisches Symbol wohl auch für Gatti selbst, der Immer wieder ein Leben voll Phantasie und Vitalität zuzusetzen hat Das traditionelle Theater ist für ihn ein utopischer Raum, ein Käfig — und etwas beschämt von soviel krea-tivierender Kraft müssen wir Kritiker, Wissenschaftler, Zuschauer erkennen, daß wir in diesem Käfig gefangensetzen. So bekam dieser Kongreß schließlich doch noch Farbe, Gattis Ruf „La parole ä tous!“, Mitsprache für alle, wird spät aber doch auch im Plenum gehört. Eine heilsame Polarisierung trat offen zutage.

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